Mario Draghis „verhängnisvolle Anmaßung“

4.9.2017 – von Thorsten Polleit.

Thorsten Polleit

Am 23. August 2017 hielt der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, auf der Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften, auf der 17 Nobelpreisträger mit 350 Nachwuchsökonomen aus 66 Ländern zusammentrafen, eine Rede mit dem Titel „Connecting Research and policy making“.[1] Was Draghi zu dieser Gelegenheit vorbrachte – und vor allem was er nicht ansprach – war aufschlussreich.

Besonders auffällig war, dass jedwede Analyse über die Ursache der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise in seinen Ausführungen völlig fehlte. Man bekam quasi den Eindruck vermittelt, die Krise sei unvermittelt, gänzlich aus dem heiteren Himmel über die Volkswirtschaften hereingebrochen. Keine Erwähnung der Rolle, die die Zentralbanken, die Monopolproduzenten des ungedeckten (Fiat-)Geldes, für die Krisenursache gespielt haben.

Kein Wort also davon, dass die Zentralbank lange Jahre vor Ausbruch der Krise die Zinsen heruntermanipuliert hatten – und damit für ein exzessives Ausweiten der Kredit- und Geldmengen und damit für einen nicht durchhaltbaren „Boom“ gesorgt haben. Als dann der Boom in einen „Bust“ umschlug – ausgelöst durch die „US-Subprime Krise“, die sich rasch weltweit ausweitete –, kamen die hässlichen Folgen der Geldpolitik der Zentralbanken zum Vorschein.

Im Bust fanden sich viele Regierungen, Banken und Konsumenten im Euroraum plötzlich in einer finanziell prekären Lage wieder. Die Volkswirtschaften in Südeuropa traf es besonders hart. Sie litten nicht nur an den Folgen einer jahrelangen, gewaltigen Kapitalfehllenkung, sie mussten zudem auch noch erkennen, dass sie ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hatten.

Draghi gab sich jedoch nicht mit derart unschönen Details ab. Vielmehr ließ er sein Publikum wissen, wie gut die EZB ihre Politik der „Krisenlösung“ verfolgt habe. Seine Deutung der Dinge war unmissverständlich: Hätte die EZB nicht so kühn gehandelt, wie sie gehandelt hat, wäre der Euroraum in eine Rezession-Depression verfallen, vielleicht wäre der Euro sogar auseinandergebrochen.

Die Analogie zu dieser Argumentationslinie wäre, den Drogenhändler zu loben, der den Drogenabhängigen (der zuvor abhängig gemacht wurde durch den Drogenhändler) eine weitere Droge verabreicht. Der wiederholte Drogenkonsum heilt aber nicht den Abhängigen, er schädigt ihn. Wer würde dem Drogenhändler applaudieren? Genauso kann man fragen: Ist es angemessen, die EZB-Politik zu preisen?

Draghi präsentiert sich in seinen Ausführungen als gemäßigter, intellektuell „undogmatischer“ Zentralbankpräsident, der die Bedeutung betont, die die Erkenntnisse der ökonomischen Forschung für die geldpolitische Praxis haben (und damit pflichtgemäß die Arbeit der Ökonomen-Profession huldigt). Aber der Ansatz des Geldpolitikers ist alles andere als wirtschaftswissenschaftlich unparteiisch.

Die falsche Methode

Die heutige ökonomische Forschung – wie sie verfolgt und gelehrt wird von der Hauptstrom-Ökonomenzunft – ruht auf einer wissenschaftlichen Methode, die der Naturwissenschaft entliehen ist, und die auf dem Positivismus-Empirismus-Falsifikationismus aufbaut.[2] Dieses Vorgehen, in der Wirtschaftswissenschaft angewandt, verursacht nicht nur logische Inkonsistenzen und damit fragwürdige und mitunter auch falsche Einsichten. Der mit dieser Methode verbundene Skeptizismus und Relativismus lässt die Ökonomik geradezu vom rechten Weg abkommen.

