Die inflationistische Geschichtsauffassung

24.6.2013 – von Ludwig von Mises.

Ludwig von Mises

Eine weitverbreitete Auffassung meint, dass fortschreitende Senkung der Kaufkraft des Geldes sich in der geschichtlichen Entwicklung als ausschlaggebender Faktor erwiesen habe und erweise. Die Menschheit hätte, pflegt man zu sagen, den Weg von den einfacheren Wirtschaftsverhältnissen älterer Zeiten zum hochentwickelten Kapitalismus unserer Epoche nicht zurücklegen können, wenn die Geldmenge nicht schneller gewachsen wäre als der Geldbedarf und wenn demgemäss nicht die Kaufkraft des Geldes von der Geldseite her so stark gesenkt worden wäre, dass ungeachtet starken, ja geradezu gewaltigen Anwachsens der Kaufgüterversorgung fortschreitende Steigerung aller Preise und Löhne resultiert hätte. Die Ausgestaltung der Arbeitsteilung, die Neubildung von Kapital und die Steigerung der Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit wären nur durch die fortschreitende Geldentwertung ermöglicht worden. Nur sie schaffe Wirtschaftsblüte und Reichtum; Deflation und Preisfall führten dagegen stets zu Wirtschaftsschrumpfung und Wirtschaftsverfall.

Man kann, wenn man auf das Schrifttum blickt und die Ideen beachtet, die die Währungspolitik seit Jahrhunderten beherrschen, ruhig sagen, dass diese Meinung ziemlich allgemein geteilt wird. Man pflegt die Epochen starker Vermehrung der Geldmenge und starker Kreditausweitung als die großen Fortschrittsepochen der Menschheitsgeschichte zu betrachten, wenn man auch, einigermaßen belehrt und zur Vorsicht gemahnt durch die Erfahrungen der großen Inflationen, praktisch nicht Inflation und Kreditausweitung schlechthin, sondern mäßige, gewisse Schranken nicht überschreitende Politik zur Senkung der Kaufkraft des Geldes empfiehlt.

Die Vorliebe für inflationistische Politik beruht zum Teil auf dem tiefeingewurzelten Hass gegen die Gläubiger. Inflationspolitik wird als Waffe im Kampfe der Schuldner um Befreiung von den übernommenen Verpflichtungen betrachtet. Weil sie die Schuldner auf Kosten der Gläubiger begünstigt, wird sie als gerecht und als wohltätig für die Massen angesehen. Doch dieser Gedankengang ist von dem, mit dem wir es hier zu tun haben, zu unterscheiden. Die Auffassung, von der wir sprechen, betrachtet Inflation nicht wegen ihrer Rückwirkung auf die Schuldverhältnisse, sondern wegen ihrer sonstigen Wirkungen und Begleiterscheinungen als den treibenden Faktor oder als notwendige Bedingung wirtschaftlicher Entwicklung.

Man kann das Problem, das die inflationistische Geschichtstheorie aufwirft, nicht an Hand der geschichtlichen Erfahrung prüfen. Es wird nicht bestritten, dass die Geschichte seit vielen Jahrhunderten eine im Grossen und Ganzen fortschreitende, wenn auch ab und zu durch kurze Rückschläge unterbrochene Aufwärtsbewegung der Preise aufweist. Von irgendwelcher Genauigkeit, wissenschaftlicher Strenge oder gar zahlenmäßig bestimmter Feststellung kann bei der Ermittlung eines derartigen Tatbestandes nicht die Rede sein. Es wäre vergebens, den Versuch zu unternehmen, die Kaufkraft des Silbers und des Goldes in Europa Jahrhunderte zurückzuverfolgen und ihre Veränderungen zu messen. Dass alle Methoden, die man zur Messung der Kaufkraftveränderungen angegeben hat, auf Verkennung des Wesens der Austauschverhältnisse und des Wirtschaftens überhaupt beruhen, und dass sie daher sinnlos sind, wurde schon gezeigt. Was die Geschichte mit ihren Methoden auf diesem Gebiete zu ermitteln vermag, genügt aber, um die Behauptung zu rechtfertigen, die Kaufkraft des Geldes habe im Zuge der Jahrhunderte abgenommen. In diesem Punkte herrscht ziemlich weitgehende Übereinstimmung. Doch nicht diese Frage hat uns zu beschäftigen, sondern das ganz andere Problem, ob die Geldwertsenkung in der geschichtlichen Entwicklung Europas und des modernen Weltkapitalismus, in der Ausgestaltung der Arbeitsteilung und in der fortschreitenden Verbesserung der Versorgung durch erhöhte Kapitalbildung und Anwendung ergiebigerer Produktionsverfahren eine notwendige Bedingung war. Wir haben unabhängig von aller geschichtlichen Erfahrung, die man immer verschieden interpretieren kann und verschieden interpretiert, und auf die Gegner und Anhänger jeder Geschichtskonstruktion und jeder Entwicklungstheorie sich mit gleichem Recht oder Unrecht zu berufen pflegen, zu untersuchen, wie die Wirkungen der Kaufkraftänderungen den Ablauf eines wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses zu beeinflussen vermögen.

