Die Ente Rente. „Wir schulden der Gemeinschaft etwas!“
Kurz-Analyse eines deutschen Glaubenssatzes
5. Dezember 2025 – von Adrian Pfranger
Der Satz „Wir schulden der Gemeinschaft etwas“, fiel beiläufig – im Kontext einer Diskussion über die Rentenpolitik. Die Junge Union solle den Kurs des Kanzlers Merz unterstützen, sagte mein Gegenüber. Warum? Weil „die Jungen den Alten die Rente schulden“. Denn: „Wir sind eine Gemeinschaft!“
Der Gesprächspartner und ich mussten das Gespräch aus Zeitgründen abbrechen, doch der Satz verfolgt mich seitdem. Denn auch wenn dieser Halbsatz fast beiläufig erwähnt wurde, kann vor dessen Tragweite nicht genug gewarnt werden. Dieser Glaubenssatz ist ein Dogma, der die deutsche politischen Debatte beherrscht und vor sich hertreibt.
Ein Glaubenssatz der deutschen Staatsmoral, des Etatismus, mit dem seit Jahrzehnten immer mehr staatliche Aufgaben, Ausgaben und Abhängigkeiten begründet werden. Ein Glaubenssatz, der erklärt, warum Deutschland so hartnäckig gegen Freiheit, Marktwirtschaft und Eigenverantwortung immunisiert wurde und wird – und warum die „Milei’sche Wende“ in Deutschland wohl auch in der näheren Zukunft noch ausbleiben wird. Dieses Dogma muss mit klaren Worten entzaubert werden: Die, die ihr an dieses Dogma glaubt, wurdet und werdet verarscht![1]
Kurzanalyse: Drei Begriffe, drei Illusionen
Der Satz lässt sich zerlegen in drei Begriffe:
1. „Wir“
2. „die Gemeinschaft“
3. „schulden“
Jeder dieser Begriffe ist für sich harmlos – im Verbund erzeugen sie einen politischen Zauberspruch, der jeden Zwang scheinlegitimieren kann.
1. Wer ist „Wir“? – Die kollektive Nebelgranate
„Wir“ ist ein Personalpronomen der ersten Person Plural und wird verwendet, um sich selbst und mindestens eine andere Person oder Gruppe von Personen mit einzuschließen. Politisch wird es – im deutschen Kontext besonders – zur Anrufung eines Kollektivs, das der Sprecher einfach voraussetzt, verwendet.
Im Gespräch meinte der Sprecher mit „wir“ offenbar:
– mich,
– sich selbst,
– die gesamte deutsche Bevölkerung und
– vermutlich auch jene, die wählen dürfen, zahlen müssen, funktionieren sollen.
Damit beginnt das erste Wort bereits mit einer Hypostasierung:
– „Wir“ bzw. Kollektive handeln nicht.
– Nur Individuen handeln.
Ludwig von Mises (1881 – 1973) betonte dies unermüdlich. Kollektive handeln nicht: nicht „das Volk“, nicht „die Bevölkerung“, nicht „die Gemeinschaft“. Einzig der Mensch handelt.
Nur der Einzelne selbst kann Verpflichtungen eingehen. Diese entstehen auch nur durch eine aktive Entscheidung. Ein mystisches „Wir“, das moralische oder ökonomische Verpflichtungen eingegangen ist oder eingeht, existiert nicht. Das politische „Wir“ ist ein rhetorischer Trick. Das „Wir“ soll klarmachen, dass du und der Gesprächspartner in einem Team seid. Das suggeriert ein Vertrauensverhältnis: Wenn wir in einem Team sind, will er mir sicher nichts Schlechtes.
2. Wer ist „die Gemeinschaft“? – Die große Hypostasierung
Der Begriff „Gemeinschaft“ wird so verwendet, als gäbe es dieses Wesen tatsächlich:
– unabhängig von uns,
– über uns und
– mit Ansprüchen an uns.
Wikipedia nennt Gemeinschaft eine „überschaubare soziale Gruppe mit Wir-Gefühl“. Doch im politischen Sprachgebrauch bedeutet „Gemeinschaft“ etwas anderes:
Eine abstrakte Entität, die wie ein eigener Akteur behandelt wird.
Dies ist exakt das, was Mises Hypostasierung nannte: Dass einem geistigen Gebilde eine unmittelbare Wirklichkeit zugeschrieben wird, wie Andreas Tiedtke es in „Der Kompass zum lebendigen Leben“ (*, S. 40) definierte.
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Im vorgenannten Gespräch wurde klar, dass „Gemeinschaft“ sogar historische Leistungen umfasst, etwa:
– Straßen, die die Vorfahren errichteten.
– Brücken, die von anderen errichtet wurden.
