Kapitalismus ist gut für die Armen – und für die Umwelt

29. Januar 2020 – von Martin Rhonheimer

Der vorliegende Text ist das leicht erweiterte Impulsreferat von Austrian Institute-Präsident Martin Rhonheimer bei einem öffentlichen Streitgespräch mit Prof. Bernhard Emunds, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen. Das unter dem Titel Der Kapitalismus und die Kirche: Kritik oder Zustimmung? angekündigte Streitgespräch fand am 29. Oktober 2019 in der Karl-Rahner-Akademie zu Köln statt.

Martin Rhonheimer

Kapitalismus und Marktwirtschaft haben das wohl größte Problem der Menschheit gelöst: das Problem der Massenarmut. Kapitalismus heißt: produktive Nutzung privaten Reichtums zum Zweck unternehmerischen Gewinnstrebens, freier marktwirtschaftlicher Tausch und Wettbewerb sowie internationaler Handel – auf der Grundlage des staatlichen Schutzes von Eigentumsrechten, für alle geltender rechtlicher Regeln und von Rechtssicherheit. Für die Kirche, die sich immer besonders um das Los der Armen gekümmert hat und sich heute auch um Umwelt, Natur und Klima sorgt, sollte dies eine gute Nachricht sein. Doch Missverständnisse und Abwehrreflexe überwiegen. Kapitalismus und Gewinnstreben wie auch Marktwirtschaft haben in kirchlichen Kreisen keine gute Presse. Vielmehr werden sie für die Probleme und Verwerfungen der Gegenwart verantwortlich gemacht.

Tatsache ist jedoch: Die Verbindung dieser Wirtschaftsform, die gänzlich an den Bedürfnissen und Präferenzen der Konsumenten orientiert ist, mit dem Prozess technologischer Innovation führte seit der Industriellen Revolution zu einem historisch präzedenzlosen Anstieg des Lebensstandards breiter Massen, zunehmender Bildung und stetig wachsenden Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, und dies trotz eines gerade dadurch verursachten enormen Bevölkerungswachstums, das in früheren Jahrhunderten stets zu massenhafter Verarmung geführt hatte.

Erzeugung von Massenwohlstand – aber mit negativen Begleiterscheinungen

Dieser Prozess der kapitalistischen Schaffung von Massenwohlstand hat jedoch kurzfristig immer auch Verlierer hervorgebracht. Noch heute führt er mit seiner beschleunigten, zuweilen disruptiven Innovationsdynamik bei bestimmten Gruppen zumindest kurzfristig zu Verunsicherungen, sozialer Entwurzelung, psychologischen Problemen wie etwa dem Gefühl, zurückgelassen oder benachteiligt worden zu sein, wie auch zu Identitätsverlusten. Viele der negativen Begleiterscheinungen des Kapitalismus waren jedoch – und sind auch heute – nachweislich Folge einer schädlichen Politik, von oft gut – sozial – gemeinten staatlichen Interventionen.

So ist beispielsweise die Verarmung des sog. „Rostgürtels“ in den USA weitgehend auf die aus sozialen Gründen veranstaltete staatliche Protektion von Arbeitsplätzen und den Einfluss mächtiger Gewerkschaften zurückzuführen, was im Verlauf der Jahrzehnte zu einer Verminderung der Wettbewerbsfähigkeit dieser Industrien und zur massiven Abwanderung von Arbeitsplätzen nicht etwa nur nach China, sondern auch in andere Staaten der USA geführt hat (vgl. dazu die Analyse The Decline of the U.S. Rust Belt von Simeon Alder, David Lagakos und Lee Ohanian aus dem Jahre 2013). Solche Politiken spielen indirekt populistischen Politikern in die Hände.

Nicht die Sozialpolitik, sondern der Kapitalismus hat den heutigen Wohlstand geschaffen

Wichtig ist: Was den heutigen Massenwohlstand ermöglicht hat – ein historisch beispielloses Phänomen – waren gerade nicht Sozialpolitik bzw. Sozialgesetzgebung, organisierter gewerkschaftlicher Druck oder korrigierende Interventionen in die kapitalistische Wirtschaft, sondern die kapitalistische Marktwirtschaft selbst, und zwar aufgrund ihres enormen Innovationspotentials und der dadurch ständig ansteigenden Produktivität der menschlichen Arbeit.

