„Es ist Temperamentsache, wie man in Erkenntnis einer unabwendbaren Katastrophe lebt“

19.4.2013 – Nicht nur seine wissenschaftlichen Beiträge, sondern auch die wirtschaftlichen und politischen Umstände und Widrigkeiten, unter denen er sie geschaffen hat, fordern wohl bei jedem Respekt ein, der sich mit dem Leben und Werk von Ludwig von Mises (1881 – 1973) intensiver beschäftigt. Der nachstehende Beitrag ist ein Auszug aus dem Aufsatz „Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – Der Ansatz von Ludwig von Mises“ (S. 1 – 4). Er wurde in der Schriftenreihe „Konzepte der Gesellschaftstheorie“, Band 16, mit dem Titel „Ludwig von Mises‘ ökonomische Argumentationswissenschaft“ veröffentlicht; Hrsg. Ingo Pies und Martin Leschke, erschienen bei Mohr Siebeck, 2010.

Thorsten Polleit

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„Es ist Temperamentsache, wie man in Erkenntnis einer unabwendbaren Katastrophe lebt“

von Ingo Pies

Ingo Pies

Ludwig Heinrich Edler von Mises wurde als Kind jüdischer Eltern am 29. September 1881 in Lemberg (Galizien) geboren, heute Lwiw (Ukraine). Kurze Zeit später zog die Familie nach Wien. Nach der Matura am Akademischen Gymnasium nahm Mises im Jahr 1900 an der Universität Wien das Studium der Rechtswissenschaften auf und beschäftigte sich intensiv mit Fragen der Nationalökonomie. Ursprünglich ein überzeugter Anhänger interventionistischer Sozialreformen, änderte Mises – inspiriert durch eigene Seminararbeiten über die Entwicklung der Wohnungsverhältnisse in Österreich und über die Wandlungen des Dienstbotenrechts – seine Meinung grundlegend im 5. und 6. Semester seines Studiums und wandte sich vom zeitgenössischen Etatismus ab. Beeindruckt durch die Schriften Carl Mengers, schloss er sich der Österreichischen Schule der Nationalökonomie an.

Mises promovierte 1906. Danach arbeitete er zunächst als Rechtsanwalt in Wien. 1909 wurde er Mitarbeiter der Wiener Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie. Für sie war er bis 1934 beruflich aktiv und blieb ihr bis 1938 verbunden. 1912 erfolgte die Habilitation an der Universität Wien. Während Mises seinen Lebensunterhalt mit seiner Kammertätigkeit bestritt, wo er primär mit wirtschaftspolitischen Stellungnahmen zu aktuellen Fragen beschäftigt war, lehrte er zunächst – von 1906 bis 1912 – in einem Abiturientenkurs für Mädchen an der Wiener Handelskammer und dann – mit Unterbrechung durch Kriegsdienst – an der Universität Wien, seit 1913 als unbezahlter Privatdozent, seit 1918 als unbezahlter (außerordentlicher) Professor. 1934 emigrierte er aus Österreich in die Schweiz und wechselte nach Genf, wo er eine bezahlte Professur am Institut universitaire de hautes études internationales innehatte. 1940 emigrierte er – 59 Jahre alt – in die USA. Von 1945 bis 1969 unterrichtete er als ein aus Drittmitteln finanzierter Professor an der New York University. Mises starb am 10. Oktober 1973 im hohen Alter von 92 Jahren.

Um die Leistung des Lebenswerks richtig einschätzen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass Ludwig von Mises zwischen 1906 und 1934 und dann nochmals zwischen 1940 und 1945 seine wissenschaftlichen Publikationen als Privathobby im Nebenberuf, mit dem Status eines unbezahlten Freizeitforschers, verfassen musste. Dies gilt namentlich für die Bücher: angefangen von der Habilitation zur „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel“ (1912) über die Studie zu „Nation, Staat und Wirtschaft“ (1919), die monumentale Schrift „Die Gemeinwirtschaft“ (1922) und die schlanke Schrift über „Liberalismus“ (1927) bis hin zur Studie über die „Grundprobleme der Nationalökonomie“ (1933). Gleiches gilt für die beiden Bücher „Omnipotent Government“ (1944) und „Bureaucracy“ (1944), die Mises unter finanziell prekären Bedingungen in den USA verfasst hat. Nur folgende Bücher hat Mises als hauptberuflicher Forscher schreiben können: zum einen – noch in Genf – seine „Nationalökonomie“ (1940), die er später zu „Human Action“ (1949) ausgearbeitet hat; des weiteren „The Anti-Capitalist Mentality“ (1956), „Theory and History“ (1957) sowie „The Ultimate Foundation of Economic Science“ (1962). Der Vollständigkeit ist darauf hinzuweisen, dass die 1940 in den USA unter schwierigen Bedingungen verfasste Autobiographie erst posthum als „Erinnerungen“ (1978) erschienen ist.

