Rothbards Wohlfahrtsökonomik
21. Oktober 2019 – von Ohad Osterreicher
Jedem Studenten der Wirtschaftswissenschaften wird im ersten Semester beigebracht, dass die Wirtschaftswissenschaft eine empirisch-analytische Wissenschaft ist. Einführende Lehrbücher betonen gleich zu Beginn, dass der Wirtschaftswissenschaftler als Wirtschaftswissenschaftler niemals ethische Urteile fällen kann. Als Sozialwissenschaftler, der sich mit wirtschaftlichen Problemen auseinandersetzt, kann er die Welt nur so beschreiben und erklären, wie sie ist, nie so, wie sie sein soll.
Beispielsweise lehrt die Grundlagenökonomik, dass die Festsetzung des Milchpreises unter dem Preis, der sich auf dem freien Markt ergeben hätte, zu einem Milchmangel führt. Ebenso führt die Festlegung der Löhne über dem marktwirtschaftlichen Gleichgewichtspreis zu unfreiwilliger Arbeitslosigkeit. Diese Feststellungen sagen aber nichts über die Erwünschtheit dieser Auswirkungen aus. Sie sind für sich genommen wertfrei.
Aber dann stellt sich eine andere Frage: Kann die Wirtschaftswissenschaft sagen, welche Auswirkungen eine bestimmte Veränderung auf das Sozialwesen haben wird? Kann sie feststellen, wann der „gesamtgesellschaftliche Nutzen“ maximiert ist, und wenn ja, wie lässt sich dieser erreichen? Wenn diese Fragen bejaht werden können, scheint es, dass der Wirtschaftswissenschaftler auf den ersten Blick politisch-ethische Aussagen tätigen kann, ohne dabei den wertfreien Wesenszug seiner Wissenschaft zu verletzen.
Der Zweig der Wirtschaftswissenschaften, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, ist die Wohlfahrtsökonomik. Es ist ein verworrenes Teilgebiet, das im Verlauf der Geschichte raue Zeiten, Höhen und Tiefen, zahlreiche Untergänge und Wiedergeburten erlebt hat. Im Folgenden wird kurz die Entwicklung der Wohlfahrtsökonomik bis zu Rothbards Beitrag umrissen, ihre Auswirkungen erörtert und auf die gegen sie erhobenen Kritikpunkte eingegangen.
Hintergrund
Die klassischen Wirtschaftswissenschaftler wie Smith, Ricardo und Mill hatten eine vereinfachte, vor-subjektive Auffassung von Wohlfahrt. Sie vertraten die Ansicht, dass man jene öffentlichen Maßnahmen ergreifen sollte, die darauf abzielen, die tatsächliche Ertragsmenge zu erhöhen (häufig als Steigerung der Ernteerträge beschrieben). Aufgrund ihrer in sich geschlossenen Untersuchungen war der Weg zur Zielerreichung einfach: Den Umfang der Arbeitsteilung so weit wie möglich zu fördern und so viel Kapital wie möglich einzusetzen.[1]
Während die klassischen Wirtschaftswissenschaftler in ihrer Untersuchung über die Auswirkungen der Arbeitsteilung und der Kapitalbildung weitgehend richtig lagen, irrten sie sich in der Vorstellung, dass für die Rechtfertigung ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen allein die materiellen Erfolge genügen würden. Für den subjektiv denkenden, neoklassischen Wirtschaftswissenschaftler liegt der Fehler in ihrem Denken auf der Hand: Das Wohlergehen ist nicht von der tatsächlichen, sachlichen Menge an Verbrauchsgütern in der Gesellschaft abhängig, sondern hängt vielmehr von den Vorlieben und der Fähigkeit der Menschen ab, diese zu erfüllen.
Es ist durchaus möglich, dass mehr Verbrauchsgüter, wenn alle anderen Dinge gleich bleiben, ein höheres Wohlfahrtsniveau bedeuten können, jedoch ist die Güterproduktion mit Kosten verbunden. Wenn die Kosten für ihre Herstellung, z.B. der Verzicht auf Freizeit, höher sind als der Bedarf, den diese Güter decken, dann führen mehr Güter zu weniger Wohlstand.
Man könnte nach den Darlegungen der klassischen Wirtschaftswissenschaftlern gar vermuten, dass es möglich ist, die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt zu erhöhen, indem man die Menschen zwingt, mehr zu arbeiten als sie wollen oder indem man Vermögen von armen Menschen mit hoher Zeitpräferenz auf wohlhabende Menschen mit niedrigerer Zeitpräferenz überträgt, wodurch sich die Gesamtkapitalmenge erhöht.
