Karl Marx – der Globalist

28.05.2018 – von Ludwig von Mises.

Ludwig von Mises (1881-1973)

Lenins wichtigstes Buch, oder zumindest sein umfangreichstes Buch (heute erhältlich in Lenin – Gesammelte Werke), führte dazu, dass einige ihn als Philosoph bezeichneten. Der größte Teil seiner Kritik an den Ideen seiner Gegner bestand allerdings darin, diese als „bourgeois“ zu bezeichnen. Lenin wiederholte lediglich die philosophischen Ideen von Karl Marx; teilweise erreicht er nicht einmal das Niveau anderer russischer Autoren zum Thema Marxismus.

Es gab keine Entwicklung marxistischer Theorie oder Philosophie in Ländern, in denen es kommunistische Parteien gab. Leute, die wir als Marxisten bezeichnen, sehen sich selbst lediglich als Übersetzer von Marx; sie haben nie versucht, irgendetwas an Marx’ Theorien zu verändern. Es gibt allerdings Widersprüche bei Marx. So ist es möglich, zahlreiche gegensätzliche Standpunkte mit seinen Zitaten zu untermauern. Marx` Einfluss auf alle Autoren nach ihm ist beträchtlich, obwohl die Beeinflussung durch Marx üblicherweise nicht zugegeben wird.

Obwohl Marxisten sich selbst nur als seine Übersetzer verstehen, gab es einen Marxisten, einen Autor, der etwas hinzufügte und einen starken Einfluss nicht nur auf die kleine Gruppe seiner Anhänger, sondern auch auf andere Autoren ausübte. Georges Sorel [1847–1922] – nicht zu verwechseln mit Albert Sorel [1842–1906] – war ein bedeutender Historiker und entwickelte eine Philosophie, die sich in vielerlei Hinsicht von Marx` Philosophie unterschied. Und seine Philosophie beeinflusste sowohl Politik als auch philosophisches Denken. Sorel war ein ängstlicher, bürgerlicher Intellektueller, ein Ingenieur. Er zog sich in den Ruhestand zurück, um mit seinen Freunden in einer Buchhandlung zu diskutieren, deren Eigentümer Charles Péguy [1873–1914], ein revolutionärer Sozialist, war. Im Lauf der Jahre änderte Péguy seine Meinung und wurde am Ende seines Lebens zu einem sehr überzeugten katholischen Autor. Péguy hatte ernste Streitigkeiten mit seiner Familie. Bemerkenswert an ihm war sein Diskurs mit Sorel. Péguy war ein Mann der Tat; er starb 1914 bei Kampfhandlungen in den ersten Wochen des Krieges.

Sorel gehörte psychologisch zu der Art von Mensch, der von der Tat träumt, sie aber nie ausführt; er kämpfte nie. Als Autor war er jedoch sehr aggressiv. Er pries die Grausamkeit und bedauerte die Tatsache, dass Grausamkeit mehr und mehr aus unserem Leben verschwindet. In einem seiner Bücher, Gedanken über Gewalt, nannte er es ein Zeichen des Verfalls, dass marxistische Parteien, die sich selbst revolutionär nennen, zu parlamentarischen Parteien degeneriert waren. Wo ist die Revolution, wenn man sich im Parlament befindet? Gewerkschaften mochte er ebenfalls nicht. Er fand, die Gewerkschaften sollten das hoffnungslose Unterfangen, höhere Löhne auf dem Verhandlungsweg zu erreichen, aufgeben, und sich von diesem konservativen Weg ab und dem Weg der Revolution zuwenden.

Sorel erkannte den Widerspruch im Marx`schen System, das einerseits von Revolution sprach, andererseits aber behauptete: „Der Sozialismus kommt zwangsläufig – seine Ankunft lässt sich nicht beschleunigen, da er nicht kommen kann, bevor nicht die materiellen Produktivkräfte alles erreicht haben, was im Rahmen der alten Ordnung zu erreichen ist.“ Sorel erkannte, dass diese Vorstellung der Zwangsläufigkeit im Widerspruch zum Revolutionsgedanken stand. Diesem Widerspruch begegnen alle Sozialisten – Kautsky zum Beispiel. Sorel schlug sich komplett auf die Seite der Revolution.