Man kann bei einer solchen Untersuchung kaum oder überhaupt nicht von den Argumenten und Gedankengängen ausgehen, die die Vertreter der inflationistischen Geschichtsauffassung zur Stützung ihres Standpunktes vorgebracht haben. Deren Argumente sind meist so offenkundig falsch, dass ihre Zurückweisung und restlose Ablehnung mit den einfachsten Mitteln gelingt. Seit es Nationalökonomie als Wissenschaft gibt, hat man immer wieder mit Erfolg gezeigt, dass alle Behauptungen über die vermeintlichen Nachteile des Geldmangels und die vermeintlichen Vorteile der Geldfülle auf groben Denkfehlern beruhen. Man hat es jedoch, vielleicht gerade wegen der Überzeugungskraft und der Schärfe, die diesen Widerlegungen innewohnt, und wegen der krassen Unzulänglichkeit der Ausführungen der Anhänger der inflationistischen Lehre unterlassen, sich die Frage vorzulegen, ob nicht andere Gedankengänge als die, die man zu Gunsten der Inflationstheorie vorgebracht hat, etwa doch eine besondere Prüfung des Problems notwendig machen. Man muss sich fragen, ob die inflationistische Geschichtsauffassung nicht mit Argumenten vertreten werden könnte, die besser sind als die ihrer Anhänger, und man muss versuchen, den Gehalt solcher Argumente zu prüfen. Man muss die Behandlung des Problems von der Bindung an die Unzulänglichkeit. aller inflationistischen Lehren befreien, um keinen Gedanken unberücksichtigt zu lassen, der für das Ergebnis der Untersuchung von Bedeutung sein könnte.

Die Erörterung der für die Beurteilung der inflationistischen Geschichtsauffassung entscheidenden Gesichtspunkte muss den später folgenden Untersuchungen über die Beziehungen von Geldstand und Zinsfussgestaltung und über den Konjunkturwechsel überlassen bleiben. Dort wird zu zeigen sein, wie Inflation und Kreditausweitung den Gang der Wirtschaft beeinflussen und was es für eine Bewandtnis mit dem durch die Geldfülle ausgelösten Aufschwung hat.

An dieser Stelle müssen wir uns darauf beschränken, das Problem von einer besonderen Seite zu betrachten. Wir wollen eine Welt denken, in der die Geldmenge starr ist. Wir nehmen an, dass die Menschen von dem als Geld verwendeten Stoff schon in einem frühen Stadium der geschichtlichen Entwicklung, jedenfalls schon vor Jahrhunderten alle die Mengen dem Gelddienst zugeführt haben, die ihnen jemals erreichbar sein können; seither ist keine weitere Vermehrung mehr möglich. Umlaufsmittel werden nicht verwendet. Der Gelddienst werde ausschließlich durch Geldstücke und durch Geldzertifikate versehen; auch die Teilmünzen, die den Umsatz kleiner und kleinster Beträge ermöglichen sollen, sind durch Geldbeträge, die bei den Ausgabestellen erliegen, voll gedeckt und sind demnach Geldzertifikate.

Unter diesen Voraussetzungen hätten der Ausbau der Arbeitsteilung und der Geldwirtschaft des Marktes auf der einen Seite, die Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit und die Mehrung der Gütermengen auf der anderen Seite fortdauernd Preissenkungen hervorrufen müssen. Hätte das den Fortschritt hemmen können, hätte es nicht die Wirtschaft in Verhältnissen festgehalten, die mehr Ähnlichkeit mit denen des zehnten Jahrhunderts als mit denen des zwanzigsten haben?

Der Kaufmann wird diese Frage bejahen. Das ist leicht zu verstehen. Das Denken des Geschäftsmanns steht eben ganz im Banne von Anschauungen, die sich unter anderen Voraussetzungen herausgebildet haben. Für ihn ist Preisniedergang gleichbedeutend mit Verlust, Preishausse mit Gewinn. Selbst der Umstand, dass es auch Baissespekulation gibt, und dass große Vermögen durch Spekulation auf den Preisniedergang entstanden sind, wird ihn in seiner Auffassung nicht beirren. Das wären eben nur Spekulationen, die aus dem Preisfall schon vorhandener Güter Gewinn zu erzielen suchen. Schöpferisches Neue, neue Anlagen, neue Verfahren würden nur durch die Aussicht auf steigende Preise verlockend. Der Fortschritt wäre ohne Preissteigerung nicht denkbar.

