„Ich wollte Reformer werden, doch ich bin nur der Geschichtsschreiber des Niedergangs geworden“

27.2.2017 – von Ludwig von Mises.

Ludwig von Mises (1881-1973)

Die Lehre von der Unmöglichkeit einer sozialistischen Wirtschaftsrechnung bildet den Kern meiner Gemeinwirtschaft, deren erste Auflage 1922 herauskam. Die Gemeinwirtschaft, der 1927 veröffentlichte Liberalismus und die 1929 zu einem Bande unter dem Titel Kritik des Interventionismus vereinigten Aufsätze bilden zusammen eine umfassende Behandlung der Probleme gesellschaftlicher Kooperation. Ich untersuche darin alle denkbaren Systeme der Kooperation von Menschen und prüfe ihre Wirkungsmöglichkeiten. Auch diese Untersuchungen haben in der Nationalökonomie ihren Abschluß gefunden. Ich hatte noch einen weiteren Aufsatz für die Sammlung Kritik des Interventionismus bestimmt, nämlich den 1929 in der Zeitschrift für Nationalökonomie unter dem Titel «Verstaatlichung des Kredits?» veröffentlichten Aufsatz. Die Redaktion der Zeitschrift hatte ihn jedoch verlegt und erst wiedergefunden, als jener Band schon fertig vorlag.

Ich glaube, daß die Lehren, die ich in diesen Arbeiten vorgetragen habe, unanfechtbar sind. Ich hatte in die Behandlung der Probleme einen neuen Gesichtspunkt gebracht, den einzigen, der eine wissenschaftliche Untersuchung dieser politischen Fragen möglich macht. Ich fragte nach der Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen, d. h. danach, ob die Zwecke, die diejenigen, welche diese Maßnahmen empfehlen oder setzen, zu erreichen suchen, auch wirklich erreicht werden können. Ich habe gezeigt, daß die Beurteilung der einzelnen Systeme gesellschaftlicher Kooperation von willkürlich gewählten Standpunkten belanglos ist, und daß es nur darauf ankommt, was das System leisten kann. Alles, was man vom Standpunkt der Religionen, der verschiedenen Systeme heteronomer Ethik, des positiven Rechts und des Naturrechts und der Anthropologie über diese Dinge zu sagen pflegt, erweist sich als Ausdruck subjektiver Werturteile.

Ein ganz anderes ist es, wenn man die Behauptung vertritt, die Entwicklung der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Wirtschaftsordnung treibe über das Sondereigentum hinaus und unentrinnbar entweder zum Sozialismus oder zum Interventionismus. Wenn das richtig wäre, dann würde damit noch immer nicht der Gegenbeweis gegen meine Darlegungen erbracht worden sein. Weder Sozialismus noch Interventionismus können dadurch sinnvoll und zweckmäßig werden, daß der Weg der Geschichte notwendig in sie mündet. Wenn die «Rückkehr zum Kapitalismus» wirklich ausgeschlossen ist, wie man allgemein behauptet, dann ist das Schicksal unserer Kultur besiegelt. Ich habe aber gezeigt, daß die Lehre von der Unentrinnbarkeit des Sozialismus oder des Interventionismus unhaltbar ist. Der Kapitalismus hebt sich nicht selbst auf. Die Menschen wollen ihn abschaffen, weil sie im Sozialismus oder im Interventionismus das Heil erblicken.

Ich habe manchmal die Hoffnung gehegt, daß meine Schriften eine praktische Wirkung erreichen und der Politik den Weg weisen würden. Ich habe immer nach den Anzeichen eines ideologischen Wandels Umschau gehalten. Doch ich habe mich eigentlich nie darüber getäuscht, daß meine Theorien den Niedergang der großen Kultur erklären, ihn aber nicht aufhalten. Ich wollte Reformer werden, doch ich bin nur der Geschichtsschreiber des Niedergangs geworden.

Ich habe in meinen Arbeiten über die gesellschaftliche Organisation viel Zeit und Mühe auf die Auseinandersetzung mit den Sozialisten und Interventionisten aller Spielarten und Richtungen verwendet. Der Gegenstand – die Zurückweisung zweckwidriger Reformvorschläge – erforderte dieses Vorgehen.

Man hat mir vorgehalten, ich hätte die psychologische Seite des Organisationsproblems nicht beachtet. Der Mensch habe auch eine Seele; diese Seele fühle sich im Kapitalismus unbehaglich und würde eine Minderung der materiellen Lebenshaltung in Kauf nehmen, wenn sie eine sie besser befriedigende Arbeitsordnung eintauschen könnte.

