Das falsche Spiel mit der Moral

13.6.2016 – von Andreas Marquart.

Andreas Marquart

Nur wenige Begriffe dürften so schwierig zu definieren sein wie der des Gemeinwohls. Zeitgleich handelt es sich um einen sehr stark strapazierten Begriff. Gerade im Wortschatz von Regierenden und Politikern hat die Bezeichnung Gemeinwohl einen Stammplatz. Warum aber gerade in dieser Berufsgruppe? Kann es sein, dass es so etwas wie Gemeinwohl gar nicht gibt? Und wohin führt es, wenn man etwas anstrebt, was gar nicht existiert? Mit diesen Fragen wollen wir uns in diesem Beitrag beschäftigen.

Seit jeher haben sich vor allem die Philosophen gefragt, was unter Gemeinwohl zu verstehen ist, wie es entsteht und wie man es zur Blüte bringen kann. Platon beispielsweise kam in seiner Schrift Politeia zu dem Schluss, dass das Gemeinwohl die Regierenden verpflichte, den eigenen privaten Vorteil zurückzustellen, die unterschiedlichen Partikularinteressen der Gemeinschaftsmitglieder zurückzudrängen und beides dem Erreichen eines glücklichen Lebens aller Bürger unterzuordnen. Aristoteles sah das Gemeinwohl als oberstes Ziel der Gemeinschaft an, wodurch die Gerechtigkeit verwirklicht und in welchem die menschliche Natur vollendet wird.

Das klingt zunächst einmal recht gut, und man könnte meinen, es ist die Rezeptur, das Paradies zu erreichen: Jeder stellt seine eigenen Interessen zurück und alle werden glücklich. Es mutet in jedem Falle erstrebenswert an – verglichen mit der „Ellenbogengesellschaft“, in der sich viele wähnen, in der sich viele als abgehängt und als Verlierer sehen.

Wenn man darüber nachdenken will, was Gemeinwohl denn bedeutet, ist es notwendig – so widersprüchlich es zunächst auch klingen mag –, sich gedanklich zu allererst von den Begriffen Gemeinschaft oder Gesellschaft zu entfernen und sich dem Individuum zuzuwenden. Die Betrachtung ist also nicht „top down“, sondern „bottom up“ vorzunehmen. Diesen Blickwinkel einzunehmen ist wichtig, denn nur der einzelne Mensch handelt, niemals die Gemeinschaft. Das Handeln einer Gemeinschaft lässt sich immer auf die Handlungen der Einzelnen zurückführen.

Warum aber handelt der Mensch überhaupt? Der Grund für das menschliche Handeln war, ist und wird immer der Gleiche sein. Der Ökonom und Sozialphilosoph Ludwig von Mises (1881 – 1973) hat sich mit ihm sehr ausführlich beschäftigt in seinem bedeutenden Werk Nationalökonomie. Theorie des menschlichen Handelns und Wirtschaftens (1940):

Unzufriedenheit mit dem gegebenen Zustand und die Annahme der Möglichkeit der Behebung oder Milderung dieser Unzufriedenheit durch das eigene Verhalten.

Dieser Satz, der sich logisch aus der unbestreitbar wahren Tatsache ableitet, dass der Mensch handelt, gilt immer und für jeden.

Jedes menschliche Handeln ist dabei zielgerichtet. Die angestrebte Verbesserung eines Zustandes bezieht sich immer auf die Sicht des Handelnden, ist subjektiv. Es geht es nicht um die Bewertung einer Handlung, ob sie einem anderen rational oder schlüssig erscheint. Oft genug schüttelt man ob der Handlungen anderer den Kopf. Aus Sicht des Handelnden ist sein Tun jedoch immer zielgerichtet, rational, und hat einzig das Ziel, die eigene Unzufriedenheit mit einem gegebenen Zustand zu beheben oder zu mildern. Wollte jemand argumentieren, dass diese Aussage falsch sei, dass der Mensch also nicht handelt, würde er handeln und dem Gesagten widersprechen.

Den Erfolg einer Handlung kann der Handelnde in Zahlen ermitteln, wenn es um ein mit Geld abgewickeltes Handelsgeschäft oder eine Investition geht. Eine nicht messbare physische Verbesserung stellt sich ein, nachdem jemand sein Durstgefühl gelöscht hat. Oder er erfährt durch eine Spende einen emotionalen Gewinn. Derartige „Gewinne“ kann man wie gesagt nicht messen, der Handelnde empfindet dennoch Gewinne.

Betrachten wir den emotionalen Gewinn etwas näher. Anderen zu helfen kann bei einem Handelnden zur Zufriedenheit führen, muss es aber nicht zwingend. Beispielweise ist das Spenden für einen wohltätigen Zweck für Herrn A nutzenstiftend, aber nur wenn er dabei unbekannt bleibt. Anders für Herrn B: Er fühlt sich nur dann besser, wenn er seine Hilfsbereitschaft zur Schau stellen kann.

Es gibt Menschen, die aus ihrer persönlichen Handlung eine moralische Verpflichtung für andere ableiten.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Es ist erfreulich, wenn jemand bemüht ist, anderen zu helfen. Aber es ist dabei wichtig zu verstehen, unter welchen Gesetzen menschliches Handeln stattfindet. Das nämlich hilft bei der Entlarvung der „Gutmenschen“, die sich auf der Suche nach Prestige mit ihrer Selbstlosigkeit brüsten, diese von anderen einfordern und bei jeder Gelegenheit, in der ihre Einstellung nicht geteilt wird, die Moralkeule schwingen. Der wirklich Selbstlose wird über sein Tun dagegen eher den Mantel des Schweigens breiten.

