Wie der Staat um seine Wahrheit fürchtet

5. Dezember 2018 – von Karl-Friedrich Israel

Karl-Friedrich Israel

Im vergangenen September wurde ein äußerst aufschlussreiches Papier durch den neokonservativen Atlantic Council publiziert. In Verbindung mit dieser Institution stehen so bedeutende Persönlichkeiten wie Collin Powell, Condoleezza Rice und Henry Kissinger. Das Papier aus der Feder von John T. Watts fasst die wesentlichen Schlussfolgerungen, die auf der diesjährigen Sovereign Challenges Conference in Washington, DC, gezogen wurden, sehr eindrücklich zusammen. Der Text lässt tief in einige Köpfe der amerikanischen Elite und ihrer Verbündeten blicken. Seine Lektüre ist deshalb sehr zu empfehlen. Der geneigte Leser sollte jedoch zuweilen über leere Worthülsen und ablenkende Rhetorik hinwegblicken, um zum Kern der Sache zu gelangen.

Im Kern geht es um Machterhalt. Watts zufolge ist das große Problem die „Desinformation“, die über neue und alternative Medien Verbreitung findet, öffentliche Institutionen destabilisiert, und im schlimmsten Falle die Souveränität des Staates unterminiert. Dies gilt es zu verhindern.

Den Neokonservativen ist völlig klar, dass jedes staatliche System letztendlich auf das Vertrauen der Bürger angewiesen ist. Vertrauen ist die Basis für das Funktionieren staatlicher Institutionen. Durch neue Kommunikationstechnologien sei es allerdings „extremistischen ideologischen Strömungen“ zunehmend gelungen, ihre „toxischen Botschaften“ zu verbreiten und den Menschen das Vertrauen in bestehende Institutionen zu nehmen. Es ist eben dieser Vertrauensverlust der Bürgern, der die Souveränität des Staates gefährdet.[1]

Die Informationsflut im Internetzeitalter spielt dabei eine entscheidende Rolle, weil sie die gezielte „Desinformation“ durch kleine, aber gut organisierte Gruppen erst möglich macht. Sie führt zu Übertreibung, Abschottung und Einseitigkeit innerhalb der eigenen „Echokammer“. Die plötzliche Verfügbarkeit großer Mengen an Informationen könne eine Gesellschaft überfordern. Zuviel unnütze und qualitativ minderwertige Informationen können zu Isolation und Polarisierung führen. Die Menschen wählen gezielt ihre Informationsquellen aus und schränken sich dabei ein. Sie müssen dies sogar angesichts der vielen Alternativen, die für sie bereitstehen. Dabei verlassen sie sich tendenziell auf jene Quellen, die die eigenen Vorurteile bestätigen und verstärken.

Um den potentiellen Ernst der Lage zu unterstreichen, verweist Watts auf das Buch The Signal and the Noise von Nate Silver, indem eine Parallele zwischen der Erfindung des Buchdrucks und dem Aufkommen des Internets gezogen wird. Diese Analogie wurde ebenfalls vom schottischen Historiker Niall Ferguson in seinem kürzlich erschienenen Buch The Square and the Tower aufgegriffen.[2] Beide Autoren erinnern daran, dass die Erfindung des Buchdrucks nicht nur Luthers Reformation der christlichen Kirche möglich machte, sondern auch vielen populistischen und aus heutiger Sicht abschreckenden Strömungen ein mächtiges Kommunikationsmittel an die Hand gab. Hier kann man zum Beispiel auf die Hexenverfolgungen der Frühmoderne hinweisen. Außerdem wurde Europa nach Luthers Reformation in Jahrhunderte anhaltende Religionskriege gestürzt. Droht uns heute im Zeitalter des Internets etwa Ähnliches? Klar ist, dass auch heute bestehende Hierarchien und Machtstrukturen infrage gestellt werden und ins Wanken geraten. Das führt üblicherweise dazu, dass die alte Elite alles in die Waagschale wirft, um ihre privilegierte Position zu behaupten.

Zunächst muss aber geklärt werden, wer denn wirklich hinter dem Schreckgespenst der „Desinformation“ steckt. Watts verweist nicht nur auf allerhand „Verschwörungstheoretiker“ wie „Truther,“ „Chemtrailers“ oder Impfgegner, deren politisch-gesellschaftliche Wirkkraft nun wirklich bezweifelt werden kann, sondern auch auf islamische Terrorgruppen oder den russischen Geheimdienst, der ja nicht zuletzt, über so mächtige soziale Netzwerke wie Facebook, Einfluss genommen haben soll auf den Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

An dieser Stelle sollte man allerdings einmal innehalten. Ist das Einmischen in politische Angelegenheiten anderer Länder ein ausschließlich russisches Phänomen? Nein. Das hat es schon immer und überall gegeben, in der jüngeren Geschichte vor allem aufseiten der USA. Wenn der russische Geheimdienst also hinter gezielter Desinformation steckt, kann sich das Amerikanische Establishment wirklich davon freisprechen? Auch hier ein klares nein. Man denke zum Beispiel an die gezielte Manipulation der öffentlichen Meinung vor den militärischen Interventionen im Nahen Osten.[3]

Für Watts geht es schlichtweg darum welches Narrativ dominiert und die herrschende Meinung bestimmt. Wahrheit sei ein dehnbarer Begriff, so behauptet er. Die Frage ist lediglich: „Wessen Wahrheit?“ Es ist also ein Machtkampf. Aus dieser Sicht ist Desinformation nichts anderes als eine von der eigenen Wahrheit abweichende Wahrheit und muss bekämpft werden. Die eigene Wahrheit wird zur Desinformation des Gegners. Deshalb braucht es, Watts zufolge, neue Regulatoren im modernen Informationsfluss. Die herrschende Meinung muss wieder auf Kurs gebracht werden.

Das Gute ist allerdings, dass Watts falsch liegt. Die Wahrheit ist nicht subjektiv. Sie ist, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt dehnbar. Und wenn sich herausstellt, dass das bislang so dominante Narrativ des amerikanischen Establishments die Wahrheit an der einen oder anderen Stelle überdehnt hat, so ist es ein Segen, dass die moderne Kommunikationstechnologie es möglich macht dies kritisch und öffentlichkeitswirksam anzumahnen. Wir können nur hoffen, dass die Technologie den Regulatoren immer einen Schritt voraus bleibt – und dass die Bürger letztendlich jenem Narrativ vertrauen, das am dichtesten an der Wahrheit dran ist.

[1] Der Vertrauensverlust wird z.B. im diesjährigen Edelman Trust Barometer: Global Report dokumentiert, http://cms.edelman.com/sites/default/files/2018-02/2018_Edelman_Trust_ Barometer_Global_Report_FEB.pdf. Interessanterweise hat etwa Indien einen höheren Vertrauensindex als die USA.

[2] Der interessierte Leser sei auf Dr. David Gordons kritische Besprechung (in The Austrian, Vol 4, No. 2, 2018) des Buches von Niall Ferguson verwiesen.

[3] Hier lassen sich problemlos zahlreiche weitere Fälle aufzählen. Eine beeindruckende Zusammentragung findet man etwa im Buch Illegale Kriege von Daniele Ganser, das 2016 beim Verlag Orell Füssli in der zweiten Auflage erschienen ist.

Dr. Karl-Friedrich Israel hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Er wurde 2017 an der Universität Angers in Frankreich bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann promoviert. An der Fakultät für Recht und Volkswirtschaftslehre in Angers unterrichtete er von 2016 bis 2018 als Dozent. Seit Herbst 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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