Sorel forderte von den Gewerkschaften eine neue Taktik, action directe – Angriffe, Zerstörung, Sabotage. Er betrachtete diese Aggression nur als Hinarbeiten auf den großen Tag, wenn die Gewerkschaften den „Generalstreik“ ausrufen würden. An diesem Tag erklären die Gewerkschaften: „Jetzt arbeiten wir gar nicht mehr. Wir wollen die Nation komplett zerstören“. Generalstreik ist für ihn gleichbedeutend mit der echten Revolution. Die Vorstellung der action directe nennt man „Syndikalismus“.

Syndikalismus kann Eigentum der Arbeiter an der Fabrik bedeuten. Sozialisten bezeichnen mit diesem Begriff den Staatsbesitz und Staatsbetrieb  im Namen der Arbeiter. Sorel wollte dies auf revolutionärem Weg erreichen. Er stellte die Vorstellung, der Sozialismus sei zwangsläufig, nie in Frage. Laut ihm gibt es eine Art Instinkt, der die Menschen zum Sozialismus treibt, was allerdings Aberglaube sei, ein innerer Drang, der sich der Analyse entzieht. Deswegen wurde seine Philosophie mit der von Henri Bergsons élan vital (Mythen, Märchen, Fabeln, Legenden) verglichen. In Sorels Doktrin bedeuten „Mythen“ jedoch etwas anderes – eine Behauptung, der man nicht mit Vernunft begegnen kann.

1. Sozialismus ist ein Ziel.

2. Der Generalstreik ist das große Mittel.

Die meisten von Sorels Werken datieren zwischen 1890 und 1910. Sie hatten einen enormen Einfluss auf die Welt, nicht nur auf die revolutionären Sozialisten, sondern auch auf die Royalisten, die Anhänger einer Restauration des Hauses Orange, die „Action Française“, und die „Action Nationale“ anderer Länder. Alle diese Parteien wurden allerdings nach und nach etwas zivilisierter, als es Sorel recht war.

Die Gedanken des französischen Syndikalismus beeinflussten die wichtigste Bewegung des zwanzigsten Jahrhunderts. Lenin, Mussolini und Hitler wurden alle von Sorel beeinflusst, von der Vorstellung des Handelns, der Vorstellung, nicht zu reden, sondern zu töten. Sorels Einfluss auf Mussolini und Lenin steht außer Zweifel. Sein Einfluss auf den Nationalsozialismus wird von Alfred Rosenberg in seinem Buch Der Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts behandelt. Das Grundprinzip des Rassismus stammt von Franzosen. Der einzige, der wirklich etwas zu den marxistischen Ideen hinzugefügt hat, war Sorel, zusammen mit einer Gruppe von Syndikalisten, einer vergleichsweise kleinen Gruppe, die ausschließlich aus Intellektuellen bestand – aus faulen, reichen Intellektuellen wie den New Yorker „Penthouse-Bolschewisten“. Sie wiederholten immer wieder, dass nur die Arbeiter genug Tatkraft und Klassenbewusstsein besäßen, um das bourgeoise System zu zerstören.

Das Zentrum marxistischer Aktivitäten verschob sich von Deutschland nach Frankreich. Der größte Teil der marxistische Schriften ist in Französisch verfasst. Auch Sorel arbeitete in Frankreich. Abgesehen von Russland gibt es mehr Marxisten in Frankreich als in irgend einem anderen Land; allerdings wurde in Frankreich sogar noch mehr über den Kommunismus diskutiert als in Russland. Die École Normale Supérieure in Paris war ein bedeutendes Zentrum der marxistischen Lehre. Der Bibliothekar Lucien Herr [1864–1926] übte hier großen Einfluss aus. Er war der Vater des französischen Marxismus. Da ehemalige Studenten der École Normale Supérieure mehr und mehr Bedeutung erlangten, verbreitete die Schule den Marxismus in ganz Frankreich.