Steigender Wohlstand und Lebensqualität sind immer Folge des Anstiegs der Arbeitsproduktivität. Erst die Erhöhung der Produktivität ermöglichte höhere Sozialstandards, bessere Arbeitsbedingungen, die Überwindung der Kinderarbeit, ein höheres Bildungsniveau und die Entstehung von Humankapital. Dieser Prozess der zunehmenden Überwindung von Armut und des beständig ansteigenden Lebensstandards breiter Massen vollzieht sich wie gesagt auf globaler Ebene – allerdings nur dort, wo sich Marktwirtschaft und kapitalistisches Unternehmertum ausbreiten können.

Vom industriellen Raubbau an der Natur zum ökologischen Bewusstsein

Die erste Phase von Industrialisierung und Kapitalismus zeichnete sich durch einen enormen Ressourcenverbrauch und oftmaligen Raubbau an der Natur aus, der schon bald den Anschein erweckte, dieser Prozess könne nicht nachhaltig sein. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer wieder Unheils- und Untergangsszenarien vorgebracht, die sich aber im Nachhinein als falsch erwiesen haben: Die Kombination von technologischer Innovationskraft, marktwirtschaftlichem Wettbewerb und unternehmerischem Gewinnstreben (mit dem Zwang zur stetigen Minimierung der Kosten) haben dazu geführt, dass diese Szenarien nie eintraten. Die stets steigende Bevölkerung konnte dank innovativen Technologien, einem stets größeren Output bei geringerem und für die Umwelt weniger schädlichem Ressourcenverbrauch – geringere Anbaufläche in der Landwirtschaft, Öl und Elektrizität statt Kohle für die rasant ansteigende Mobilität – zunehmend besser versorgt werden. Auch sämtliche neueren Unheilszenarien, wie sie seit den späten 1960er und in den 1970er Jahren auch von seriösen Wissenschaftlern verbreitet wurden, haben sich als unzutreffend erwiesen.

Grund dafür, dass sich die Dinge anders entwickelten, war die stets unterschätzte innovative Dynamik der kapitalistischen Marktwirtschaft, ein zunehmendes ökologisches Bewusstsein und in der Folge gesetzgeberische Eingriffe, die sich die Logik der kapitalistischen Marktwirtschaft zu Nutze machten: Infolge der seit 1970 aus den USA kommenden ökologischen Bewegung begann man nämlich durch kluge Gesetzgebung mithilfe des Preismechanismus marktwirtschaftliche Anreize zu nutzen, um negative Externalitäten zu internalisieren. Man versah Verschmutzung der Umwelt mit einem Preis.

Das führte zu einer enormen Abnahme der Luftverschmutzung und anderer ökologischer Folgeschäden des Wachstums, wie es nur in freien, marktwirtschaftlichen Gesellschaften möglich ist, weil hier der Produktionsprozess durch Wettbewerb und stetigen Zwang zur Kostenverminderung geprägt ist, also zum jeweils profitabelsten Einsatz der Ressourcen. Alle Formen des Sozialismus, also staatlich gelenkter Wirtschaft, haben sich hingegen als ökologische Desaster erwiesen und Zerstörungen von gigantischem Ausmaß hinterlassen, und zwar ohne der Bevölkerung auch nur einen annähernd vergleichbaren Wohlstand zu verschaffen, ja oft sogar indem sie, wie etwa in Venezuela, existierenden Wohlstand zerstörten.

Kapitalistisches Gewinnstreben im Verbund mit Digitalisierung als Lösung: Zunehmende Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch

Technologische Innovationen haben zudem in Kombination mit kapitalistischem Gewinnstreben und marktwirtschaftlichem Wettbewerb im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem neuen und überraschenden Phänomen geführt, das in der öffentlichen Diskussion noch kaum beachtet wird: zur Entkoppelung von Wachstum und Ressourcenverbrauch („Dematerialization“, Entmaterialisierung). In verschiedensten industriellen Bereichen gelingt heute den entwickelten Ländern, allen voran den USA, ein immer größerer produktiver Output mit zunehmend weniger Ressourcen. Das hat viel mit Technologie, insbesondere der Digitalisierung der Wirtschaft und unseres ganzen Lebens zu tun.

Wie der bekannte MIT-Professor Andrew McAfee in seinem im Oktober 2019 erschienenen Buch „More from Less“ zeigt, folgt auch dieser Prozess der Logik der kapitalistischen Gewinnmaximierung. Damit er in Gang kommt, brauchen wir nicht die Politik, auch wenn eine kluge, richtige Anreize setzende Gesetzgebung hilfreich sein kann und manchmal nötig ist. Vor allem aber wird es der Verbund von technologischer Innovation, kapitalistischem Gewinnstreben und marktwirtschaftlich-unternehmerischem Wettbewerb sein, der auch das Problem der menschengemachten Klimaerwärmung lösen wird.