Die Ablehnung der alten Wohlfahrtstheorie
Mit dem Aufkommen der Grenzwertrevolution und ihrer Betonung der subjektiven, individualistischen Auffassung von Wohlfahrt wurde die klassische Wohlfahrtsökonomik abgelehnt. Stattdessen nutzten neoklassische Ökonomen unter der Federführung von Pigou, Edgeworth und Marshall die neue Wertelehre und das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen, um das zu entwickeln, was als alte Wohlfahrtsökonomik bekannt wurde. Das Hauptargument war, dass, da jeder einen abnehmenden Nutzen von Geld hat, der Grenznutzen des Einkommens eines reichen Mannes kleiner ist als der eines armen. Eine Umverteilung von erwirtschaftetem Einkommen von den Reichen zu den Armen erhöht daher den „Gesamtnutzen“ und ist daher wirtschaftlich gerechtfertigt, solange dabei der Herstellungsprozess aufrechterhalten werden kann.
Nicht zufällig ist diese Rechtfertigung auch heute noch vertraut. Politiker und Wirtschaftswissenschaftler greifen diesen Ansatz auch heute immer wieder auf. Vor kurzem nutzte Paul Krugman ihn, um das Anliegen der US-Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez zu unterstützen, einen höheren Spitzensteuersatz einzuführen.
Diese Überlegungen mögen auf den ersten Blick überzeugend erscheinen, so dass es sich lohnt, die damit verbundenen Annahmen genauer zu untersuchen. Erstens gingen die alten Wohlfahrtstheoretiker davon aus, dass alle Menschen die gleiche Befriedigungsfähigkeit haben. Sie gaben zu, dass es sich hierbei um nicht mehr als um eine metaphysische Voraussetzung handelte, aber es war ein vernünftiger Ausgangspunkt und meist ungefährlich. Von viel größerer Bedeutung war aber die zweite Annahme des kardinalen Nutzens. Nach den Wegbereitern der Grenzwertrevolution, Jevons und Walras, verstanden die alten Wohlfahrtstheoretiker den Nutzen als eine bezifferbare physiologische Größe, die außerhalb der Wahl des Individuums existiert.[2] Sie dachten, dass sich diese Größe für mathematische Berechnungen und Aggregation eignet. Unter dieser Annahme sind interpersonelle Nutzungsvergleiche zulässig, und deshalb ist es sinnvoll, zu dem Schluss zu kommen, dass der „Gesamtnutzen“ gestiegen ist, auch wenn es einigen Menschen schlechter geht.
Die Bemühungen der alten Wohlfahrtstheoretiker endeten abrupt mit Lionel Robbins Nachweis der Unanwendbarkeit von interpersonellen Nutzungsvergleichen. Robbins zeigte, dass diese Wirtschaftswissenschaftler sich geirrt haben, als sie das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen über ihr eigentliches Anwendungsgebiet hinaus ausdehnten, denn das Gesetz gilt nur für den wirtschaftlich handelnden Einzelnen, der Mittel einsetzt, um seine Ziele zu erreichen. Es ist möglich, von einer individuellen Güterrangfolge auf einer Werteskala und dem abnehmenden Nutzen zusätzlicher Einheiten zu sprechen. Ein Tausch kann erklärt werden, indem man sich auf die gegensätzliche Rangfolge der Waren auf den Werteskalen der Individuen bezieht. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, diese Wertigkeit zwischen den Individuen zu vergleichen. Da es keine objektive Maßeinheit für den Nutzen gibt, ist es zudem unzulässig, von mengenmäßigen Unterschieden in der Zufriedenheit zu sprechen. So schloss Robbins, die Erklärung der alten Wohlfahrtstheoretiker sei nichts anderes als ein ethisches Urteil und müsse als solches von der Wirtschaftswissenschaft ausgeklammert werden.