Im großen und ganzen herrschten in allen europäischen Ländern ähnliche Bedingungen. Wenn die Universitäten den Marxismus nicht schnell genug akzeptieren wollten, wurden spezielle Schulen gegründet, um kommenden Generationen den orthodoxen Sozialismus beizubringen. Dies war das Ziel der London School of Economics, einer fabianischen Institution, die von den Webbs gegründet wurde. Es ließ sich allerdings nicht ganz vermeiden, dass hier auch Nichtsozialisten unterrichteten. Zum Beispiel unterrichtete Friedrich A. Hayek [1899–1992] für einige Jahre an der London School of Economics. Dies war in allen Ländern der Fall – europäische Länder besaßen staatliche Universitäten. Die Menschen ignorierten im Allgemeinen die Tatsache, dass der russische Zar Marxisten, und keine Verfechter des Freihandels, an die staatlichen russischen Universitäten berief. Diese Professoren wurden als legale, oder besser als „loyale“ Marxisten bezeichnet. Als die Bolschewisten in Russland an die Macht kamen, war es nicht nötig, die Professoren zu entlassen.

Marx sah keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen der Welt. Eine seiner Doktrinen bestand darin, dass der Kapitalismus eine der Stufen der Entwicklung hin zum Sozialismus war. Es gab für ihn zwar einige Völker, die im Vergleich zu anderen etwas zurückgeblieben waren. Aber der Kapitalismus zerstört die Handels- und Einwanderungsbarrieren, die einst die Vereinheitlichung der Welt verhinderten. Deshalb müssen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern bei ihrer Entwicklung hin zum Sozialismus verschwinden.

In seinem Kommunistischen Manifest von 1848 erklärte Marx, dass der Kapitalismus alle nationalen Unterschiede zerstöre und alle Länder der Welt in ein einziges Wirtschaftssystem integriere. Niedrige Produktpreise seien die Waffe, mit der der Kapitalismus den Nationalismus zerstöre. 1848 wusste der Durchschnittsbürger allerdings überhaupt nichts über Asien oder Afrika. Marx kannte sich weniger aus als der durchschnittliche englische Geschäftsmann, der immerhin etwas über Geschäftsbeziehungen mit China und Indien wusste. Marx’ einzige belegte Beschäftigung mit dieser Frage bestand in einer später von Vera Zasulich veröffentlichten Bemerkung darüber, dass es möglich wäre, dass Länder auch den Kapitalismus überspringen und direkt zum Sozialismus übergehen könnten. Marx sah keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern. Kapitalismus und Feudalismus führen überall zu fortschreitender Verarmung. Überall wird es reife Ökonomien geben. Und wenn das Zeitalter des reifen Kapitalismus erreicht ist, wird die gesamte Welt beim Sozialismus angekommen sein.

Marx fehlte völlig die Fähigkeit, aus der Beobachtung politischer Ereignisse und der Lektüre zeitgenössischer politischer Literatur zu lernen. Für ihn gab es praktisch nichts außer den Büchern der klassischen Ökonomen, die er in der Bibliothek des Britischen Museums las, und den Anhörungen der Kommissionen des Britischen Parlaments. Er war sich nicht einmal der Vorgänge in seiner eigenen Nachbarschaft bewusst. Er sah nicht, dass viele Menschen in Kämpfe verwickelt waren – nicht um die Interessen des Proletariats, sondern um die Interessen ihrer Völker.

Marx ignorierte das Konzept der Völker und Nationen vollständig. Das Nationalitätsprinzip sieht vor, dass jede linguistische Gruppe einen eigenen Staat bildet, und dass alle Mitglieder einer solchen Gruppe als solche anerkannt werden und sich vereinigen sollten. Dieses Prinzip führte zu den europäischen Konflikten und zur vollständigen Zerstörung des europäischen Systems, und schuf das Chaos im heutigen Europa. Das Nationalitätsprinzip berücksichtigt nicht, dass es große Gebiete gibt, in denen mehrere linguistische Gruppen nebeneinander existieren. Folglich gab es Kämpfe zwischen diesen Gruppen, die schließlich zur heutigen Situation in Europa führten. Ich erwähne dies, da es sich um ein Regierungsprinzip handelt, das bis heute unbekannt war.

