Ist freie Landwirtschaft möglich?
13. September 2024 – von Kristoffer Mousten Hansen
In unserer industrialisierten Gesellschaft hat die Landwirtschaft immer noch eine Sonderrolle. So finden viele Menschen, dass Unterstützung für den Bauern wichtig und gerecht ist. Das sahen wir Anfang des Jahres, als deutsche Bauern gegen Steuererhöhungen protestierten und mit Plakaten wie „Bauernstand ist Ehrenstand“ und „Stirbt der Bauer, stirbt das Land“ freundliche Zustimmung gewannen, und das sehen wir allgemeiner an den enormen Subventionen, die die EU mittlerweile den Bauern zufließen lässt.
Diese Sonderrolle scheint auf zwei Ideen zu beruhen:
Erstens produziert die Landwirtschaft Nahrungsmittel für das ganze Volk und es ist deswegen notwendig – oder zumindest wünschenswert – einen selbständigen Bauernstand zu erhalten.
Zweitens hat das ländliche Leben für viele einen besonderen, romantischen Reiz – auch wenn die meisten es nur aus dem Urlaub kennen. Jeder, der auf dem Land aufgewachsen ist, würde aber wahrscheinlich zustimmen, dass ein Hof auch in der Tat und nicht nur in den romantischen Vorstellungen entwurzelter Großstädter meistens ein schönes Leben bietet.
Also sind ein selbständiger Bauernstand und eine versorgungssichere regionale Landwirtschaft wünschenswert. Die Agrarpolitik europäischer Länder und der EU, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg, ist darauf ausgerichtet, diese zwei Ziele zu erreichen und zu sichern. Die Frage, die wir in diesem Artikel zu beantworten versuchen, ist, ob nicht eine freie Landwirtschaft besser wäre – also ohne Subventionen und Vorgaben, bei der die Bauern genau denselben Marktbedingungen unterlägen wie alle anderen Produzenten. Die Leser von Misesde.org werden hoffentlich nicht überrascht, wenn wir diese Frage mit „Ja!“ beantworten. Die ökonomische Theorie und die historischen Erfahrungen europäischer Landwirtschaft zeigen, wie das geht.
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Arbeitsteilung und Spezialisierung auf dem Land
Wenn wir in der Theorie und Geschichte der Landwirtschaft nachforschen, werden wir sehen, dass regionale Selbstversorgung klar eine Chimäre ist, ein falsches Ziel. Nur unter primitiven Umständen, wo jeder Bauer für sich produziert und wo der Markt nur eine marginale Rolle spielt, könnte man von eigentlicher Selbstversorgung sprechen. Wenn die Wirtschaft fortschreitet – das heißt vor allem: wenn Kapitalbildung stattfindet –, wird die Agrarwirtschaft sich auch ändern. Die Produktion steigt und der einzelne Hof kann jetzt ein größeres Umfeld, eine größere Gruppe versorgen. Es wird jetzt möglich, dass mehr Arbeiter sich in nichtländlichen Berufen spezialisieren, was wiederum bedeutet, dass mehr Güter produziert werden.
Kapitalbildung und Spezialisierung bedeuten aber nicht bloß, dass die Landwirtschaft effektiver wird – dass beispielsweise eine größere Menge Getreide pro Hektar produziert wird. Die Nachfrage nach einfachen Lebensmitteln ist immerhin sehr stabil und wächst nur mit dem Bevölkerungswachstum, und das Angebot muss deswegen auch nur mit derselben Rate wie die Bevölkerung wachsen. Die Bauern werden also nicht blind Kapital in Getreideproduktion investieren, sondern folgen demselben Gesetz wie alle anderen: dem Ricardo’schen Vergesellschaftungsgesetz (Mises, Nationalökonomie, S. 126). Ein Bauer wird überlegen, wie er den besten Preis und den größten Gewinn erzielen kann. Das heißt auch: Er überlegt, wo seine eigenen Kosten am niedrigsten sind. Der eine wird so seine Viehhaltung erweitern, ein anderer Weinstöcke anpflanzen, ein dritter bleibt bei Weizen.