– „Errungenschaften“ früherer Generationen.
Plötzlich wird die Gemeinschaft zu einem metaphysischen Kollektiv konstruiert, das über Zeit und Raum hinweg wirkt – und dem die Lebenden, das „Wir“, etwas schulden sollen. Plötzlich spielt sich die Gemeinschaft nicht mehr in der Gegenwart ab. Die Gemeinschaft der Vergangenheit schaffte Voraussetzungen für die Gemeinschaft der Gegenwart. Dieser ist man nun qua Geburt verpflichtet.
3. Was bedeutet „schulden“? – Der Begriff als moralische Waffe
Eine „Schuld“ entsteht handlungslogisch nur infolge einer Vereinbarung: Eine Person schuldet einer anderen Person eine Leistung, basierend auf einem freiwilligen Vertrag.
Außerhalb dieser Kategorie gibt es nur Zwang, Erpressung oder ideologische, fiktive Schuldgefühle. Im politischen Diskurs ist eine Mischform aller drei genannten Beispiele möglich. Eine politische gewollte Position wird in eine moralische, ideologische Schuld verwandelt. Aus der „Schuld gegenüber den Alten“ wird rhetorisch ein „Generationenvertrag“ gebastelt, welcher ein gesetzliches Rentensystem, also Zwang, legitimieren soll. Der Arbeitende kann sich grundsätzlich nicht aussuchen, ob er die Beiträge in die gesetzliche Rente zahlt oder nicht.
Das Dogma „Wir schulden der Gemeinschaft etwas“ ist eine Art Generalklausel, ein Blankoscheck, eine rhetorische Allzweckwaffe zur Scheinlegitimierung staatlicher Machtausübung. Dabei benennt der Satz weder Inhalt oder Umfang der Schuld noch einen konkreten Gläubiger oder eine Vertragsgrundlage, der man zustimmte.
Die gefährliche Macht dieses Satzes
Warum ist der Satz so gefährlich? Weil er, wie erwähnt, grenzenlose politische Ansprüche scheinlegitimiert. Gehen wir hierfür einige Beispiele durch:
– Rentensystem: Die Schuld der Gemeinschaft gegenüber ihren Älteren scheinlegitimiert ein gesetzliches Rentensystem, das einen Großteil der Arbeitenden zu Abgaben in die Rentenversicherung zwingt. In der aktuellen politischen Debatte führt diese Schuld zur „Rechtfertigung“ der Verabschiedung eines Rentenpakets mit zusätzlichen 120 Milliarden Kosten. „Wir schulden das den Alten!“
– Krankenversicherungssystem: Die „Solidargemeinschaft“, die ebenso auf dem genannten Dogma basiert, scheinlegitimiert ein gesetzliches Krankenversicherungssystem, das ebenso zu monatlichen „Sozial“-Abgaben zwingt: „Wir haben eine solidarische Pflicht.“
– Einführung der Wehrpflicht: Wenn die Jüngeren den Älteren die Rente schulden, wenn wir aufgrund der „Solidarität für unsere Gemeinschaft“ ein gesetzliches Krankenversicherungssystem unterhalten müssen, dann ist der Einsatz des eigenen Körpers für „das eigene Land“ nur eine logische Folge. Die Wehrpflicht wird – so meine Einschätzung – kommen, denn schließlich schulden wir es unserer Gemeinschaft. Wenn der Russe unser Land angreifen möchte, so müssen wir für unsere Gemeinschaft dem Russen zuvorkommen und ihn angreifen. Im politischen Diskurs wird diese Logik in naher Zukunft wohl zur Ausweitung der individuellen Schuld führen: Zur „Pflicht“ des Einzelnen, für das eigene Land zu den Waffen zu greifen.
– Steuererhöhungen & Kreditaufnahmen: „Wir müssen solidarisch sein!“ Wir schulden unserer Gemeinschaft sichere, gut ausgebaute Straßen. Aus diesem Grund müssen wir die Steuern erhöhen, Kredite aufnehmen, um „unserer Zukunft“ eine gut ausgebaute Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich führte dieses Dogma dazu, dass der Deutsche Bundestag mit einer Grundgesetzänderung die Schuldenbremse für solche Fälle (Infrastruktur u.a.) aussetzte. An dieser Stelle wird deutlich, dass unsere gegenwärtige Politik dafür sorgt, dass die zukünftigen Bürger Deutschlands tatsächlich unserer vorangegangenen Generation etwas schulden: Die Abbezahlung jener Schulden, die „wir“ in der Gegenwart im Namen unserer Solidargemeinschaft aufnehmen – zu Lasten der zukünftigen Generation, die die Ressourcen möglicherweise lieber anders verwenden würden.