Von da an blieb den Wirtschaftswissenschaftlern nichts anderes übrig, als die sogenannte Einstimmigkeits- oder Pareto-Regel zu übernehmen, da interpersonelle Nutzungsvergleiche wegfielen. Die Pareto-Regel, die 1906 vom italienischen Wirtschaftswissenschaftler Vilfredo Pareto entwickelt wurde, besagt, dass wir nur dann von einer Erhöhung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens sprechen können, wenn es einem Menschen besser geht, ohne dass es einem anderen schlechter geht. Wenn eine Veränderung dies ermöglicht, wird sie als Pareto-Verbesserung bezeichnet. Wenn keine Pareto-Verbesserungen mehr möglich sind, wird die Situation als Pareto-Optimum bezeichnet; andernfalls ist die Situation nicht Pareto-effizient.[3]
Die Pareto-Regel stellte die Bewährungsprobe dar, die alle Aussagen zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt bestehen müssen, wenn sie wertfrei bleiben sollen. Wenn zwei Personen an einem Tausch oder einer individuellen Handlung teilnehmen, ohne jemand anderem zu schaden, dann darf der Wirtschaftswissenschaftler daraus schließen, dass die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt tatsächlich zugenommen hat. Wenn jedoch eine Gruppe von Individuen auf Kosten einer anderen Gruppe profitiert, wie es bei allen staatlichen Eingriffen der Fall ist, dann kann der Wirtschaftswissenschaftler keine gehaltvolle Aussage über die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt machen.
Es ist diese Einschränkung, der sich die neue Wohlfahrtsökonomik Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entziehen wollte und stattdessen eine wirtschaftliche Begründung für staatliche Eingriffe liefern wollte. Dazu wurden zwei verschiedene Wege beschritten: Der erste Ansatz, der von der Harvard University ausging, vereinfachte die Pareto-Regel, indem er sie in einen allgemeinen Gleichgewichtsrahmen einband. Die zweite, die von der London School of Economics ausging, umging die Regel mit Hilfe des Entschädigungsprinzips. Der erste Ansatz führte zur Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion und des Konzepts des Marktversagens, der zweite zum Kaldor-Hicks Kompensationskriterium.[4]
Die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgleichung wurde zunächst vom amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Abram Bergson[5] entwickelt und später von Paul Samuelson weiterentwickelt.[6] Dieser Ansatz verkürzte die Pareto-Regel, indem er die Aspekte des Pareto-Optimums übernahm und sich auf den statischen Endzustand des Marktergebnisses beschränkte. Durch die Schaffung mehrerer Effizienzbedingungen lässt sich für die soziale Wohlfahrtsgleichung ein optimales Pareto-Gleichgewicht ableiten, das gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt maximiert. Die Nichterreichung dieses Maximums lässt sich dann zur Rechtfertigung staatlicher Eingriffe nutzen.[7]
Diese Herangehensweise ist vergleichbar mit der Ermittlung des optimalen Konsumgüterpakets für die individuelle Nutzenfunktion unter einer gegebenen Budgetbeschränkung. Anstelle der individuellen Indifferenzkurve und einer Budgetbeschränkung wird eine gesamtgesellschaftliche Indifferenzkurve am Schnittpunkt mit einer sogenannten Nutzenmöglichkeitskurve maximiert – ähnlich einer Produktionsmöglichkeitenkurve.
Von Anfang an wurde die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgleichung von anderen neoklassischen Wirtschaftswissenschaftlern heftig kritisiert, vor allem, weil weiterhin ein kardinales Nutzenverständnis und der interpersonelle Nutzenvergleich beibehalten wurden. Der Todesstoß kam jedoch mit Kenneth Arrows berühmtem „Allgemeinen Unmöglichkeitstheorem“.[8] Arrow zeigte, dass es unmöglich ist, eine gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgleichung zu konstruieren, die gleichzeitig mehrere grundlegende Bedingungen erfüllt. Daher gibt es keine Methode zur Bündelung individueller Präferenzen, die zu einer einheitlichen Skala der gesamtgesellschaftlichen Präferenzen führt. Die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsgleichung musste aufgegeben werden.
Der Ansatz des Marktversagens hatte eine viel tiefgreifendere Wirkung. Dieser Ansatz beruht auf den sogenannten ersten und zweiten grundlegenden Wohlfahrtstheoremen. Das erste Wohlfahrtstheorem besagt, dass unter der Annahme eines perfekten Wettbewerbs[9] der Markt unweigerlich zu einem Gleichgewicht im Pareto-Optimum tendiert. Das zweite Theorem besagt, dass der Markt, bei einer gegebenen Einkommensanfangsausstattung zwischen Individuen unter den Bedingungen des freien Markts durch die Marktkräfte ein Pareto-optimaler Zustand erreicht wird.[10]
Der Reiz dieses Ansatzes liegt darin, dass Wirtschaftswissenschaftler dann auf Fälle in der echten Welt verweisen können, in denen der Markt dieses Ergebnis nicht erzielt. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden hunderte von Artikeln zu diesem Thema veröffentlicht, die alle versuchten, neue Formen von Marktversagen zu finden und staatliche Eingriffe zu deren Behebung zu fordern. Zu den Fällen von Marktversagen, die in der Literatur bis heute überlebt haben, gehören öffentliche Güter, asymmetrische Informationen, natürliche Monopole und Externalitäten.