Unter dem Einfluss des Positivismus-Empirismus-Falsifikationismus ist die Ökonomik – insbesondere die Geld- und Finanzmarkttheorie – zu einem intellektuellen Steigbügelhalter geworden, der das Zentralbank-Geldwesen, das Teilreserve-Bankgeschäft, die Politik der Zinsmanipulation und die Idee, das Finanzsystem durch staatliche Regulierung „sicher(er)“ zu machen, (schein-)legitimiert.

So ist nicht verwunderlich, dass Draghi die politische Unabhängigkeit der Zentralbanken lobt – weil sie angeblich vor dem destabilisierenden Einfluss der Regierungen schütze. Man muss sich wirklich wundern, wie dieses Argument Akzeptanz finden kann – einseitig, wie es ist –, gerade und vor allem vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die politisch unabhängigen Zentralbanken die Hauptverantwortung für die jüngste Krise tragen.

Die Freunde des Zentralbankwesens

Warum gibt es so wenig Gegenwind für die Deutung der Dinge, wie sie von Draghi und anderen vorgebracht werden? Nun, viele der geldpolitischen Experten – die von staatlich finanzierten Universitäten und Forschungsinstituten stammen – sind zumeist ohne Wenn und Aber Unterstützer des Zentralbankwesens. Die Mehrheit von ihnen kann keinen fundamentalen ökonomischen oder gar ethischen Fehler an ihm erkennen.

Diese sogenannten geldpolitischen Experten, die viel Zeit und Energie aufwenden, um geldpolitische Experten zu werden und auch zu bleiben, unterschreiben in der Regel voll und ganz die Prinzipien, auf denen das Zentralbankwesen basiert: Dem staatlichen Zwangsmonopol der Geldproduktion und allen Maßnahmen, die es braucht, um es durchzusetzen und zu verteidigen.

Das Ergebnis einer solchen Geisteshaltung liegt auf der Hand: „Wenn der Apparat einmal eingerichtet ist, wird seine künftige Entwicklung so gestaltet werden, wie es jene, die in seine Dienste getreten sind, für nötig halten,”[3] wie Friedrich August von Hayek (1899 – 1992) die unvermeidbare Expansion einer von Experten geführten monopolistischen Staatsagentur erklärte – wie eine staatliche Zentralbank.

Die geldpolitischen Experten, die dienstbeflissen den Wünschen ihren Klienten – also vor allem dem Staat und den Banken – nachkommen, machen die Geldpolitik zusehends komplex und unverständlich für die breite Öffentlichkeit. Wie wahr: Man denke nur einmal an all die verwirrenden Abkürzungen, die die EZB mittlerweile verwendet: APP, QE, CBPP, OMT, LTRO, TLTRO, ELA etc.[4] Im Grunde entzieht sich die EZB damit der öffentlichen und parlamentarischen Kontrolle.

Hat die EZB ihr Mandat verletzt?

Es ist nicht überraschend, dass Draghi die „Nicht-Standard-Politik-Maßnahmen“ preist wie zum Beispiel das „Quantitative Easing“ – das Aufkaufen von Staatsanleihen, durch das neue Euro aus dem Nichts geschaffen werden. Mit diesen Maßnahmen werden angeschlagene Staaten und Banken finanziert – und damit die Volkswirtschaften, die von immer neuen und zinsgünstigeren Fiat-Euros abhängen, angetrieben.

Draghi regt zudem an, dass die Geldpolitik verbliebene Restriktionen abschütteln sollte, die ihren Ermessenspielraum einengen:

“[W]enn die Welt sich verändert, wie sie es vor zehn Jahren getan hat, müssen die Politiken, vor allem die Geldpolitik, angepasst werden. Solch eine Anpassung, die niemals leicht ist, erfordert eine unvoreingenommene, ehrliche Bewertung der neue Realitäten mit klaren Augen, unbelastet von der Verteidigung bisher geglaubter Paradigmen, die ihre Erklärungskraft verloren haben.“

Diese Anmerkungen beziehen sich vermutlich auf das Deutsche Bundesverfassungsgericht, das meint, Hinweise zu sehen, die Anleihekäufe der EZB könnten gegen geltendes der Recht der Europäischen Union verstoßen beziehungsweise könnten das EZB-Mandat verletzen. Das oberste deutsche Gericht hat nun den Europäischen Gerichtshof angerufen, ein abschließendes Urteil zu fällen.