Die unternehmerischen Entscheidungen sind von menschlichen und natürlichen Faktoren beeinflusst. Manches Ackerland ist zum Beispiel sehr ertragreich, ohne dass man viel investieren muss, und wird deswegen für Getreide verwendet; anderes ist marginal, heißt, man müsste viel Arbeit investieren, um dort Getreide zu produzieren. Solches Land lässt man dann für Vieh. Manches Land ist hervorragendes Ackerland, aber wird doch nicht für landwirtschaftliche Zwecke verwendet, weil eine andere Anwendung wertvoller ist. Großstädte wie Paris und London sind so auf gutem Ackerland gebaut.
Dies alles zeigt: Regionale Selbstversorgung ist meistens unvereinbar mit einer hochentwickelten Landwirtschaft. Manche Regionen werden hauptsächlich Getreide produzieren, um den größten Teil zu exportieren. Andere Regionen oder ganze Länder werden sich auf Weinbau oder Viehhaltung oder etwas anderes spezialisieren – und so nicht selbstversorgend sein. Das heißt natürlich nicht, dass zum Beispiel in Italien nur Wein produziert wird. Überall wird es eine Mischung von Produkten/Gütern geben, je nachdem, wie hoch oder niedrig der Preis und die Kosten sind und damit der Gewinn der verschiedenen Nutzungen des einzelnen Hektars Ackerland.
Die historischen Erfahrungen der europäischen Landwirtschaft bestätigen diese theoretische Skizze (alle Daten aus P. Bairoch, L’agriculture des pays dévéloppés, 1800 à nos jours: production, productivité, rendements. Paris: Economica, 1999). Im 19. Jahrhundert war, mit der Ausnahme von Österreich-Ungarn, kein europäisches Land mit Getreide selbstversorgend. Korn wurde aus Russland und Amerika eingeführt, weil die Produktionskosten dort viel niedriger waren als in Europa. Das heißt natürlich nicht, dass es in Europa keine Landwirtschaft gab. In Frankreich war zum Beispiel der Weinbau viel dominanter als heute und ein ausgeprägt landwirtschaftliches Land wie Dänemark war in Vieh- und Schweinezucht spezialisiert. In Ländern wie Großbritannien, Belgien und Holland war die Selbstversorgungsrate zwischen 30 und 50 %. Auch hier gab es natürlich immer noch Bauern. Diese produzierten nicht Getreide, weil eine andere Produktion hochwertiger war, wie Tulpengärten oder Pferdezucht.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war die europäische Landwirtschaft im Großen und Ganzen frei und kapitalistisch organisiert. Das Ergebnis war ein vielfältiges bäuerliches Leben überall in Europa, obwohl kein einziges Land autark war. Erst seit dem Weltkrieg setzte eine Veränderung ein, durch Agrarpolitik und Fiat-Geld gefördert, die das ländliche Leben weitgehend zerstörte durch die Konzentration des Ackerlandes in weniger und größeren Betrieben (mehr dazu in meiner Doktorarbeit, Monetary Systems and Industrial Organization: The Case of Agriculture, Angers Universität: 2021, Kapitel 6-7, 9).
Qualität und Autarkie
Eine entwickelte, kapitalistische Landwirtschaft ist also nicht autark. Im Gegenteil, je weiter fortgeschritten die Arbeitsteilung und Kapitalbildung sind, desto mehr muss die Landwirtschaft spezialisiert werden. Das Ergebnis ist nicht nur eine Vielfalt an Gütern, sondern auch eine höhere Qualität der Lebensmittel. Mehr Kapital und mehr Landfläche werden zum Beispiel der Fleischproduktion und der Produktion von anderen tierischen Produkten gewidmet, mehr Gemüse verschiedenster Art wird produziert, die Möglichkeiten purer ‚Luxus-Leistungen‘ wie Reitsport werden vermehrt und einem immer größeren Teil der Bevölkerung ermöglicht.