Neben dem Harvard-Ansatz entwickelten die Wirtschaftswissenschaftler von der London School of Economics, John Hicks und Nicholas Kaldor, das „Entschädigungskriterium“. Dieses Kriterium besagt, das sich die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt steigern lässt, wenn die Gewinner die Verlierer hypothetisch entschädigen können und immer noch wohlhabender bleiben als vor der Veränderung. Dass diese Entschädigung nicht tatsächlich stattfinden muss, ist unerheblich. Wirtschaftswissenschaftler können dieses Kriterium nutzen, um bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen zu empfehlen, ohne auf Werturteile zurückzugreifen, aber dennoch im Einklang mit der Pareto-Regel zu verbleiben.[11]
Ein klassisches Beispiel, das häufig verwendet wird, um die Überlegenheit des Entschädigungskriteriums gegenüber der Pareto-Regel zu veranschaulichen, war die Aufhebung des Maisgesetzes im neunzehnten Jahrhundert. Wirtschaftswissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass es für einen Wirtschaftswissenschaftler quasi unmöglich ist, solche Maßnahmen zu unterstützen. Obwohl es offensichtlich allen auf lange Sicht besser geht, hätte die Abschaffung des Zolls den kurzfristigen Interessen der Grundbesitzer geschadet. Daher argumentierten Kaldor und Hicks, das Entschädigungsprinzip vermeidet diese Falle, indem es nur darauf verweist, dass die Gewinne hypothetisch unter den Verlierern verteilt werden können.
Rothbard tritt auf den Plan
Dies war der Forschungsstand in der Wohlfahrtsökonomik, als Murray N. Rothbard mit seinem wegweisenden Artikel „Toward a Reconstruction of Utility and Welfare Economics“ [Auf dem Weg zu einer Neuordnung der Nutzen- und Wohlfahrtsökonomie] auf den Plan trat. Es gab zu dieser Zeit kaum vielversprechende Theorieansätze für die zukünftige Weiterentwicklung. Rothbards Lösung für die Wiederbelebung des Feldes war einfach und doch weitsichtig. Sie bestand darin, die Pareto-Regel in das Rahmenwerk der demonstrierten Präferenzen einzuführen. Der Begriff der demonstrierten Präferenzen ist einfach: Der Wirtschaftswissenschaftler kann die Präferenzen des Einzelnen nur durch seine Handlungen erkennen. Jeder Handlung wohnt eine Wahl inne. Wenn ein Individuum A gegenüber B wählt, zeigt er, dass er A bevorzugt. Der Wirtschaftswissenschaftler kann daraus nicht ableiten, wie sehr der Einzelne A bevorzugt, denn dies ist eine rein subjektive und ordinale Frage und wird nicht durch Handlung beantwortet. Darüber hinaus ist es bei demonstrierten Präferenzen unzulässig, hypothetische Werteskalen zu entwerfen, die den Präferenzen widersprechen, die Einzelpersonen selbst in ihren Handlungen zum Ausdruck gebracht haben.
Wie Rothbard weiter darlegte, waren die Auswirkungen der Beschränkung der Wohlfahrtsökonomik auf demonstrierte Präferenzen weitreichend. Erstens war die ganze Ausrichtung auf die Bedingungen des Pareto-Optimums irreführend. Da sich das nie dagewesene Traumland des perfekten Wettbewerbs in der Wirklichkeit nicht verwirklichen ließ, ist es daher zwecklos, Veränderungen in der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt unter diesen Idealbedingungen zu untersuchen. Im Gegenteil, Präferenzen können nur auf echten Märkten nachgewiesen werden, auf denen die Marktteilnehmer weder starre Preisnehmer sind, noch über perfekte Informationen verfügen. Entsprechend sind Einwände gegen Hersteller, die Güter über den Grenzkosten verkaufen, asymmetrische Informationen und natürliche Monopole irrelevant.