Es ist wichtig zunächst festzustellen, daß dieses Argument (wir wollen es das Herz-Argument nennen) mit dem ursprünglichen und auch heute noch von den Sozialisten und Interventionisten vertretenen Argument, das wir das Kopf-Argument nennen wollen, nicht verträglich ist. Das Kopf-Argument erblickt gerade darin, daß der Kapitalismus die volle Entfaltung der Produktionskräfte hindert, die Rechtfertigung des sozialistischen Programms. Die sozialistische Produktionsweise werde die Ergiebigkeit der Produktion unermeßlich steigern und damit die Bedingungen schaffen, die eine reiche Versorgung aller ermöglichen würden. Der Marxismus ist ganz auf dem Kopf-Argument aufgebaut. Vor Lenin haben die Marxisten nie behauptet, daß der Übergang zum Sozialismus die Lebenshaltung der Massen während einer Übergangsperiode herabsetzen würde. Sie haben sofortige Verbesserung der materiellen Lage der Massen angekündigt, wenn sie auch mitunter hinzugefügt haben, daß der volle Segen der sozialistischen Produktionsweise erst im Laufe der Zeit wirksam werden könne. Das Herz-Argument ist schon eine Stellung im Rückzugskampfe des Sozialismus. Es ist ein Erfolg der am sozialistischen Programm geübten Kritik, daß die Sozialisten sich genötigt sehen, dieses Argument zu verwenden.

Für die Beurteilung des Herz-Arguments ist selbstverständlich das Ausmaß der durch die sozialistische Produktionsordnung bewirkten Wohlstandssenkung entscheidend. Da darüber nichts, was objektiv feststellbar und exakt meßbar wäre, gesagt werden kann, könnte der Streit zwischen Anhängern und Gegnern des Sozialismus nicht wissenschaftlich ausgetragen werden. Die Nationalökonomie könnte die Auseinandersetzung nicht klären.

Ich habe nun der Behandlung dieser Probleme eine Wendung gegeben, die die Verwendung des Herz-Arguments nicht mehr zuläßt. Wenn sozialistische Wirtschaftsordnung zu einem Chaos führen muß, weil in ihr nicht gerechnet werden kann, und wenn Interventionismus die Ziele nicht erreichen kann, die seine Befürworter durch ihn erreichen wollen, dann ist es belanglos, das Herz-Argument zugunsten dieser sinnwidrigen Systeme anzuführen.

Ich habe nie bestritten, daß seelische Faktoren die Volkstümlichkeit der antikapitalistischen Politik erklären. Doch unzweckmäßige Vorschläge und Maßnahmen können durch derartige seelische Faktoren nicht zweckmäßig werden. Wenn die Menschen den Kapitalismus «seelisch» nicht ertragen können, dann wird die kapitalistische Kultur untergehen.

Man hat mir vorgehalten, daß ich die Rolle, die Logik und Vernunft im Leben spielen, überschätzt hätte. In der Theorie gäbe es ein Entweder-Oder. Das Leben aber bestehe aus Kompromissen. Was in der wissenschaftlichen Betrachtung als unverträglich erscheine, vermische sich mitunter in der Praxis zu einem brauchbaren Gebilde. Die Politik werde schon eine Verbindung widerstrebender Prinzipien zu finden wissen. Die Lösung werde vielleicht unlogisch, irrational und vernunftwidrig genannt werden dürfen, sie werde aber fruchtbar sein. Darauf allein aber komme es doch an.

Die Kritiker irren. Die Menschen wollen das, was sie für zweckmäßig halten, ganz durchführen. Nichts liegt ihnen ferner als Halbheit in der Verwirklichung des Wünschbaren. Man berufe sich da nicht auf die geschichtliche Erfahrung. Es ist richtig, daß Religionen, die die Abkehr vom weltlichen Treiben forderten, sich mit dieser Welt ganz gut vertragen haben. Doch die rigorosen Lehren des Christentums und des Buddhismus haben nie die Geister beherrscht. Das, was von den strengen Lehren dieser beiden Religionen in den Gehalt des volkstümlichen Glaubens überging, stand der Betätigung im diesseitigen Leben nicht im Wege. Die Erfüllung der religiösen Gebote blieb den Mönchen vorbehalten. Selbst die Kirchenfürsten des Mittelalters ließen sich in ihrem Handeln in keiner Weise durch Rücksichtnahme auf die Gebote der Bergpredigt und andere evangelische Anordnungen beeinflussen. Die kleine Schar derer, die es mit Christentum oder Buddhismus ernst nahm, schied aus dem weltlichen Treiben aus. Das Leben der anderen war kein Kompromiß, es war einfach unchristlich und unbuddhistisch.

Heute stehen wir vor einem anders gearteten Problem. Die Massen sind sozialistisch oder interventionistisch, in jedem Fall antikapitalistisch. Der einzelne will nicht seine Seele vor der Welt retten; er will die Welt umgestalten. Er will bis ans Ende gehen. Die Massen sind in ihrer Konsequenz unerbittlich; sie werden eher die Welt zerstören als sich ein Jota von ihrem Programm rauben lassen.

Man beruhige sich auch nicht mit dem Hinweis darauf, daß es in der vorkapitalistischen Vergangenheit stets Interventionismus gegeben hat. Damals lebten eben weit weniger Menschen auf der Erdoberfläche, und die Massen waren mit einer Lebenshaltung zufrieden, die sie heute nicht hinnehmen würden. Vom Kapitalismus kann man nicht einfach in ein verflossenes Jahrhundert zurückkehren.

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Aus Ludwig von Mises, Erinnerungen, 1978, Neudruck auf Initiative des Ludwig von Mises Institut Deutschland, erschienen bei der Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart (2014).

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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