Das alles klingt schön, aber im Ernst- beziehungsweise Kriegsfall stünde man vielleicht ohne Brot da – und das Volk würde verhungern. Fürwahr, der kapitalistische Fortschritt und die internationale Arbeitsteilung bedeuten, dass wir alle mehr und mehr abhängig und weniger autark werden. Dies gilt in casu Lebensmittel genauso wie in allen anderen Bereichen des Lebens. Indes wären die Folgen ja viel schlimmer, wenn der Weltmarkt für Getreide zusammenbräche, als wenn ausländische Kinofilme nicht mehr verfügbar wären.
Wenn die Einfuhr ausländischen Getreides gestoppt wird, ist die unmittelbare Folge natürlich zunehmende Knappheit. Aber diese Folge bewirkt auch den Keim der Lösung. Wenn Knappheit die Preise nach oben treibt, müssen die Bauern neu überlegen, was die günstigste Verwendung des Ackerlandes ist. Wo sie früher spezialisierte Produkte für Export oder Luxuskonsum verkauften, lohnt es sich jetzt, mehr Lebensmittel für das eigene Land oder die eigene Region zu produzieren. Insofern als die komplementären Kapitalgüter, vor allem Dünger, Treibstoff und Arbeitskraft, verfügbar sind, können die Bauern ziemlich schnell auf eine autarke Produktion umstellen.
Diese Umstellung ist begrenzt durch deren Kosten. Zum einen werden die Bauern Kapitalverluste hinnehmen müssen. Wenn man zum Beispiel einen Weinberg in Weizenfelder umwandelt, verliert man den Kapitalwert der Weinstöcke. Nur wenn der Gewinn diesen Verlust übersteigt, will der Bauer seinen Weinberg opfern. Zum anderen bringt die Umstellung an sich Kosten mit sich. Es ist mehr Arbeit, eine Weide in ein Weizenfeld zu umwandeln, als einfach bereits bestellte Felder zu pflügen.
Diese Kosten begrenzen die Umstellung in zweierlei Weise: Wie viel Land und welche spezifischen Felder für Getreideproduktion einbezogen werden. Das heißt, nur wo der erwartete Gewinn der Getreideproduktion höher ist als die Alternativkosten, will der Bauer umstellen. Der Bauer plant und arbeitet aber so nicht zu seinem eigenen, ‚egoistischen‘ Profit. Wenn die Alternativkosten höher sind, und der Bauer deswegen nicht auf Getreideproduktion umstellt, ist das eine klare Indikation, dass eine andere Nutzung dieses Feldes einen höheren Wert hat, nicht nur für den Bauern, sondern auch für den Verbraucher und die weitere Gesellschaft.
Aktuelle und ideale Landwirtschaft
Die heutige Landwirtschaft ist weit entfernt von der hier skizzierten freien und kapitalistischen. Die Probleme, die den Bauern heute begegnen, sind das Ergebnis der Agrarpolitik. Zwar hat die europäische Agrarpolitik die Selbstversorgung Europas erreicht, aber dafür den Bauernstand weitgehend abgeschafft. Wie wir sahen, ist Autarkie sowieso nicht sinnvoll. Heute ist die Landwirtschaft sehr bürokratisch und eng von Brüssel und Berlin gesteuert, da der Bauer fast immer unter der Drohung, er kriege sonst keine EU-Mittel, den bürokratischen Vorschriften folgen muss. Hier wollen wir aber nicht weiter auf dieses Thema eingehen. Unsere Aufgabe war nur zu zeigen, dass beides zusammen möglich ist, eine freie Landwirtschaft und der Erhalt des Bauernstandes, und – wenn wünschenswert – auch die Autarkie sichergestellt werden kann. Wie man heute zu diesem Ideal kommen könnte, wäre in einem weiteren Artikel zu zeigen.
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Dr. Kristoffer Mousten Hansen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftspolitik der Universität Leipzig. Er ist außerdem Research Fellow des Mises Institute, Auburn, Alabama.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.
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