Diese Auffassung ist jedoch unhaltbar. In einer Welt sinkender Preise hätte sich das Denken aller Wirte den Verhältnissen ebenso anpassen müssen wie es sich den steigenden Preisen angepasst hat. Heute ist jedermann geneigt, in steigendem Geldeinkommen den Ausdruck einer Verbesserung seiner Lage zu erblicken; die Aufmerksamkeit ist vor allem auf das Steigen des Geldausdrucks der Löhne und der Vermögen gerichtet und weniger auf das Verhältnis, in dem sich die Versorgung mit Sachgütern verbessert hat. In einer Welt sinkender Kaufkraft würde man sich wohl mehr mit dem Sinken der Lebenshaltungskosten befassen. Das Ergebnis des wirtschaftlichen Fortschritts, der die Versorgung erleichtert und verbessert, würde dabei klarer hervortreten.

Die säkulare Entwicklung der Preise spielt in den Erwägungen, die Unternehmer und Kapitalisten in ihrer Geschäftsführung bestimmen, keine Rolle. Kein Wirt kümmert sich darum, wie sich die Kaufkraft des Geldes säkular gestaltet; für die Wirte entscheidet allein die Auffassung, die sie über die Preisentwicklung in den kommenden Wochen und Monaten hegen. Nicht die Richtung, die die Preisbewegung im Allgemeinen nehmen wird, interessiert den Unternehmer, sondern die Gestaltung des Verhältnisses, das zwischen den Preisen der komplementären Produktionsmittel und denen der Produkte besteht. Er kauft nicht etwa, weil er erwartet, dass «die Preise», d.h. alle Preise steigen werden, sondern weil er glaubt, dass die Spannung, die zwischen den Preisen bestimmter komplementärer Produktionsmittel und den erwarteten Preisen der Produkte besteht, so groß ist, dass sich dem Produzenten Gewinnaussichten bieten. In einer Welt, in der der säkulare Zug der Preisgestaltung die Kaufkraft der Geldeinheit steigen lässt, werden den unternehmenden Wirten solche Gewinnaussichten nicht weniger oft und in nicht geringerem Umfang winken als in einer Welt sinkender Kaufkraft. Die Erwartung allgemeiner progressiver Preissteigerung löst nicht etwa erhöhte Produktionstätigkeit aus, sondern «Flucht in die Sachwerte» und «Katastrophenhausse».

Wenn die Auffassung, dass die Preise aller Güter fallen werden, allgemein wird, wird der Bruttodarlehenszins für kurzfristige Anlage durch das Auftreten einer negativen Preisprämie gesenkt. Damit wird der Unternehmer gegen etwaige nachteilige Folgen des Preisfalls gesichert.

Doch auch soweit diese Sicherung in kurzfristigen Geschäften und Spekulationen nicht hinreicht und in den langfristigen Anlagen, für die sie in der Regel überhaupt nicht erzielt werden kann, könnte allgemeine Preissenkung das Sparen und die Kapitalbildung nicht hemmen. Wenn der Aktionär in the long run auch mit fallenden Dividenden zu rechnen haben wird, wird er anderseits auch mit fallenden Preisen und mit sinkenden Lebenshaltungskosten zu rechnen haben. Das Sinken der Preise kann ihn nicht um die Früchte des Sparens bringen.

Man kann daher die Meinung, dass psychische Momente das wirtschaftliche Handeln unter Verhältnissen fortschreitenden säkularen Sinkens der Warenpreise hemmen müssten und die Unternehmungslust schwächen würden, nicht als begründet ansehen. Andere als solche psychologische Hemmungen kämen überhaupt nicht in Betracht. Denn dass die wesentliche Voraussetzung allen Handelns, das Unbefriedigtsein und die Erwartung, es durch Aktivität zu mindern oder ganz zu beseitigen, und die wesentliche Voraussetzung der Entstehung von Unternehmergewinn, die Ungewissheit der Zukunft, mit der Gestaltung der Kaufkraft nichts zu tun haben, wird nicht bestritten werden können.

aus Nationalökonomie – Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Vierter Teil “Die Marktwirtschaft”, 4. Kapitel, S. 423 – 428.

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