– Enteignungen: Art. 14 Grundgesetz schützt das Eigentumsrecht. Gleichzeitig gewährt die Schranke nach Absatz 2 Eingriffsmöglichkeiten, wonach Eigentum verpflichtet und der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Mit dem Erstarken der sozialistischen Politik, die nun auch die CDU/CSU erreichte, ist bereits absehbar, dass aus der „Schuld für die Gemeinschaft“ Enteignungen im großen Stil gerechtfertigt werden könnten. Nach Helmut Kohl haben wir den Sozialismus ohnehin bald erreicht: „Bei einer Staatsquote von über 50 Prozent beginnt Sozialismus“. Die derzeitige Staatsquote in Deutschland liegt „offiziell“ bei 49,5 %.
Das Dogma macht aus rund 84 Millionen Menschen eine Schulden-Gemeinschaft. Der Einzelne konnte dem Beitritt zur Schulden-Gemeinschaft weder zustimmen, noch seine Ablehnung formulieren. Mit seiner Geburt ist der Einzelne der Gemeinschaft zur Schuld verpflichtet. Andreas Tiedtke hat diesen psychologischen Mechanismus präzise beschrieben:
Diejenigen, die diese Schuld internalisieren, sind die „Gestockholmten“ – die freiwilligen Geiseln eines ideologischen Schuldverhältnisses, die ihren Beitrag „für das Gemeinwohl“ gerne leisten.
Die Politiker, die diese Schuld einfordern, spielen die „Erlöser“ (*): Sie nehmen die Rolle des Gläubigervertreters ein und sind überzeugt davon, dass andere ihnen etwas schulden. Sie bestimmen und verwalten die Schuld nach eigenem Gusto.
Dieses Dogma braucht beide Seiten, die Schuldigen, und die Gläubiger. Und dabei nehmen sie alle anderen in Mithaftung.
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Ihr werdet verarscht! [1]
Es ist Zeit für eine Zäsur. Dieses Dogma – „Wir schulden der Gemeinschaft etwas“ – ist nichts weiter als eine leere Phrase. Schuld ist individuell. Schuld ist konkret. Schuld ist begrenzt. Schuld kann nicht unendlich ausgeweitet werden. Jeder, der etwas anderes behauptet, betreibt Propaganda.
Sagen wir also, wie es wirklich ist: Ihr (die ihr von dem Dogma überzeugt seid) wurdet verarscht.[1] Euer ganzes Leben lang hat euch die Politik eingeredet, dass ihr im Alter versorgt sein werdet. „Die Rente ist sicher.“ „Die Gemeinschaft kümmert sich.“ „Ihr bekommt zurück, was ihr einzahlt.“ Das war alles gelogen. Die Rente ist nicht sicher – und das wird jetzt immer deutlicher: Ihr wurdet verarscht.
Und jetzt wollt ihr, die ihr jahrzehntelang verarscht wurdet, dass ich mich auch verarschen lasse? Dass ich – wider besseres Wissen – in ein kaputtes System einzahlen soll, nur damit ihr eure Illusion behalten könnt? Damit ich später von der nächsten Generation verlangen muss, dass sich diese nun verarschen lässt? So wie ihr von eurer Vorgängergeneration belogen wurdet. Es ist ein Teufelskreis von Verarschenden und Verarschten.
Doch dieser Kreislauf endet zu einem bestimmten Zeitpunkt – freiwillig oder zwangsweise. Entweder durch bewussten Bruch oder durch die faktische Insolvenz des Systems. Doch wer zahlt die Zeche? Ich finde, es ist nur fair, dass diejenigen, die an die Schuld geglaubt haben, das Insolvenzrisiko dieser Lüge tragen müssen. So viel Konsequenz muss sein. Ich, für meinen Teil, möchte da nicht mitmachen. Denn wer sich heute verarschen lässt, muss morgen die nächste Generation dazu zwingen, sich verarschen zu lassen. Und das lehne ich ab.
[1] Wem das Wort „verarschen“ zu vulgär ist, der sei darauf hingewiesen, dass Johann Wolfgang von Goethes (1749 – 1832) bekannte Figur Götz von Berlichingen im gleichnamigen Drama (1773) sich mit dem sogenannten „Schwäbischen Gruß“ einer weitaus delikateren Metapher betreffend jenes Körperteil bediente und Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1991) diesen Ausdruck sogar als Titel für einen sechsstimmigen Kanon (1782) verwendete.
Adrian Pfranger studierte in Regensburg Rechtswissenschaften (1. Staatsexamen). Derzeit ist er als Jurist in einer Kanzlei beschäftigt. Seit 2022 veröffentlicht er Artikel über seinen Blog auf Substack.
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