Die Angelegenheit ist delikat: Wenn der EZB verboten würde, Anleihen der Staaten zu kaufen (oder ihr gar aufgegeben würde, die Anleihen, die sie schon gekauft hat, wieder zu verkaufen), könnte im Euroraum ein Sturm losbrechen: Viele Staaten und Banken würden Schwierigkeiten haben, ihre fälligen Kredite zu refinanzieren und neue Kredite aufzunehmen. Das Euro-Projekt würde dadurch in eine äußerst kritische Lage geraten.

Ohne eine Geldpolitik der ultra-niedrigen Zinsen und das Durchfinanzieren finanziell angeschlagener Schuldner mit neuem, aus dem Nichts geschaffenen Geld (oder das Inaussichtstellen, dass bei Bedarf die elektronische Notenpresse angestellt wird) würde der Euro vermutlich schon längst „mit dem Bauch nach oben schwimmen“. Bisher war die EZB allerdings erfolgreich zu verbergen, dass der Wunschtraum, ein verlässliches Fiat-Geld in Europa zu kreieren und zu führen, gescheitert ist.

Das Verneinen ökonomischer Gesetzmäßigkeiten

Die kritische Frage mit Blick auf Draghis Rede ist jedoch die Folgende: Was soll sich geändert haben in der Ökonomik in den letzten Jahren? Natürlich fühlen sich Ökonomen, die der wissenschaftlichen Methode des Positivismus-Empirismus-Falsifikationismus folgen, ermutigt, die Idee abzulehnen, es gäbe so etwas wie unverrückbare ökonomische Gesetzmäßigkeiten. Sie bevorzugen vielmehr den Gedanken, dass sich die Dinge ändern, dass alles möglich ist.

Doch eine gut begründete Ökonomik zeigt nun einmal unmissverständlich auf, dass es so etwas wie Gesetze des menschlichen Handelns gibt. Dazu gehört zum Beispiel, dass ein Anstieg der Geldmenge eine Volkswirtschaft nicht reicher macht, dass sie lediglich die Kaufkraft des Geldes herabsetzt; oder dass ein Herunterdrücken des Marktzinses durch die Zentralbank zu Kapitalfehlallokationen und Boom-und-Bust-Zyklen führen muss.

Es lässt sich mit einer gut begründeten Ökonomik auch erkennen, dass Zentralbanken den Geldwert verschlechtern und damit seine produktive Wirkung herabsetzen; dass sie Einkommen und Vermögen zwangsumverteilen; dass ihre Politik einige auf Kosten anderer begünstigt; dass sie den Staat immer weiter anwachsen lassen auf Kosten der Freiheit des Individuums; und dass sie die Volkswirtschaften in eine Überschuldungssituation führen.

Was die Zentralbanken machen, ist ein „Planen für das Chaos“. Unglücklicherweise werden die Schäden, die sie anrichten – wie zum Beispiel Inflation, Spekulationsblasen, Konjunkturumschwung und Massenarbeitslosigkeit –, regelmäßig und fälschlicherweise dem „freien Markt“ angelastet, und dadurch wird das Vertrauen der Öffentlichkeit in das System der freien Märkte zerstört. Der freie Markt, nicht der Staat, gilt als Übel.