Menschen, die vorgeben, Gutes zu tun, sind auffällig häufig unter Regierenden und Politikern zu finden – in der Berufsgruppe also, die sich gerne in das Leben, besser: in das Handeln, der Bürger einmischt, und zwar mit dem Argument, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, die Moralkeule immer griffbereit.

Politiker sind selbstverständlich auch nur Menschen und unterliegen auch der Logik des menschlichen Handelns. Im Gegensatz zu Berufen wie dem eines Bäckers, eines Lokomotivführers oder eines Ingenieures besteht für die Dienstleistung eines Politikers keine natürliche Nachfrage. Auch haben Politiker keine Waren anzubieten, die Konsumenten kaufen können.

Das, was Politiker tun, unterscheidet sich also grundlegend von dem, was in einem freien Markt geschieht. Hier tauschen die Akteure Waren und Dienstleistungen freiwillig zu ihrem gegenseitigen Nutzen, weil sie das, was ihr Gegenüber ihnen anzubieten hat, höher wertschätzen, als das, was sie dafür herzugeben bereit sind.

Und genau das ist es, wodurch sich der Beruf des Politikers von einem „normalen“ Beruf unterscheidet. Es existiert niemand, der seine Dienste freiwillig nachfragt und bereit ist, ihm ein Salär für seine Leistung zu bezahlen. Deshalb „müssen“ die Abgeordneten des Deutschen Bundestages die Preise für ihre Dienste, also ihre Gehälter, in einer Abstimmung selbst festlegen. Dass diese Abstimmung stets ohne zwischenparteiliche Auseinandersetzung und immer völlig geräusch- und reibungslos vonstattengeht, sollte niemanden wundern.

Auf der Suche nach Rechtfertigung für politisches Handeln kommt das Gemeinwohl gerade recht. Wenn ein Politiker sagt, seine Aufgabe sei der Dienst an der Allgemeinheit, und er verfolge das Gemeinwohl, klingt das gut, aber niemand weiß vermutlich, was genau darunter zu verstehen ist und niemand wagt es, sich gegen Maßnahmen zu wenden, die versprechen, das Gemeinwohl zu fördern. Doch Politik schafft kein Mehr an Gütern, schafft keinen Wohlstand. Sie kann nur dem einen nehmen, um es den anderen zu geben. Politik schafft stets Gewinner und Verlierer.

Jeder Handelnde wird geleitet von der Motivation, sich durch eine Handlung besser zu stellen beziehungsweise eine Verschlechterung der eigenen Situation zu vermeiden. Politiker bilden hier keine Ausnahme. Sie begünstigen die Bevölkerungsgruppen, die ihnen die meisten Wählerstimmen zuspielen. Sie fördern die Branchen, in denen sie sich nach Ende der politischen Karriere die bestbezahlten Beraterposten versprechen. Sie sind sich alle einig, die Finanzindustrie mit aller Kraft am Leben zu erhalten, denn sie ist unverzichtbar, um das Geld herbeizuschaffen, mit denen Wählerstimmen gekauft werden.

Es sieht folglich ganz danach aus, als hätte Platon eine unrealistische Vorstellung von Politik gehabt, der – es sei noch einmal genannt – die Schlussfolgerung zog, dass das Gemeinwohl insbesondere die Regierenden verpflichte, den eigenen privaten Vorteil zurückzustellen, die unterschiedlichen Partikularinteressen der Gemeinschaftsmitglieder zurückzudrängen und beides dem glücklichen Leben aller Bürger unterzuordnen.

Menschen, die in der Politik zu Hause sind, können sich – wie auch sonst niemand – der menschlichen Handlungslogik nicht entziehen. Sie erliegen der Versuchung, die Interessen derer zu fördern, die ihnen Wiederwahl und Macht in Aussicht stellen, und das geschieht notwendigerweise auf Kosten derjenigen, die als Wähler nicht zu gewinnen sind. Ihr Handeln kaschieren sie mit dem Verweis auf das wohlklingende Gemeinwohl, das es so gar nicht gibt, gar nicht geben kann.

Es gibt nur eine Einrichtung, die allen Gesellschaftsmitgliedern dienlich sein kann: das Privateigentum:  Wenn jeder mit seinem rechtmäßig erworbenen Eigentum verfahren kann, wie er es möchte, seinen persönlichen Zielen entsprechend, solange er dadurch die physische Integrität des Eigentums der anderen nicht verletzt.

Wenn es also so etwas wie Gemeinwohl gibt, dann sind es die Früchte, die ein jeder aus der unbehinderten Nutzung seines Eigentums ernten kann. Durch Besteuerung und zunehmende staatliche Eingriffe wie Ge- und Verbote und Regulierungen wird aber das Eigentum ausgehöhlt, relativiert und letztlich de facto abgeschafft.

Das Legitimieren der Politik durch den Verweis auf das Gemeinwohl führt das Gegenteil dessen herbei, was sich viele erhoffen, und was Politiker den vielen versprechen. Es führt nicht zu mehr, sondern zu weniger Wohlstand.

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Andreas Marquart ist Vorstand des „Ludwig von Mises Institut Deutschland“. Er ist Honorar-Finanzberater und orientiert sich dabei an den Erkenntnissen der Österreichischen Geld- und Konjunkturtheorie.

Im Mai vergangenen Jahres erschien sein gemeinsam mit Philipp Bagus geschriebenes Buch “WARUM ANDERE AUF IHRE KOSTEN IMMER REICHER WERDEN … und welche Rolle der Staat und unser Papiergeld dabei spielen”.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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