Gemäß diesem Prinzip gibt es einen Staat wie Indien nicht. Es ist möglich, dass dieses Prinzip dazu führen wird, dass Indien in viele unabhängige Staaten zerfallen wird, die sich gegenseitig bekämpfen. Das indische Parlament benutzt die englische Sprache. Die Angehörigen der einzelnen Staaten können nicht miteinander kommunizieren, wenn sie nicht die Sprache der Regierung verwenden – eine Sprache, die sie praktisch aus ihrem Land verbannt haben. Aber dieser Zustand wird nicht ewig andauern.

Als sich 1848 die europäischen Slawen zu einem panslawischen Kongress in Moskau trafen, mussten sie Deutsch miteinander sprechen, was jedoch spätere Entwicklungen in eine andere Richtung nicht verhinderte.

Karl Marx und Engels konnten der nationalen Bewegung nichts abgewinnen und berücksichtigten sie nie. Sie passte nicht zu ihren Plänen. Wenn manche Autoren, insbesondere französische Autoren, aufgrund unfreundlicher Bemerkungen, die Marx und Engels über verschiedene Sprachgruppen des austro-ungarischen Reiches und des Balkans machten, glauben, dass Marx ein Vorläufer des Nationalsozialismus sei, so liegen sie falsch. Marx sagte, er wolle einen einheitlichen Weltstaat schaffen. Das war auch Lenins Ziel.

1848 hatte Marx bereits angenommen, die Ankunft des Sozialismus stehe kurz bevor. Deshalb gebe es keinen Grund, einen einzelnen linguistischen Staat zu bilden. Solch ein Staat könnte nicht lange bestehen. Marx nahm einfach an, das Zeitalter der Staaten würde zu Ende gehen, und wir ständen am Anfang eines Zeitalters, in dem es keine Unterschiede mehr gäbe zwischen einzelnen Typen, Klassen, Völkern, linguistischen Gruppen und so weiter. Marx negierte komplett jegliche Unterschiede zwischen Menschengruppen. Die Menschen würden alle vom selben Typ sein. Marx beantwortete nie die Frage, welche Sprache die Menschen in seinem einheitlichen Weltstaat sprechen würden, oder welchem Volk der Diktator angehören würde.

Marx wurde wütend, wenn jemand sagte, es gäbe Unterschiede zwischen Menschen in einem Staat, in einer Stadt, in einer Branche, so wie alle Marxisten wütend wurden, wenn ihnen jemand sagte, es gäbe Unterschiede zwischen Engländern und Eskimos. Gemäß Marx lagen die Unterschiede einzig und alleine in der Erziehung. Wären ein Debiler und Dante auf dieselbe Art und Weise erzogen worden, gäbe es keine Unterschiede zwischen ihnen. Diese Vorstellung hatte großen Einfluss auf die Anhänger von Marx, und sie hat immer noch einen großen Einfluss auf die Leitlinien der amerikanischen Erziehung. Warum sind nicht alle Menschen gleich intelligent? Viele Marxisten glauben, dass der Durchschnittsmensch im zukünftigen sozialistischen Weltstaat genau so große Talente, Gaben, Intelligenz und künstlerische Fähigkeiten wie die größten Männer der Vergangenheit wie Trotsky, Aristoteles, Marx und Goethe besitzen wird, obwohl es auch noch begabtere Menschen geben wird.

Marx kam nie auf die Idee, dass ein Lehrer seinem Schüler bestenfalls nur das beibringen kann, was er selber weiß. Im Fall von Marx hätte es nicht gereicht, in einer Schule von vollkommenen Hegel`schen Lehrern ausgebildet worden zu sein, da er dann nur weitere Hegel`sche Philosophie produziert hätte. Würde den Menschen das Wissen der Generation vor der Entwicklung des Automobils beigebracht, wären sie nicht in der Lage, Autos zu bauen. Erziehung alleine kann nie zu echtem Fortschritt führen. Die Tatsache, dass es manchen Menschen dank ihrer Positionen, Erbschaften, Erziehung und so weiter gegeben ist, diesen einen Schritt weiter zu gehen, als die vorige Generation, lässt sich nicht einfach durch Erziehung erklären.

