Ich und die anderen. Der Handelnde (das Individuum)
22. September 2025 – von Andreas Tiedtke
Im Folgenden lesen Sie einen Auszug aus dem Buch „Der Kompass zum lebendigen Leben“ (*), 2021, Kapitel II: Grundsätze der Praxeologie, Abschnitt 1: „Der Handelnde (das Individuum)“ (S. 39 – 43).
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Der Handelnde (das Individuum)
Der Handelnde ist der Einzelne (Individuum). Das Wort »Individuum« kommt von lateinisch in-dividere (nicht teilbar) und bedeutet: der Unteilbare. Sie können einen Einzelmenschen nicht teilen, ohne ihn zu zerstören. Hingegen können sie eine Gruppe teilen, ohne dass die einzelnen Mitglieder (Individuen) dadurch zerstört werden. Individuum bedeutet auch, dass ein Teilen von Geist und Körper oder von Psyche und Physis nicht möglich ist. Solange der Einzelne als Individuum lebt, sind diese strukturbestimmenden Merkmale nicht voneinander trennbar.
Der Einzelne kann natürlich auch konzertiert, also aufeinander abgestimmt und in Gruppen handeln, aber der Willensentschluss findet stets im Einzelnen statt. Eine Gruppe von Menschen kann keinen Willensentschluss tätigen. Alle Mitglieder einer Gruppe können denselben Willensentschluss fassen, aber es sind stets die Einzelnen, die handeln, auch wenn sie zusammen handeln.
Kooperation und Korporationen – konzertiertes Handeln
Nicht zum Handeln fähig sind geistige Gebilde wie Korporationen (Körperschaften) oder die Gesellschaft, sondern nur die Einzelnen. Die Menschen arbeiten mit einer Metapher, wenn sie sagen, die A-AG hat etwas gekauft oder verkauft oder produziert. In der Juristerei bedient man sich der juristischen Fiktion der Korporation (Körperschaft), spricht von den »Organen« der Gesellschaft, so wie der Mensch Organe hat, nennt sie »Körperschaft«, so wie der Mensch einen Körper hat, aber in Wirklichkeit haben die A-AG oder die B-Republik keinen eigenen Körper und keine Organe, sondern es sind Einzelne (Individuen), die sich zum gemeinsamen Handeln unter dem Namen (A-Firma, B-Republik) verbunden haben, die einen gemeinsamen Handlungsplan verfolgen. Solche Handlungspläne werden niedergeschrieben in Gesetzen, Statuten, Verträgen oder mündlich verabredet. Die Einzelnen arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin, das wiederum in Unterziele strukturiert ist. Solche Körperschaften haben keine Lebenszeit, auch wenn sie viele Menschen geistig wie ein Lebewesen behandeln, so sind sie doch ein geistiges Gebilde und in der unmittelbaren Realität werden sie nur durch das Handeln von Einzelnen wirksam. Es sind immer Menschen aus Fleisch und Blut, die handeln, nie geistige Gebilde.
Anthropomorphismus (Vermenschlichung) und Hypostasierung (Gedanke und Realität)
Die einzigen Wesen, die menschliches Handeln ausführen können, sind einzelne Menschen – auch zusammen oder gegeneinander, aber es sind stets Menschen aus Fleisch und Blut. Wir verwenden in unserer Sprache oft sogenannte Anthropomorphismen (Vermenschlichungen) und schreiben unbelebten Gegenständen oder geistigen Gebilden eine unmittelbare Wirklichkeit zu, als wären sie handelnde Menschen. So schrieben unsere Vorfahren zum Teil dem Mond oder der Sonne solche Eigenschaften zu. Überall sah man einen handelnden Geist am Wirken, im Regen, in den Winden, in der Natur. Die Menschen kommunizierten mit den Göttern (Geistern) der Natur, sie beteten, opferten und fürchteten diese Geister. Es liegt also sehr lange schon in der menschlichen Natur, der unbelebten oder belebten Natur wie auch geistigen Gebilden, die keine unmittelbare Realität haben, eine menschliche Eigenschaft zuzuschreiben, nämlich das Handeln.
