Die Vorkämpfer der Vereinigten Staaten von Europa wollen ein Neugebilde der alten imperialistischen und militaristischen Staatsidee

4.3.2015 – [Auszug aus „Liberalismus“ von Ludwig von Mises, 1927, S. 125 – 130]

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind der mächtigste und reichste Staat der Welt. Nirgends sonst konnte sich der Kapitalismus freier und weniger behindert durch die Regierung entfalten. Die Bewohner der Vereinigten Staaten von Amerika sind daher weitaus reicher als die Bewohner irgendeines anderen Landes der Erde. Seit mehr als sechzig Jahren ist ihr Land von keinem Krieg mitgenommen worden. Hätten sie nicht die Ausrottungskriege gegen die Ureinwohner des Landes geführt, hätten sie nicht ohne jede Nötigung 1898 mit Spanien Krieg geführt und hätten sie sich nicht am Weltkrieg beteiligt, so wüßten unter den Bürgern des Landes heute kaum einige Greise aus eigener Erfahrung zu berichten, was Krieg heißt. Man mag es bezweifeln, ob die Amerikaner selbst zu würdigen wissen, was sie alles dem Umstande verdanken, daß die Politik in den Staaten mehr Liberalismus und Kapitalismus verwirklicht hat als die irgendeines anderen Staatswesens. Auch die Ausländer wissen nicht, was es gewesen ist, das die viel beneidete Republik reich und mächtig gemacht hat. Aber darin sind doch alle – von denen abgesehen, die, voll von Ressentiment, vorgeben, den „Materialismus“ der amerikanischen Kultur tief zu verachten – einig, daß sie nichts sehnlicher wünschen, als daß auch ihr Staatswesen so reich und mächtig dastünde wie die Union.

Von verschiedenen Seiten wird nun als der einfachste Weg, um dieses Ziel zu erreichen, die Bildung der „Vereinigten Staaten von Europa“ bezeichnet. Die einzelnen Staaten des europäischen Kontinents wären zu wenig volkreich und hätten nicht genug Land zur Verfügung, um sich am Kampf der Staaten um die Vormacht gegen die immer mächtiger werdende nordamerikanische Union, gegen Rußland, gegen das englische Empire, gegen China und gegen andere Gebilde ähnlicher Größe, die – etwa in Südamerika – noch entstehen könnten, zu behaupten. Sie müßten sich daher zu einer militärischen und politischen Einheit zusammenschließen, zu einem Schutz- und Trutzbündnis, das allein imstande wäre, Europa in den kommenden Jahrhunderten die Bedeutung in der Weltpolitik zu sichern, die ihm in den letzten Jahrhunderten zugekommen ist. Eine ganz besondere Förderung empfängt die Idee der paneuropäischen Union aus der sich Tag für Tag jedermann mit stärkerer Evidenz aufdrängenden Erkenntnis, daß es nichts Widersinnigeres geben kann als die Schutzzollpolitik der europäischen Staaten. Nur die weitere Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung kann den Wohlstand mehren und jene Fülle von Gütern erzeugen, deren wir bedürfen, um die Lebenshaltung und damit das Kulturniveau der Massen zu heben. Die Wirtschaftspolitik aller Staaten, ganz besonders aber die der kleineren europäischen Staaten, ist gerade darauf bedacht, die internationale Arbeitsteilung ganz zu unterbinden. Vergleicht man die Lebensbedingungen der nordamerikanischen Industrie, die einen durch keinerlei Zölle und ähnliche Hindernisse beengten Markt von mehr als 120 Millionen reichen Verbrauchern zur Verfügung hat, mit denen der deutschen oder gar etwa mit denen der tschechoslowakischen oder der ungarischen Industrie, dann zeigt es sich klar, wie widersinnig die Bestrebungen sind, kleine autarke Wirtschaftsgebiete zu schaffen.

Die Übelstände, gegen die die Vorkämpfer der Idee der Vereinigten Staaten von Europa auftreten, sind ohne Zweifel vorhanden, und man müßte sie je eher desto besser abstellen. Aber die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa wäre kein geeigneter Weg, um dieses Ziel zu erreichen.