Genauso ist es unmöglich, große Dinge und die großen Taten mancher Männer einfach durch ihre Nationalität zu erklären. Man muss sich fragen, warum diese Menschen anders waren als ihre Brüder und Schwestern. Marx nahm einfach völlig ohne Begründung an, dass wir nun im Zeitalter der Internationalisierung leben, und dass alle nationalen Eigenheiten verschwinden werden. Genau so wie er annahm, dass die Spezialisierung verschwinden würde, weil Maschinen von ungelernten Arbeitern bedient werden können, nahm er auch an, dass es keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilen der Welt und den verschiedenen Völkern geben würde. Jede Art von Konflikt zwischen den Völkern interpretierte er als Konsequenz von Machenschaften der Bourgeoisie. Warum kämpfen Franzosen und Deutsche miteinander? Warum kämpften sie 1870? Weil die herrschenden Eliten von Preußen und Frankreich kämpfen wollten. Dies hatte nichts mit den Interessen der Völker zu tun.

Was diese Einstellung zum Krieg anging, war Marx natürlich von den Vorstellungen der Manchester-laissez-faire-Liberalen beeinflusst worden. Wenn wir den Begriff „Manchester-Liberalismus“ stets als Beleidigung verwenden, neigen wir dazu, den wichtigen Satz in der Erklärung des Manchester-Kongresses zu vergessen, aus dem der Begriff stammt. Dort hieß es, in einer Welt des Freihandels gäbe es keine Gründe für die Völker mehr, miteinander zu kämpfen. Wenn Freihandel herrscht und jedes Volk die Erzeugnisse jedes anderen Volkes zur Verfügung stehen, entfällt der wichtigste Kriegsgrund. Die Fürsten haben ein Interesse daran, ihr Herrschaftsgebiet zu vergrößern, um mehr Macht und Einkommen zu erlangen, aber die Völker an sich haben daran kein Interesse, weil es unter der Bedingung des Freihandels keine Rolle spielt. Und wenn es keine Einwanderungshürden gibt, spielt es für den einzelnen Bürger keine Rolle, ob sein Land klein oder groß ist. Deswegen, so die Manchester-Liberalen, wird der Krieg unter demokratischer Mehrheitsherrschaft verschwinden. Die Menschen werden dann gegen Kriege sein, weil sie dabei nichts zu gewinnen haben – sie müssen nur für sie zahlen und in ihnen sterben.

Daran dachte Präsident [Woodrow] Wilson [1856–1924], als er gegen Deutschland in den Krieg zog. Wilson erkannte dabei nicht, dass die Behauptungen über die Sinnlosigkeit des Krieges nur in einer Welt des Freihandels zwischen den Völkern gelten. Sie gelten nicht in einer Welt des Interventionismus.

Sir Norman Angell [1872–1967] argumentiert immer noch genauso. Was gewann der einzelne Deutsche 1870? Damals traf es fast zu, weil es damals vergleichsweise freien Handel gab. Heute ist die Situation aber eine andere. Die Politik Italiens selbst machte es den Italienern in einer Welt des Interventionismus unmöglich, an die Rohstoffe zu gelangen, die sie benötigten. In der heutigen Welt des Interventionismus stimmt es nicht, dass der Einzelne durch Krieg nichts zu gewinnen hat.

Der Völkerbund ist eines der größten gescheiterten Experimente der Geschichte – und es gab viele gescheiterte Experimente. Während den 20 Jahren seines Bestehens entstanden immer mehr Handelsbarrieren. Zölle verloren als Handelsbarrieren an Bedeutung, da nun Embargos etabliert wurden.

Die Liberalen behaupteten, dass ein demokratischer Staat nicht mehr am Kriegführen interessiert sei, da er sich wirtschaftlich nicht mehr lohne, weil die Menschen durch Krieg nichts gewinnen. Marx nahm an, dies stimme selbst in der Welt des Interventionismus, die vor seinen Augen entstand. Dies war einer der Hauptfehler des Marxismus. Marx war kein Pazifist. Er behauptete nicht, Krieg sei schlecht. Er behauptete nur, weil dies auch die Liberalen behaupteten, dass Kriege zwischen Völkern keine Rolle mehr spielen würden. Er behauptete weiter, dass Krieg, beziehungsweise Revolution, die für ihn Bürgerkrieg bedeutete, nötig sei. Friedrich Engels war ebenfalls kein Pazifist; er studierte tagtäglich Militärwissenschaft, um sich auf die Rolle vorzubereiten, die er sich selbst zugedacht hatte, nämlich die des Oberbefehlshabers aller Völker, des Oberbefehlshabers des vereinigten Proletariats aller Länder. Er nahm rotberockt an Fuchsjagden teil und erzählte Marx, dies sei die beste Vorbereitung für einen zukünftigen General.