Für die schonende Nutzung von natürlichen Ressourcen sind zudem Eigentumsrechte und deren Sicherung entscheidend und wo dies nicht möglich ist, die dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende gesetzliche Förderung kollektiver Selbstverwaltungsstrukturen wie sie Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom analysiert hat. Der zunehmende ideologisch motivierte antikapitalistische Öko-Aktivismus und eine dadurch beeinflusste Politik führen hingegen in die falsche Richtung, ja lenken genau von dem ab, was für das Klima und die Umwelt am besten wäre und auch helfen könnte, uns gegen die unvermeidlichen Folgen der Klimaerwärmung zu schützen.

Wann ist Ungleichheit ungerecht?

Andere heutige Vorwürfe gegen den Kapitalismus richten sich auf die durch ihn verursachte – angeblich ungerechte und schädliche – soziale Ungleichheit. Ungleichheit ist ein komplexes Phänomen. Zum einen ist Ungleichheit – als Folge der Kapitalakkumulation – ein sich sozial positiv auswirkendes Phänomen; denn die Akkumulation großer produktiver Geld- und Sachvermögen – Kapital – ist die Voraussetzung für technologische und unternehmerische Innovation, für Massenproduktion und Massenwohlstand. Zum andern aber kann Ungleichheit auch Folge von Ungerechtigkeiten sein, vor allem von Rechtsungleichheit (Diskriminierungen aus rassischen, religiösen und anderen Gründen).

Die entscheidende Gleichheit ist deshalb die Gleichheit bzw. Gleichbehandlung vor dem Gesetz, nicht die soziale bzw. materielle Gleichheit oder die Gleichheit der Chancen, die es im vollen und eigentlichen Sinne in einer freien und menschlichen Gesellschaft nicht geben kann und nie geben wird. Jedenfalls sollte man, wie der führende Ungleichheitsforscher Milan Brankovic betont, gerade aus sozialen Gründen nicht auf Vermögens-, sondern auf Einkommensungleichheiten schauen.

Der entscheidende Punkt ist aber nicht die soziale Ungleichheit als solche, sondern die Frage, ob die Früchte des Wachstums, und zwar generationenübergreifend, allen zugutekommen, oder einige ungerechterweise zurückbleiben, also in Armut und Benachteiligung gefangen bleiben. Dieses Gefühl haben heute viele Menschen. Populisten sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite leben davon, bieten aber irreführende Analysen und Antworten und gefährden damit durch vergiftende Polarisierung die Funktionsfähigkeit unserer Demokratien.

Der real existierende Kapitalismus in Schieflage – warum?

Dennoch befindet sich der Kapitalismus heute auf der Anklagebank. Wenn ich sage zu Unrecht, dann verteidige ich den „real existierenden Kapitalismus“ keineswegs bedingungslos. Denn Politik und Gesetzgebung haben Kapitalismus und Marktwirtschaft schon immer in seiner Effektivität behindert und ihre Ergebnisse in einer Weise verzerrt, die seiner inneren Logik klar widerspricht und auch mit gutem Grund als ungerecht kritisiert wird.

Folgende Faktoren führen meiner Ansicht nach heute zu einer Schieflage des Kapitalismus sowie zu einer wachsenden, zu Recht als ungerecht und unfair erlebten sozialen Ungleichheit:

  • Spätestens seit der Abkoppelung des Dollars vom Gold im Jahre 1971 betreiben alle Zentralbanken eine mehr oder weniger inflationäre Geldpolitik. Dieser Missbrauch des staatlichen Geldmonopols hat zu einer enormen Ausweitung der Finanzwirtschaft, deren teilweisen Abkoppelung von der Realwirtschaft und schädlichen Blasenbildungen geführt, die zusammen mit anderen politischen Interventionen die letzte Finanzkrise ausgelöst haben.
  • Die aktuelle Geldpolitik, die dazu dient, die Folgen dieser Krise in den Griff zu bekommen wie auch das kranke Eurosystem zu retten – der Euro war von Anfang an ein aus ökonomischer Sicht verfehltes Projekt und wurde nur aus politischen Gründen durchgezogen –, ermöglicht den Politikern, weiter ihre Versprechungen zu machen, Banken zu retten, die schon längst von der Bildfläche hätten verschwinden müssen, und durch Problemverschleierung Staaten über Wasser zu halten, die ohne die niedrigen Zinsen bereits ihren Bankrott hätten erklären müssen. Zudem wird der marktwirtschaftliche Allokationsmechanismus des Zinses außer Kraft gesetzt, was zu enormen Verzerrungen und Fehlinvestitionen führt mit negativen Folgen für Wachstum und Wohlstand.
  • Eine Folge der Politik des billigen Geldes ist insbesondere die „Zombifizierung“ der Wirtschaft, weil durch die niedrigen Refinanzierungskosten europaweit hunderttausende von unproduktiven Betrieben künstlich am Leben erhalten werden bzw. für sie kein Zwang besteht, innovativer und damit produktiver zu werden. Das führt zu einer massiven Fehlallokation von Ressourcen im zweistelligen Bereich des BIP, zur Stagnation der Produktivität und damit auch der Reallöhne der Durchschnittsverdiener (bei gleichzeitigen hohen Einkommenszuwächsen in der Finanz- und der hochproduktiven IT-Branche). Junge Menschen müssen heute zu wesentlich ungünstigeren Konditionen in den Arbeitsmarkt einsteigen als die Generation ihrer Eltern.
  • Ebenso werden Zombie-Banken, die von billigen Krediten an Zombie-Unternehmen leben, über Wasser gehalten. Dringend nötige Strukturreformen vor allem in südlichen Ländern werden so infolge mangelnden Drucks auf die lange Bank geschoben.
  • Die tiefen Zinsen haben eine Inflation der Vermögenspreise (Aktien, Immobilien) verursacht. Das führt dazu, dass jene, die in Vermögenswerte investieren können, nämlich die bereits Vermögenden, immer reicher werden und die Ungleichheit wächst. Aber auch andere Anleger, die Pensionskassen und Versicherungen, die auf Rendite angewiesen sind, treiben die Vermögenspreise in die Höhe. Die Sparer werden durch die finanzielle Repression um ihr Erspartes gebracht, können kein Vermögen bilden, ja verlieren auf die Dauer.
  • Die Staaten sind überschuldet und können nur dank niedriger Zinsen überleben und sich vor einem Bankrott schützen. Dennoch werden ihre Anleihen im Bankenwesen als Sicherheiten akzeptiert und von den Zentralbanken in ihren Bilanzen geführt. Diese Überschuldung ist nötig, um die viel zu sehr aufgeblähten Sozialstaaten, insbesondere die Pensionssysteme, zu retten. Diese wiederum werden durch die Niedrigzinspolitik, die Überalterung der Gesellschaft und die steigende Lebenserwartung ohne Hinaufsetzen des Pensionsalters überfordert. Man lebt auf Kosten der kommenden Generationen und verschließt die Augen. Zur Rettung des Systems werden marktwirtschaftliche Mechanismen immer mehr behindert oder gar ausgehebelt.
  • Der Sozialstaat schafft falsche Anreize: Er führt in Kombination mit der Politik des billigen Geldes zu fehlendem Sparwillen, zum Konsumismus und zur Korrosion der persönlichen Verantwortung gegenüber der Zukunft. Das schlechte Gewissen der Eliten gegenüber den kommenden Generationen wird mit dem oft geradezu hysterischen Zuspruch zum Klimaaktivismus kompensiert.
  • „Cronyismus“ („Crony Capitalism“): durch zu viele Gesetze und Überregulierung kommt es zur Kollusion zwischen „Big Government“ und „Big Business“. Mächtigen und finanzstarken Konzernen gelingt es, durch Einflussnahme auf Gesetzgebung und Regulierungsbehörden, Wettbewerbsvorteile zu ergattern, was unfair ist, den Prinzipien einer kapitalistischen Marktwirtschaft widerspricht und letztlich zu Ineffizienz und Wohlstandsverlusten führt. Auch wenn ein gewisses Maß an Regulierung unabdingbar ist: Je mehr reguliert wird, desto mehr wächst der Einfluss mächtiger Lobbyisten auf Kosten der kleinen und mittleren Unternehmen, die durch die hohe Regulierungsdichte starke Wettbewerbsnachteile hinnehmen müssen oder gar erdrückt werden.

Der real existierende Kapitalismus ist also keineswegs ein reiner Kapitalismus, sondern sehr stark mit – oft im Namen der sozialen Gerechtigkeit geforderten – dirigistischen und interventionistischen Elementen durchmischt, die zu unerwünschten und sozial ungerechten Ergebnissen führen. Auch die Marktwirtschaft und ihr Preismechanismus existieren nur sehr begrenzt, mit vielen Verzerrungen und entsprechenden Einbußen an Allokations- und Innovationseffizienz.