Jede Reform der zwischenstaatlichen Beziehungen muß darauf ausgehen, den Zustand zu beseitigen, in dem der einzelne Staat nur darauf lauert, wie er sein Gebiet auf Kosten anderer Staaten erweitern könnte. Das Problem der Staatsgrenzen, heute von unendlicher Wichtigkeit, muß seine Bedeutung verlieren. Die Völker müssen erkennen, daß das wichtigste Problem der äußeren Politik die Herstellung des ewigen Friedens ist, und sie müssen begreifen, daß man den Weltfrieden nur sichern kann durch Einschränkung der Staatstätigkeit auf das engste Gebiet, so daß dem Staate und seiner räumlichen Begrenzung nicht mehr jene überragende Bedeutung für das Leben des einzelnen zukommt, die es verständlich erscheinen läßt, daß in der Vergangenheit und in der Gegenwart Ströme von Blut vergossen wurden, um die Grenzen der einzelnen Staaten abzustecken. An Stelle der geistigen Enge, die in der eigenen Staatlichkeit und im eigenen Volk alles sieht und kein Verständnis hat für die Wichtigkeit der internationalen Zusammenarbeit, muß das kosmopolitische Denken treten. Das aber ist nur möglich, wenn man die Staatengesellschaft, den internationalen Über- und Oberstaat so eingerichtet hat, daß kein Volk und kein einzelner wegen seines Volkstums und seiner völkischen Sonderart unterdrückt wird.

Um die Völker aus der Enge der nationalistischen Politik, die stets auf das Verderben des Nachbars lauert und in letzter Linie das Verderben aller herbeiführt, zu einer wahrhaften Weltpolitik hinauszuführen, bedarf es sohin in erster Linie der Erkenntnis, daß die Interessen der Völker nicht widerstreiten und daß jedes Volk seinen eigenen Vorteil dann am besten wahrt, wenn es darauf bedacht ist, die Entwicklung aller Völker zu fördern, und sich ängstlich von jedem Versuch fernhält, andere Völker oder Teile anderer Völker zu vergewaltigen. Es geht also nicht etwa darum, daß die Völker den auf das eigene Volk eingestellten Chauvinismus durch einen auf einen größeren Kreis eingestellten Chauvinismus ersetzen, sondern daß sie erkennen, daß jede Art von Chauvinismus verkehrt ist und daß man an Stelle der alten militaristischen Mittel der internationalen Politik nun neue friedliche Mittel treten lassen muß, die auf gemeinschaftliche Arbeit und nicht auf wechselseitiges Bekriegen abzielen.

Die Vorkämpfer von Paneuropa und der Vereinigten Staaten von Europa verfolgen aber andere Ziele. Sie planen nicht eine neue Form der Staatlichkeit, die sich von den bisherigen, imperialistisch und militaristisch orientierten Staaten dem Wesen ihrer Politik nach unterscheiden soll, sondern ein Neugebilde der alten imperialistischen und militaristischen Staatsidee. Paneuropa soll größer sein als die einzelnen Staaten, die in ihm aufgehen werden, es soll mächtiger sein als diese und daher militärisch leistungsfähiger, besser geeignet, den Großstaaten England, Vereinigte Staaten von Amerika und Rußland Widerstand zu leisten. An Stelle des französischen, des deutschen, des magyarischen Chauvinismus soll der europäische treten; seine Spitze soll sich gegen die „Ausländer“ kehren, gegen Briten, Amerikaner, Russen, Chinesen, Japaner; nach innen aber soll es ein alle europäischen Völker einigendes Gebilde sein.

Nun kann man chauvinistisches Staatsempfinden und chauvinistische Staats- und Kriegspolitik wohl auf nationaler Grundlage aufbauen, aber nicht auf geographischer. Die Sprachgemeinschaft knüpft auf der einen Seite ein enges Band zwischen den Volksgenossen, und die Sprachfremdheit läßt zwischen den Völkern eine Kluft sich auftun; ohne diese – von allen Ideologien unabhängige – Tatsache hätte sich chauvinistisches Denken nie entwickeln können. Doch der Umstand, daß das geistige Auge des Geographen, der die Landkarten betrachtet, den europäischen Kontinent (mit Ausschluß von Rußland) als eine Einheit ansehen kann (aber nicht muß!), schafft zwischen den Bewohnern dieses Raumes keine Gemeinsamkeit, auf die der Politiker seine Entwürfe aufbauen könnte. Man kann einem Rheinländer begreiflich machen, daß er seine eigene Sache verficht, wenn er für die Deutschen Ostpreußens in den Kampf zieht, man wird ihm vielleicht einmal begreiflich machen können, daß die Sache aller Menschen in der Welt auch seine eigene Sache ist. Er wird es aber nie verstehen können, daß er für die Sache der Portugiesen, weil sie auch Europäer sind, einzutreten habe, daß aber die Sache Englands die Sache eines Feindes oder bestenfalls eines gleichgültigen Fremden sei. Eine lange geschichtliche Entwicklung, die man aus dem Leben der Menschheit nicht tilgen kann (und die, nebenbei bemerkt, der Liberalismus auch nicht tilgen will), hat es dahin gebracht, daß das Herz eines Deutschen höher schlägt, wenn von deutscher Art, von deutschem Volk, von Deutschland gesprochen wird. Dieses nationale Gefühl war gegeben ehe die Politik darauf ausging, auf seiner Grundlage deutsche Staatsidee, deutsche Politik und auch deutschen Chauvinismus aufzubauen. Daß die Worte Europa oder Paneuropa und europäisch oder paneuropäisch diesen Klang nicht haben, daß sie alles das nicht auslösen können, was die Worte Deutschland und deutsch auslösen, das nicht beachtet zu haben ist der Grundfehler aller jener gutgemeinten Entwürfe, die an Stelle der Nationalstaaten Unionstaaten treten lassen wollen, möge es sich nun um Mitteleuropa, Paneuropa, Panamerika oder sonst ein ähnliches Gebilde handeln.