Ebenfalls vor Augen führen muss man sich, dass Mises Zeit seines Lebens die Anerkennung als Professor – insbesondere die Anerkennung seiner Universitätskollegen – weitgehend versagt geblieben ist: Dies gilt zum einen für die Wiener Periode. Mises hat sehr darunter gelitten, nicht als ordentlicher Professor auf einen Lehrstuhl berufen worden zu sein. Die Lehrstuhlinhaber unter seinen Kollegen hielt er für nicht einmal mittelmäßig, was er sie wohl auch wissen ließ. Sie revanchierten sich dann damit, seine Studenten zu drangsalieren. Mises berichtet, dass es große Schwierigkeiten gab, wenn man als Teilnehmer seines Universitätsseminars eingeschrieben war oder gar als sein Schüler promovieren wollte. In der Genfer Periode litt Mises unter einer Institutsleitung, die aus offensichtlichen (und spätestens nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs möglicherweise guten) Gründen auf politische Rücksichtnahme bedacht war. Und in der New Yorker Periode hatte Mises es mit einer Universität zu tun, die ihn nie als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt hat. Übrigens gab es auch hier von offizieller Seite Warnungen an die Studierenden, an seinen Veranstaltungen nicht teilzunehmen, um sich nicht einer reaktionären Indoktrination auszusetzen.

Mises hat auf diese Ablehnung mit der Institution eines Privatseminars reagiert, zunächst in Wien, später auch in New York. Über Wien schreibt er:

„Seit 1920 pflegte ich in den Monaten Oktober bis Juni alle vierzehn Tage eine Anzahl von jüngeren Leuten um mich zu versammeln. Mein Arbeitszimmer in der Handelskammer war geräumig genug, um 20 bis 25 Personen zu fassen. Wir pflegten um 7 Uhr abends zu beginnen und um 10.30 Uhr Schluss zu machen. In diesen Zusammenkünften haben wir zwanglos alle wichtigen Probleme der Nationalökonomie, der Sozialphilosophie, der Soziologie, der Logik und der Erkenntnistheorie der Wissenschaften vom menschlichen Leben erörtert. In diesem Kreise lebte die Jüngere Österreichische Schule der Nationalökonomie, in diesem Kreise entfaltete die Wiener Kultur eine ihrer letzten Blüten.” (“Erinnerungen”, 1978, S. 64)

Ferner vor Augen führen muss man sich die Situation eines Mannes, der sehenden Auges Zeitzeuge wird, wie sich Zivilisationskatastrophen ereignen, die er für vermeidbar hält und die er – vergebens und im Klaren Bewusstsein dieser Vergeblichkeit – durch seine Arbeit aufzuhalten bemüht ist. Mises ist wie nur ganz wenige Autoren des 20. Jahrhunderts ein politischer Denker in dem Sinne, dass er seine Theoriebildung darauf ausrichtet, Antworten für die drängenden Fragen seiner Zeit zu entwickeln. Hinzu kommt, dass er diese Zeit – insbesondere die Jahre zwischen 1914 und 1945 – als Niedergang empfindet: als Auflösung der Gesellschaftsordnung. Wenn jemand zwischen seinem 33sten und seinem 64sten Lebensjahr so bittere Erfahrungen mit den politischen Verwerfungen in seinem gesellschaftlichen Lebensumfeld macht, dann hat das Konsequenzen für die Einstellung zum Leben. Hierüber hat von Mises explizit reflektiert. Er schreibt 1940 über seine geistige Verfassung nach dem ersten Weltkrieg:

„So war auch ich zu jenem hoffnungslosen Pessimismus gelangt, der schon seit langem die besten Männer Europas erfüllte. Wir wissen heute aus den Briefen Jacob Burckhardts, dass auch dieser große Geschichtsschreiber sich keinen Illusionen über die Zukunft der europäischen Kultur hingab. Dieser Pessimismus hatte Carl Menger gebrochen, und er beschattete das Leben Max Webers, der mir in den letzten Monaten des Krieges, als er ein Semester an der Wiener Universität lehrte, ein guter Freund geworden war.

Es ist Temperamentsache, wie man in Erkenntnis einer unabwendbaren Katastrophe lebt. Im Gymnasium hatte ich, dem alten Humanistenbrauche folgend, einen Vers Vergils zu meiner Devise erwählt: Tu ne cede malis sed contra audentior ito. [Weiche dem Unglück nicht, sondern trete ihm unverzagt entgegen.]… Ich wollte auch jetzt den Mut nicht sinken lassen. Ich wollte alles das versuchen, was der Nationalökonom versuchen kann. Ich wollte nicht müde werden zu sagen, was ich für richtig hielt. So beschloss ich, ein Buch über den Sozialismus zu schreiben. Ich hatte schon vor dem Kriege diesen Plan erwogen; nun wollte ich ihn ausführen.“ (“Erinnerungen”, 1978, S. 43)

Vor diesem Hintergrund wird vielleicht verständlich, warum Ludwig von Mises in seinen Schriften manchmal einen – gemessen an heutigen Usancen: unüblich und sicher oft auch unangebracht – scharfen Ton anschlägt, warum er über Personen und Sachverhalte harte Urteile fällt und sich oft unnachgiebig, besserwisserisch oder gar starrsinnig zeigt: Mises changiert als Person über Jahrzehnte hinweg zwischen tapferem Kampfesmut und tiefstem Pessimismus.

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Professor Dr. Ingo Pies ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg (http://ethik.wiwi.uni-halle.de/).

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