Stattdessen lehrt uns die Wohlfahrtsökonomik, dass durch die Teilnahme am freien Markt beide Parteien bei jedem Tausch demonstrieren, dass sie erwarten, dass sie selbst von diesem Tausch profitieren. Mit anderen Worten, jeder freiwillige Tausch erhöht den Nutzen von sich heraus. Laut Rothbard maximiert der freie Markt jederzeit die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt, indem er von einem Pareto-Optimum zum nächsten übergeht.
Darüber hinaus veranschaulicht die Beschränkung von Aussagen über die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt auf demonstrierte Präferenzen die Absurdität des Entschädigungskriteriums. Wenn keine tatsächliche Entschädigung von den Gewinnern an die Verlierer erfolgt, dann kann der Wirtschaftswissenschaftler nichts Sinnvolles über die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt sagen. Er kann nicht wissen, ob die Menschen die neue Situation tatsächlich der alten vorziehen. Wenn die Entschädigung jedoch tatsächlich stattgefunden hat und auf freiwilliger Basis erfolgt ist, dann fällt das Entschädigungskriterium lediglich unter die alte und bekannte Pareto-Regel.
In Reaktion auf Rothbards Artikel haben mehrere Wirtschaftswissenschaftler seine These kritisiert. Zunächst wurde angeführt, Rothbards Ansatz löse das Problem mit der Veränderung des Status Quo, wie im Beispiel der Aufhebung des Maisgesetzes, immer noch nicht. Die Grundbesitzer zogen es vor, den Zoll beizubehalten, wie ihre lautstarke Ablehnung der Parlamentsentscheidung zeigte. Es ist jedoch falsch zu behaupten, dass dieser Widerstand zeigt, dass die Wohlfahrt der Grundbesitzer nach der Abschaffung beeinträchtigt wurde. Soweit der Wirtschaftswissenschaftler die Sachlage einschätzen kann, hätte die Ablehnung durch die Grundbesitzer auch eine Ablenkung sein können. Was der Wirtschaftswissenschaftler jedoch beobachten kann, ist, dass die Grundbesitzer nach der Abschaffung der Zollgesetzgebung weiterhin freiwillige Verträge abgeschlossen haben, was zeigt, dass sie vom freien Markt profitierten. Im neuen Zustand gewannen also alle Parteien wechselseitig, im Gegensatz zum alten Zustand, in dem die Wohlfahrt der übrigen Bevölkerung durch den Zoll eingeschränkt war.
In seinem streitlustigen Artikel wandte der Wirtschaftswissenschaftler Bryan Caplan ein, dass Rothbards Argumentation auch gegen seine eigene These vorgebracht werden kann. In Bezug auf die Behauptung, dass die Gefühle eines Dritten nicht die Schlussfolgerung entkräften können, dass jeder freiwillige Tausch die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt erhöht, da (wie Caplan Rothbard direkt zitiert) „selbst wenn er eine Kampfschrift veröffentlicht, die diesen Tausch anprangert, haben wir keinen eindeutigen Beweis dafür, dass dies kein Witz oder eine absichtliche Lüge ist“. Caplan schreibt weiter:
Rothbard hätte dieses Prinzip weiterführen können. Wenn zwei Personen einen Vertrag unterzeichnen, zeigen sie dann tatsächlich ihre Präferenz für die vertraglichen Bestimmungen? Vielleicht zeigen sie nur ihre Präferenz, ihren Namen auf das vor ihnen liegenden Blatt zu schreiben. Es gibt keinen ‚hieb- und stichfesten Beweis‘ dafür, dass die Unterzeichnung mit dem eigenen Namen auf einem Blatt Papier kein Witz ist und auch kein Versuch, die eigene Schreibkunst zu verbessern.
Der Vertragsabschluss ist jedoch nicht nur eine reine Form der Schriftkunst oder ein Spiel, sondern, wie Walter Block betont, eine verbindliche Handlung, die das Eigentum an Gütern von einer Person auf eine andere überträgt. Sie verpflichtet die Person daher, gemäß den Vertragsbedingungen zu handeln. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Person, die einen rechtsgültigen Vertrag abschließt, ein Spiel spielt.