Wegen dieser Vorstellung von Revolution – als Bürgerkrieg, nicht als Krieg zwischen Staaten – begann die marxistische Internationale, über Frieden zu diskutieren. 1864 gründete Marx in London die Erste Internationale. Eine Gruppe von Leuten, die nur sehr wenig mit der Masse der Menschen gemein hatte, traf sich damals. Es gab für jedes Land einen Sekretär. Friedrich Engels war der Sekretär für Italien. Zahlreiche andere Länder wurden von Leuten repräsentiert, die sie nur als Touristen kannten. Streit zwischen den Mitgliedern spaltete die gesamte Versammlung. Schließlich wurde sie in die Vereinigten Staaten verlegt, und 1876 dann eingestellt.

Die Zweite Internationale wurde 1869 in Paris gegründet. Aber diese Zweite Internationale wusste nicht, auf was sie sich einließ. Die Gewerkschaften hatten Einfluss gewonnen, und sie waren gegen Freihandel, und gegen freie Einwanderung. Wie sollten sich unter solchen Bedingungen Themen finden lassen, über die man auf einem internationalen Kongress diskutieren könnte? Sie entschieden sich schließlich, über Krieg und Frieden zu diskutieren, aber nur auf nationaler Ebene. Sie sagten, sie seien alle Proletarier, und würden nie in den Kriegen der Bourgeoisie kämpfen. Engels und Karl Kautsky waren bei den Deutschen. Es gab einige „abtrünnige“ Franzosen in der Gruppe, die fragten: „Was heißt dass, wir dürfen unser Land nicht verteidigen? Wir mögen die Hohenzollern nicht.“ Dann trafen die Franzosen eine Übereinkunft mit den Russen, was den Deutschen nicht gefiel. Alle paar Jahre gab es so einen internationalen Kongress, und alle paar Jahre schrieben die Zeitungen, das Ende der Kriege sei nah. Aber diese „netten Zeitgenossen“ redeten nicht über die wahren Gründe von Spannungen wie Einwanderungshürden. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte den Internationalen Kongressen ein Ende.

Marx plante eine Revolution. Dabei erschuf er eine bürokratische Organisation in den europäischen Ländern, die aber im großen und ganzen keinen Schaden anrichtete, da sie keine Macht besaß, ihre Theorien in die Tat umzusetzen. Dann entwickelte sich im Osten eine kommunistischen Organisation, die unglücklicherweise die Macht besaß, Menschen hinzurichten und die ganze Welt zu bedrohen. Und der Anfang von all dem war ein einziger Mann im Lesesaal des Britischen Museums in London – kein Mann der Tat, aber ein Mann, der brutale Taten veranlassen konnte. Die ängstlichen, bourgeoisen Charaktere Marx und Sorel schufen all dieses Unheil. Die meisten gewalttätigen Ideen unserer Zeit stammen von Männern, die selbst nicht in der Lage wären, irgendeiner Aggression etwas entgegenzusetzen.

Wilson akzeptierte die Doktrin der Manchester-Liberalen, nämlich dass Demokratien nicht gerne Krieg führen; Demokratien führen nur Verteidigungskriege, da der Einzelne sich durch den Krieg keine Verbesserungen für sich erhoffen kann, selbst im Fall eines Sieges seines Landes nicht. Aber Wilson erkannte nicht, dass dies nur in einer Welt des Freihandels zutrifft. Er erkannte nicht, dass die Welt, in der er lebte, schon eine völlig andere war, nämlich eine Welt des Interventionismus. Ihm war nicht klar, dass ein enormer Wandel in der Wirtschaftspolitik zur Ungültigkeit der Theorien der Manchester-Liberalen geführt hatte. 1914 gab es vergleichsweise geringe Handelsbarrieren. Aber während der Zeit des Völkerbundes wurden sie enorm verschärft. Während Verfechter des Freihandels sich in Genf beim Bund trafen und über den Abbau der Handelsbarrieren sprachen, wurden daheim noch höhere Barrieren errichtet. 1933 gab es ein Treffen in London, um die Zusammenarbeit zwischen den Ländern zu verbessern. Genau zu diesem Zeitpunkt aber vereitelte die reichste Nation, die Vereinigten Staaten, genau dies, indem sie Finanz- und Währungsregulierungen einführte. Danach war der ganze Apparat völlig nutzlos.