Bedauerlich ist, dass die schädlichen und als ungerecht empfundenen Folgen einer der Marktwirtschaft abträglichen, ja dieser widersprechenden Politik in der Regel dem Kapitalismus selbst angelastet werden, populistische Reaktionen auslösen und durch ungesunde Polarisierung die Demokratie gefährden. Politik und Öffentlichkeit reagieren darauf in der Regel mit der Forderung nach noch mehr staatlichem Aktionismus und Interventionismus, d.h. einer ständig zunehmenden Aushebelung der Marktwirtschaft.

Kirchliche Verteufelung des kapitalistischen Gewinnstrebens – der falsche Weg

Für die kirchliche Soziallehre sind die genannten, äußerst bedenklichen Entwicklungen bisher kaum ein Thema. Sie scheint dafür kein Sensorium zu haben. Stattdessen kritisiert sie Kapitalismus und unternehmerisches Gewinnstreben, begegnet Marktwirtschaft und technologischer Innovation mit zunehmendem Misstrauen und sieht im Privateigentum vor allem ein Problem, und nicht die Lösung eines Problems. Damit hat sie sich fast vollständig von einer älteren Tradition christlicher Sozialethik gelöst, die wesentlich differenzierter und ökonomisch aufgeklärter dachte (franziskanische und andere Theologen seit dem 13. Jahrhundert, die Schule von Salamanca 16.-17. Jahrhundert) und gegenüber einer zunehmenden Machtfülle des Staates das Privateigentum als Grundlage der individuellen Freiheit und der Gerechtigkeit kompromisslos verteidigte (so im 19. Jahrhundert der Mainzer Bischof Emmanuel von Ketteler und Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891).

Nach dem definitiven Scheitern der kirchlichen Soziallehre als „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – in der Tradition des „Solidarismus“ von Heinrich Pesch SJ – pochen gegenwärtige offizielle kirchliche Lehräußerungen für die Lösung sozialer und ökologischer Fragen hingegen auf mehr Staat und Politik, verkennen die Wichtigkeit der Sicherung von Eigentumsrechten für den ökonomischen und sozialen Fortschritt und übersehen die Bedeutung marktwirtschaftlicher Instrumente für die Lösung ökologischer Probleme. Oft verfechten sie sogar die Idee, dass Armut nur dadurch überwunden werden kann, dass die Reichen von ihrem Reichtum abgeben. Ökonomie wird als Nullsummenspiel betrachtet, das in der Verteilung gegebener Ressourcen besteht. Und man sieht nicht, dass das Ziel von Unternehmen nicht darin besteht, Arbeitsplätze zu schaffen – obwohl kapitalistisches Unternehmertum natürlich genau das zum Ergebnis hat –, sondern den Konsumenten, und das heißt allen, zu dienen. Übersehen wird auch: Durch seinen Hang zur profitablen Massenproduktion erzeugt der Kapitalismus Massenwohlstand. Dadurch hat er, wie Ludwig von Mises bemerkte, den Luxuskonsum von gestern zum Massenkonsum von heute gemacht.

Noch immer scheinen viele in der Kirche die wohlstandsschaffende und letztlich inklusive – also gerade für die Ärmsten vorteilhafte – Dynamik des Kapitalismus und des für ihn typischen Gewinnstrebens zu verkennen. Wichtig für sie wäre zu verstehen, dass, auch wenn das nicht intendiert ist, gerade das profitorientierte Unternehmertum, gründend auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln, den allergrößten Anteil an der Schaffung des Gemeinwohls hat und dass Kapitalismus und Marktwirtschaft, trotz aller Unvollkommenheiten, von ihrer Struktur her eine soziale Funktion erfüllen und so ganz besonders für die Armen und Zurückgebliebenen von Nutzen sind, weshalb sie auch aus moralischen Gründen in der kirchlichen Soziallehre einen zentralen Platz einnehmen sollten.

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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf der Website des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy, Wien. Vielen Dank für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

Professor Dr. Martin Rhonheimer lehrt seit 1990 Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom und ist Präsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy, Wien. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher in mehreren Sprachen – auf Deutsch erschienen zuletzt 2012 im Herder Verlag „Christentum und säkularer Staat“ und 2016 bei Springer VS „Homo sapiens: die Krone der Schöpfung“; auf Englisch 2013 bei Catholic University of America Press „The Common Good of Constitutional Democracy“. Mehr über ihn findet sich hier.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

 

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