Das Scheitern staatlicher Eingriffe in das Wirtschaftsleben – man kann letzteres auch als Folgen des Interventionismus bezeichnen, und die staatliche Geldpolitik ist dafür ein Beispiel par excellence –, entmutigt nun aber die Befürworter des Interventionismus keineswegs. Im Gegenteil: Sie fühlen sich sogar ermutigt, ihren Interventionismus noch kühner, noch aggressiver zu verfolgen, um die gewünschten Ziele zu erreichen.

Draghi gibt dafür ein Paradebeispiel ab. Im Juli 2012 sagte er:

“[Wir] denken, der Euro ist unumkehrbar” und “die EZB ist bereit, alles zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird reichen.“[5]

Hayeks Warnung, die er in seinem Buch „Fatal Conceit. The Errors of Socialism“ (1988) ausspricht, verhallt ungehört:

„Die eigenartige Aufgabe der Ökonomik ist es den Menschen aufzuzeigen, wie wenig sie wirklich wissen über das, was sie glauben gestalten zu können.“[6]

Die Rede von Draghi sollte uns nicht überzeugen, dass die Geldpolitik auf einer überzeugenden ökonomischen Theorie ruht, dass die EZB das Gemeinwohl befördert. Wenn überhaupt, sollte sie deutlich gemacht haben, dass die Ökonomik in weiten Teilen verdreht und deformiert ist, um dem Staat und seiner Zentralbank zu dienen – und das wenige, was noch vom System freier Märkte übrig geblieben ist, wird untergraben, um das Fiat-Geldsystem in Gang zu halten.

Den Fiat-Euro aufrecht zu erhalten, bedeutet eine Zwangsumverteilung von Einkommen und Vermögen, die nicht nur zwischen den Menschen innerhalb nationaler Grenzen stattfindet, sondern auch über nationale Grenzen hinaus, und das in einem in Friedenszeiten noch nie dagewesenen Ausmaß. Als Instrument einer anti-demokratischen Politik ist der Euro Quelle unaufhörlicher Konflikte und Ungerechtigkeiten, und er ist eine Belastung für den Wohlstand der Menschen.

[1] See Draghi, M., The interdependence of research and policymaking, speech at the Lindau Nobel Laureate Meeting, Lindau, Germany, 23 August 2017.
[2] Für ein kritische Analyse siehe Hoppe, H.-H. (2006), Austrian Rationalism in the Age of the Decline of Positivism, in: The Economics and Ethics of Private Property. Studies in Political Economy and Philosophy, 2. Aufl., Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, S. 347 – 379.
[3] Hayek, F. A. v. (1960), Die Verfassung der Freiheit, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, S. 369.
[4] APP = Asset Purchase Programme: Programm zum Ankauf von Vermögenswerten; QE = Quantitative Easing: Ausweiten der Geldmenge durch Aufkauf von Schuldpapieren; CBPP = Covered Bond Purchasing Programme: Programm zum Aufkauf von Hypothekenanleihen; OMT = Outright Monetary Transactions: Programm, bei der das Eurosystem Staatsanleihen bestimmter Euroländer in vorab nicht explizit begrenzter Höhe auf dem Sekundärmarkt ankaufen kann; LTRO = Long-Term Refinancing Operations: Langfristige Refinanzierungsgeschäft für Banken; TLTRO = Targeted Long-Term Refinancing Operation: Gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte für Banken; ELA = Emergency Liquidity Assistance: Notfall-Liquiditätshilfe, die nationale Zentralbanken an Banken auszahlen können.
[5] Draghi, M., Verbatim of the remarks made by Mario Draghi, speech held at the Global Investment Conference in London, 26 July 2012.
[6] Hayek, F. A. v. (1988), Fatal Conceit. The Errors of Socialism, Vol. I, Routledge, S. 76, eigene Übersetzung.

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Thorsten Polleit, 49, ist seit April 2012 Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel GmbH. Er ist Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, Mitglied im Forschungsnetzwerk „Research On money In The Economy“ (ROME) und Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Er ist Gründungspartner und volkswirtschaftlicher Berater der Polleit & Riechert Investment Management LLP. Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.comHier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.

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