Gemäß Ricardos Theorie des komparativen Vorteils ist es für ein Land selbst von Vorteil, den Freihandel einzuführen, auch wenn alle anderen Länder dies nicht tun. Wenn nur die Vereinigten Staaten heute Freihandel einführen würden, würde dies zu gewissen Veränderungen führen. Wenn allerdings alle anderen Länder an ihrem Protektionismus festhalten würden, wäre es den USA nicht möglich, mehr Güter von ihnen zu kaufen.

Es gibt nicht nur bei uns Isolationisten; es gibt sie auch in anderen Ländern. Importe müssen mit Exporten bezahlt werden, und Exporte haben keinen anderen Zweck, als mit ihnen für Importe zu bezahlen. Deshalb würde die einseitige Einführung des Freihandels durch die reichste und mächtigste Nation der Welt alleine zu keiner Veränderung für beispielsweise die Italiener führen, wenn diese ihre Barrieren aufrecht halten würden. Für andere Länder würde es ebenfalls keinen Unterschied machen. Es ist vorteilhaft für jedes einzelne Land, den Freihandel einseitig einzuführen – die Schwierigkeit besteht allerdings darin, die Barrieren der anderen Länder abzubauen.

Der Begriff „Sozialismus“ bedeutete in der zweiten Hälfte der 1830er, als er neu war, genau dasselbe wie „Kommunismus“ – also die Verstaatlichung der Produktionsmittel. „Kommunismus“ war anfangs der beliebtere Begriff. Dann geriet er langsam in Vergessenheit, und es wurde fast ausschließlich der Begriff  „Sozialismus“ verwendet.

Es bildeten sich sozialistische und sozialdemokratische Parteien, und ihr Dogma war das Kommunistischen Manifest. 1918 brauchte Lenin einen neuen Begriff, um sich von der Gruppe von Sozialisten abzugrenzen, die er als „Sozialverräter“ bezeichnete. Deshalb verlieh er dem Begriff „Kommunismus“ eine neue Bedeutung; er verwendete ihn nicht für das Endziel, sondern für die taktischen Mittel auf dem Weg dorthin. Bis zu Stalin bedeutete Kommunismus schlicht eine bessere Methode – die revolutionäre Methode – im Gegensatz zur friedlichen, sozialistischen Methode der „Sozialverräter“. Ende der 1920er Jahre versuchte Stalin auf der Dritten Internationalen erfolglos, dem Begriff „Kommunismus“ eine neue Bedeutung zu geben. Russland nennt sich allerdings immer noch Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UDSSR).

In einem Brief erläuterte Karl Marx die verschiedenen Stadien des Sozialismus – das niedrigere Vorstadium, und das Endstadium. Er gab ihnen allerdings keine unterschiedlichen Namen. Im Endstadium gäbe es einen solchen materiellen Überfluss, dass es möglich wäre, das Prinzip „jedem nach seinen Bedürfnissen“ einzuführen. Weil ausländische Kritiker Unterschiede im Lebensstandard der verschiedenen Mitglieder des russischen Sowjets feststellten, machte Stalin einen Unterschied. Ende der 1920er Jahre erklärte er, das Vorstadium nenne sich „Sozialismus“, und das Endstadium „Kommunismus“. Der Unterschied bestehe darin, dass es im sozialistischen Vorstadium Ungleichheit zwischen den Rationen für die verschiedenen Mitglieder des russischen Sowjets gäbe; Gleichheit wird erst im späteren kommunistischen Stadium erreicht.

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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Senne. Der Originalbeitrag mit dem Titel Marx the Globalist ist am 21.4.2018 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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