Anthropomorphismen können die Sprache und den Rechtsverkehr erleichtern, wenn man beispielsweise sagt, die A-Firma hat etwas gekauft, anstatt die Gruppe um Herrn B, die unter dem Namen A-Firma handelt. Man kann in Verträgen vereinbaren, dass man miteinander so umgeht, als verträten die handelnden Einzelnen eine »fiktive« Person (juristische Person, Rechtsperson), und man kann in diesem Zusammenhang auch Vereinbarungen zur Haftung etc. treffen. Aber Anthropomorphismen bergen auch die Gefahr der Hypostasierung, also einem geistigen Gebilde eine unmittelbare Wirklichkeit zuzuschreiben, die es nicht hat. So denken manche Menschen zum Beispiel vom Staat als einem »höheren Wesen«. Dies ist im Sprachgebrauch so alltäglich geworden, dass man oft vergisst, dass der Staat aus Einzelnen (Individuen) besteht, die unter dem Begriff »Staat« gemeinsame Handlungspläne verfolgen. Der Staat ist kein Wesen aus Fleisch und Blut mit einem Nervensystem, sondern ein Konzept. Es wird davon gesprochen, dass der A-Staat dies und das getan hat, dass Deutschland hier oder dort einen Militäreinsatz führte, dass Deutschland so und so alt sei, als ob es sich um einen Organismus aus Fleisch und Blut handelte.
Auch wenn Menschen von einem Gott wie von einem handelnden Wesen denken, handelt es sich hierbei um einen Anthropomorphismus, weil sie von Gott wie von einem Menschen denken, der handelt. Handeln widerspricht aber den Vorstellungen, die sich Menschen ansonsten von Gott machen, nämlich dass er ein allmächtiges und allwissendes Wesen sei. Von einem solchen Wesen kann aber nicht als einem handelnden Wesen gedacht werden. Denn für wen die Zukunft nicht ungewiss ist, der handelt nicht, weil ihm alles künftige Wählen bereits bekannt ist und es daher keinen Raum mehr gibt, aktuell zu wählen. Darüber hinaus bräuchte ein allmächtiges Wesen nicht immer wieder handeln, um seine Unzufriedenheit zu vermindern, sondern müsste mit einem Male endgültige Zufriedenheit erreichen können; könnte er dies nicht bewirken, wäre er nicht allmächtig. Die Vorstellung eines »handelnden Gottes« ist also mit dem, was die Menschen ansonsten von Gott annehmen, nämlich Allmacht und Allwissen, nicht vereinbar.
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J. R. R. Tolkien, der Autor der Epen Der Herr der Ringe und Der Hobbit, erkannte die mit der Hypostasierung und dem Anthropomorphismus verbundenen Denkfehler:
»Ich würde jedermann verhaften lassen, der das Wort Staat benutzt, als handele es sich um etwas anderes als den unbelebten Bereich der Erdoberfläche, der England genannt wird«, meinte Tolkien.[1] England verfüge als ein Teil der Erdoberfläche weder über Macht noch über Rechte oder einen Verstand. Tolkien erkennt also bereits, dass nicht Länder, sondern Menschen handeln. »Und nach der Verhaftung würde ich ihm die Möglichkeit geben, zu widerrufen. Falls er nicht widerriefe und widerspenstig weiter vom Staat [als wie von einem handelnden Wesen] redete, würde ich ihn exekutieren.«
Wenn wir zurückkämen zu persönlichen Namen, würde das viel Gutes bewirken, so Tolkien weiter. Er weist darauf hin, dass nicht »die Regierung« handelt, sondern es Menschen sind, die unter dem Namen Regierung handeln. »Wenn die Leute gewohnheitsmäßig von König Georg und seinen Ratgebern sprächen, von Winston und seiner Bande, würde das viel dazu beitragen, das Denken von Verklärung zu befreien.« Und es würde das schreckliche Abrutschen in den Kollektivismus (Theyocracy) bremsen.
Tolkien hält dafür, dass sich ein korrektes Studium der Menschheit ausschließlich mit den Menschen zu befassen habe. »Und die unpassendste Beschäftigung für jedweden Menschen, selbst für Heilige (die wenigstens eine solche Beschäftigung am allermeisten ablehnen müssten), ist es, andere Leute herumzukommandieren.« Kein einziger unter Millionen sei hierzu geeignet, und am wenigsten diejenigen, die danach strebten.
Anthropomorphismen sind der ältere Teil menschlichen Denkens und Fühlens, sie sind lange vor der Aufklärung und dem Lobpreis der Vernunft in unserer Phylogenese (Stammesgeschichte) vorhanden gewesen, und sie begegnen uns in der Ontogenese (Entwicklungsgeschichte der Einzelnen) der Kinder, die unbelebte Gegenstände wie belebte behandeln: Spielsachen, Puppen, Teddybären. Doch manche ihrer Eltern gehen fehl in der Annahme, sie hätten diese Entwicklung gänzlich »überwunden«, nur weil ihre »Übertragungsobjekte« nicht mehr Puppen oder Stoffbären sind, sondern geistige Gebilde wie Staaten, Völker oder Nationalmannschaften, denen sie ein Person-Sein zuschreiben. Wir sind es so gewohnt und trainiert, in diesen Anthropomorphismen zu denken und zu reden, dass uns Denkfehler verborgen bleiben, die hiervon herrühren. Es gibt keine Nationalmannschaft als Person, die vier Weltmeisterschaften gewonnen hat, sondern es waren jeweils unterschiedliche handelnde Personen auf dem Spielfeld, und dass sie unter einem gemeinsamen Namen aufgetreten sind, wie etwa »Deutsche Nationalmannschaft«, macht sie eben nicht zu einer handelnden Person, auch wenn der Einzelne auch einen Namen hat.