Am klarsten wird die Sache, wenn wir die handelspolitische Seite ins Auge fassen, die in allen diesen Projekten eine entscheidende Rolle spielt. Man kann, wie die Dinge heute liegen, einen Bayer dazu bringen, daß er es für richtig ansieht, daß ihm der Bezug irgendeines Artikels ,durch einen Zoll verteuert wird, damit die deutsche Arbeit – etwa in Sachsen – geschützt wird. Es wird hoffentlich einmal gelingen, ihn zur Einsicht zu bekehren, daß alle handelspolitischen Autarkiebestrebungen und somit alle Schutzzölle zweck- und sinnwidrig und daher aufzuheben sind. Niemals aber wird es gelingen, einen Polen oder einen Magyaren dazu zu bringen, daß er es als richtig anerkenne, daß er für irgendwelche Waren mehr als den Weltmarktpreis bezahlen soll, damit Frankreich, Deutschland oder Italien eine Erzeugung dieser Art in ihrem Lande betreiben können. Man kann eben die Schutzzollpolitik auf das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl und auf die nationalistische Theorie von der Unverträglichkeit der Interessen der einzelnen Völker stützen; man hat aber keine ähnliche ideologische Grundlage, auf der man ein System unionstaatlicher Schutzpolitik aufbauen könnte. Es ist offenbarer Widersinn, die sich immer mehr und mehr ausbildende Einheit der Weltwirtschaft in kleine möglichst autarke nationale Wirtschaftsgebiete zu zerschlagen. Aber man kann die nationalistische Absperrungspolitik nicht dadurch überwinden, daß man an ihre Stelle die Absperrungspolitik eines größeren Staatsgebildes, das verschiedene Völker zu einer politischen Einheit zusammenfaßt, setzt. Das einzige, was die Schutzzollpolitik und die Autarkiebestrebungen überwinden kann, ist die Erkenntnis ihrer Schädlichkeit und das Verständnis für die Interessensolidarität aller Völker.

Wenn man den Nachweis erbracht hat, daß die Spaltung der Einheit der Weltwirtschaft in kleine autarke Wirtschaftsgebiete schädlich ist, dann ergibt sich daraus mit Notwendigkeit die Schlußfolgerung, daß man zum Freihandel übergehen muß. Um zu beweisen, daß man ein paneuropäisches Schutzzollgebiet zur Erreichung paneuropäischer Autarkie bilden soll, müßte man erst den Beweis erbringen, daß zwar die Interessen der Portugiesen und der Rumänen solidarisch sind, daß aber beider Interessen mit denen Brasiliens und Rußlands kollidieren. Man müßte den Beweis erbringen, daß es für den Magyaren gut sei, die magyarische Textilindustrie zugunsten der deutschen, der französischen und der belgischen aufzugeben, daß aber die Interessen der Magyaren durch die Einfuhr englischer oder amerikanischer Textilwaren geschädigt werden. Die Bewegung zur Bildung von Unionstaaten ist aus der richtigen Erkenntnis der Unhaltbarkeit aller chauvinistischen Nationalpolitik entsprungen. Aber das, was sie an deren Stelle setzen will, ist undurchführbar, weil es der lebendigen Grundlagen im Bewußtsein der Völker ermangelt. Und könnte selbst das Ziel der paneuropäischen Bewegung erreicht werden, dann würde es in der Welt nicht um ein Haar besser werden. Der Kampf des geeinten Kontinentaleuropa gegen die großen Weltmächte außerhalb seines Gebietes wäre nicht weniger verderblich als es der Kampf der europäischen Staaten untereinander ist.

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

 

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