Darüber hinaus hat der Wirtschaftswissenschaftler Roy Cardato geltend gemacht, Rothbard konzentriere sich irrtümlicherweise allein auf den angenommenen Nutzen. In Wirklichkeit können Menschen falsche Erwartungen an die Zukunft haben und so im Nachhinein keinen Zugewinn an Nutzen haben. „Rothbards Wohlfahrtsökonomik … ignoriert die Tatsache, dass Präferenzen im Laufe der Zeit als Teil eines allgemeinen Bündels zielorientierter Handlungen nacheinander ausgedrückt werden.“
Obwohl Cardato mit seiner Beobachtung Recht hat, irrt er sich, wenn er annimmt, dass dies ein Problem für die Überlegungen Rothbards darstellt. Erstens können Wirtschaftswissenschaftler aus den demonstrierten Präferenzen nicht den tatsächlichen, nachträglichen Nutzen ableiten. Dieses Wissen ist ihnen verwehrt. Es ist daher für alle Vorstellungen über die Wohlfahrtsökonomik bedeutungslos, nicht nur für Rothbards. Zweitens lehrt die österreichische Wirtschaftslehre, dass der ungehinderte Markt die beste Institution ist, um Fehler abzumildern und so den tatsächlichen Nutzen zu maximieren. Der Markt verfügt über einen eingebauten Hebel zur Beseitigung erfolgloser Unternehmer und unerwünschter Waren. Es ist sicherlich möglich, dass ein Verbraucher mit einem bestimmten Kauf unzufrieden ist, aber es ist schwer vorstellbar, dass der Verkäufer des Erzeugnisses lange am Markt bestehen kann.
Schließlich missverstand Cardato Rothbards Zielsetzung. Rothbard versuchte nicht, mit seiner Wohlfahrtsökonomik eine vollständige ethische oder weltanschauliche Grundlage für den freien Markt zu entwickeln. Diese ist in seiner naturrechtlich geprägten Theorie der Eigentumsrechte zu finden. Stattdessen wollte er nur zeigen, wie die Theorie der demonstrierten Präferenzen genutzt werden kann, um dieses Feld vor dem intellektuellen Untergang zu retten. Dabei schuf er einen Rahmen, auf dem ethische Grundsätze aufgebaut werden können.[12]
Nun blieb Rothbard nur noch eine letzte Hürde. Ließe sich das erste Wohlfahrtstheorem auf Rothbards Darlegungen anwenden, würde es nicht auf den unerreichbaren Zustand des perfekten Wettbewerbs zutreffen. Stattdessen würde es für echte Märkte gelten und besagen, dass der freie Markt im Vergleich zu anderen tatsächlichen institutionellen Systemen das höchstmögliche Wohlstandsniveau gewährleistet. Das zweite Wohlfahrtstheorem behandelte Rothbard jedoch nicht. Wirtschaftswissenschaftler können sich immer noch für eine einmalige pauschale Einkommensübertragung einsetzen, um ihren bevorzugten Gleichheitszustand zu erreichen, und dann dem Markt seinen Lauf lassen. [13]
Es blieb Rothbards Schüler, Hans-Hermann Hoppe, überlassen, die Lösung zu finden. Hoppe wies darauf hin, dass die Wirtschaftswissenschaftler der neuen Wohlfahrtslehre in einen logischen Widerspruch verwickelt sind. Einerseits erkennen sie die positiven Folgen eines freiwilligen Tausches für die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt aus der Sicht des Einzelnen an. Damit wird stillschweigend das Recht auf Selbsteigentum angenommen. Aber auf der anderen Seite weigerten sie sich, die daraus resultierende logische Konsequenz zu akzeptieren – das Prinzip von John Lock zur Aneignung und Erstinbesitznahme.
Wenn die Wohlfahrtsökonomik von der unbestreitbaren Tatsache des Selbsteigentums ausgehen muss, dann muss sie die Pareto-Regel sowohl auf die Nutzung von Eigentum als auch auf deren Aneignung anwenden. Wie Hoppe schrieb:
Eine Person zeigt gerade durch den Akt der ursprünglichen Aneignung von bisher herrenlosen Ressourcen, dass diese Handlung ihren Nutzen erhöht (zumindest geht sie davon im Vorgang der Handlung aus). Gleichzeitig stellt es niemanden schlechter, denn durch die Aneignung nimmt er anderen nichts weg. Denn offensichtlich hätten auch andere diese Ressourcen sich aneignen können, wenn sie sie nur als knapp wahrgenommen hätten. Aber das haben sie eben nicht getan, was zeigt, dass sie ihnen überhaupt keinen Wert beimessen, und deshalb kann man nicht sagen, dass sie durch diesen Vorgang irgendeinen Nutzen verloren haben. Ausgehend von diesem Pareto-Optimum ist dann jeder weitere Produktionseinsatz unter Nutzung der angeeigneten Ressourcen durch demonstrierte Präferenzen auch Pareto-optimal…. Und schließlich muss jeder freiwillige Tausch, der von dieser Grundlage ausgeht, auch als Pareto-optimale Veränderung angesehen werden, denn er kann nur stattfinden, wenn beide Parteien davon ausgehen, dass sie durch den Tausch einen zusätzlichen Nutzen ziehen.