Nur weil etwas einen Namen hat, heißt das nicht, dass es in der Realität ein Objekt oder Subjekt gibt, das Träger dieses Namens ist. Das wissen Sie von Einhörnern und dem Weihnachtsmann. Und das ist ebenso bei anderen geistigen Gebilden, denen wir einen Namen geben. Es gibt keine sympathischen Städte, großen Nationen, mächtige Staaten in dem Sinne, dass es handelnde Wesen wären. Tatsächlich handeln Einzelne, Menschen aus Fleisch und Blut. Und es sind die Churchills und Merkels, die Entscheidungen treffen, nicht die Krone von England oder die deutsche Bundesregierung.
Wenn Sie in eine große Stadt wie New York oder London kommen, wenn Sie einen Flugzeugträger sehen oder den Eiffelturm oder die Moskauer Metro, dann bekommen Sie vielleicht den Eindruck, hier sei »Übermenschliches« am Werk gewesen, vielleicht gar Göttliches oder – aktueller – ein »Staat«. Und sicher: Solche Leistungen übersteigen das Vermögen jedes Einzelnen. Nur in der Kooperation und über viele Generationen sind solche Werke herstellbar, und es gab auch keinen Masterplan, den ein einzelnes Wesen gehabt hätte, um solche Werke herzustellen, sondern die Handlungen unzähliger Menschen über lange Zeiträume ließen sie entstehen. Flughäfen, Kreuzfahrtschiffe, die Raumfahrt – es ist erstaunlich, wozu die Menschen fähig sind. Kein Einzelner kann solches schaffen, aber viele Einzelne zusammen über lange Zeiträume schaffen es, und sie haben es geschafft, auch ohne dass ein übermenschliches Wesen auf die Erde gekommen wäre, um ihnen dabei zu helfen.
»Öffentliches« und »privates« Handeln
Anthropomorphismen und Hypostasierungen (Übertragung einer Vorstellung in die aktuelle Welt) sind häufig in öffentlichen und politischen Debatten anzutreffen. Manche Menschen reden über den »Staat« und den »Markt«, als wären dies zwei unterschiedliche Wesen. In Wirklichkeit sind es stets Einzelne, die handeln, aus Fleisch und Blut. Dem Markt unterstellen manche Diskutanten eine Gewinnabsicht, als ob die Einzelnen, die unter dem Namen Staat handelten, keine Gewinnabsicht hätten, also nicht versuchten, durch ihr Handeln ihre Zufriedenheit zu vermehren. Es gibt Unterschiede zwischen einem politischen Unternehmer und einem nichtpolitischen Unternehmer beim zwischenmenschlichen Handeln, und diesen Unterschieden werden wir uns später ausführlich widmen. Ob eine Aufgabe, etwa der Bau einer Straße oder eines Kindergartens oder eines Wasserwerkes, »öffentlich« oder »privat« erledigt werden soll, ist keine Frage, welches Wesen handelt, der Staat oder der Markt, sondern wie die Einzelnen, die diesen Bau organisieren, sich die Mittel hierzu beschaffen. Ob mit Befehl, Drohung und Zwang – oder im unbehinderten Austausch mit anderen.
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[1] Kiely, W. (2012). The Letters of J.R.R. Tolkien – From a letter to Christopher Tolkien [from his father J.R.R. Tolkien] 29 November 1943. Peace Requires Anarchy
Dr. Andreas Tiedtke ist Rechtsanwalt, Autor und Redakteur. Er publizierte bereits zahlreiche Artikel zur Österreichischen Schule der Nationalökonomie und deren wissenschaftlicher Methode, der Praxeologie (Handlungslogik). Im Mai 2021 erschien sein Buch über die Logik des Handelns „Der Kompass zum lebendigen Leben“(*). Im Jahr 2022 wirkte er an dem Buch „Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz“ (Herausgeber: Olivier Kessler, Peter Ruch) mit, zu dem er im 1. Kapitel den 1. Abschnitt beitrug: „Mit welchen wissenschaftlichen Methoden zu welcher Erkenntnis?“. Zudem schreibt er Kolumnen für die Online-Magazine Freiheitsfunken und Der Sandwirt.
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