Fazit
Wahrscheinlich gegen den Wunsch seiner Zunft gelang es Rothbard, die Wohlfahrtsökonomik wiederherzustellen, indem er sie auf die Pareto-Regel und demonstrierte Präferenzen beschränkte. Er zeigte, dass der freie Markt, d.h. das Netzwerk der freiwilligen Tauschhandlungen zwischen Individuen, immer ein Höchstmaß an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt hervorbringt. Staatliche Eingriffe hingegen können im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt nie gerechtfertigt werden. Und obwohl dieser Beitrag Rothbards wahrscheinlich zu seinen weniger bekannten Errungenschaften zählt, ist er wirklich eine Meisterleistung und eine weitere Würdigung seiner großen Originalität und seines Talents als Wirtschaftswissenschaftler.
[1] Hla Myint, Theories of Welfare Economics (London, U.K.: Longmans, Green and Co. 1948): 12.
[2] „Aber für die vorhergehende Generation von Wirtschaftswissenschaftlern waren interindividuelle Vergleiche des Nutzens fast unumstritten; für einen Mann wie Edgeworth, der in der utilitaristischen Tradition verwurzelt war, war der individuelle Nutzen – nein, der soziale Nutzen – so real wie seine Morgenmarmelade. Und Marshall kannte beim Konsumentenüberschuss nur die Pluralform.” Paul Samuelson, Foundations of Economic Analysis (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1947): 225.
[3] Vilfredo Pareto, Manual of Political Economy (New York: Augustus M. Kelley, [1906] 1971).
[4] Jeffrey Herbener, „The Pareto Rule and Welfare Economics” Review of Austrian Economics 10 (1997): 86.
[5] Abram Bergson, „A Reformulation of Certain Aspects of Welfare Economics”, Quarterly Journal of Economics 70, no. 2 (February 1938): 310-34.
[6] Paul Samuelson, Foundations of Economic Analysis (Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1947): 219-229.
[7] Die Vorgehensweise ist analog zur Ermittlung des optimalen Konsumgüterpakets für die Nutzenfunktion einer Person unter Budgetbeschränkung. Nur, dass anstelle der Indifferenzkurve eines Individuums und einer Budgetbeschränkung eine soziale Indifferenzkurve am Schnittpunkt mit einer sogenannten Nutzenmöglichkeitskurve maximiert wird ähnlich einer Produktionsmöglichkeitskurve.
[8] Kenneth Arrow, Social Choice and Individual Values, 2nd ed. (New York: John Wiley and Sons. [I951] 1963).
[9] Dem Modell des perfekten Wettbewerbs liegen drei Annahmen zu Grunde: Alle Akteure sind Preisnehmer, d.h. sie können den Marktpreis nicht beeinflussen, Transaktionskosten gibt es nicht und ein Produkt ist bei allen Herstellern gleich.
[10] Mark Blaug, „The Fundamental Theorems of Welfare Economics, Historically Considered”, History of Political Economy 39, no. 2 (2007): 185-207.
[11] John Hicks, „The Foundations of Welfare Economics”, Economic Journal 49, no. 196 (December 1939): 696–712.
[12] David Gordon, „Toward a Deconstruction of Utility and Welfare Economics”, Review of Austrian Economics 6, no. 2 (1993): 103–4.
[13] Jeffrey Herbener, „Hoppe in One Lesson, Illustrated in Welfare Economics”, Property, Freedom, Society (Auburn, Ala.: Mises Institute, 2016): 301-08.
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Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker. Der Originalbeitrag mit dem Titel Rothbardian Welfare Economics ist am 24.9.2019 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.
Ohad Osterreicher studiert Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bayreuth. Als begeisterter Fan der Österreichischen Schule betreibt er eine große österreichisch-liberale Online-Community.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.
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