Utopia Now! Frieden und Freiwilligkeit als gesellschaftliche Zielbilder

2. Februar 2024 – von Henning Storch

Henning Storch

Im Rahmen meiner Masterarbeit im Fach Architektur stellte ich mir die Frage, ob und wie sich Utopien in der Realität bauen lassen würden. Schnell wurde deutlich, dass Utopien keine klassische Entwurfsaufgabe sind. Im Gegenteil – „Utopia“, welches sich aus dem griechischen οὐτοπία (utopía) ableitet und wörtlich „Nicht-Örtlichkeit“ oder „Nirgendwo“ bedeutet, ist bis heute tatsächlich ein Nirgendwo geblieben. Das ist Verwunderlich, da seit jeher versucht wurde, Utopien Realität werden zu lassen.

Archetyp

Prägend für den abendländischen Utopiebegriff war das 1516 von Thomas Morus (1478 – 1535) verfasste „Goldene Büchlein, […] von der besten Staatsverfassung und der neuen Insel Utopia“. Unmittelbar vor der Entstehung des Buches fand in England eine weitgehende Flurbereinigung statt. Tausende Bauern wurden von ihren Höfen vertrieben, um Platz für das Weideland großer Schaffarmen zu schaffen. Für die Betroffenen bedeutete das oft Hunger und Armut.

Zeitgleich führte die englische Aristokratie einen ausschweifenden Lebensstil. Morus nahm diese Zustände als Anlass, um mit „Utopia“ einen Gegenentwurf zu skizzieren.

Morus Utopia ist eine Insel in der neuen Welt. In Utopia existiert wirtschaftliche Knappheit. Die Bewohner sind moralisch nicht erhaben. Doch Utopia ist eine Republik. Ein Philosophenkönig wird auf Lebenszeit gewählt, kann aber bei schlechter Führung abgewählt werden. In Utopia gibt es weder Privateigentum noch ein ausgeprägtes Besitzstreben. Dennoch beteiligen sich alle Bürger Utopias tatkräftig am Wirtschaftsleben. Lebenswichtige Güter sind deshalb zur Genüge vorhanden. Luxus wird als Verschwendung geächtet und das Streben nach Vergnügen ist auf ein anständiges Maß begrenzt. Gold wird in Utopia verachtet.

Jedem, der mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie bekannt ist, dürften die sozialistischen Tendenzen in dieser Aufzählung ins Auge fallen. Für diese wurde „Utopia“ im Nachhinein von Kommunisten gefeiert. So schwärmte Ernst Bloch vom „vornehmen Kommunismus“, der von Morus „zum Anspruch aller“ gemacht würde. Er las Utopia als „das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume“[1].

Konstruktion

Umso Aufschlussreicher sind die Merkmale von utopischen Erzählungen, bei denen Morus keine Ausnahme darstellt. Jeder nennenswerte Aspekt Utopias ist die Negation eines in Morus‘ Augen existenten Missstandes. Morus nahm also die Gesellschaft 1516 als Grundlage, um seine Theorie der idealen Gesellschaft zu konstruieren. Eine Vielzahl von Autoren folgte seit Morus diesem Schema und schuf von kommunistischen Idealstaaten bis zu avantgardistischen Science-Fiction-Welten – ein ganzes Genre.

Jede Utopie verfügt dabei über Leerstellen, die Raum für die Vorstellungen des Betrachters lassen. Dies ist im Hinblick auf die Funktion von Utopien als Zielbilder sinnvoll. Leerstellen erleichtern die Identifikation mit den in der Utopie benannten Idealen und schaffen zugleich eine bessere Zugänglichkeit. Auch wird so Raum für ein Pathos gelassen, welcher bei einem übertriebenen Ausmalen der Leerstelle in banalen Kitsch umschlagen würde. Theodor W. Adorno (1903 – 1969) wurde zu diesem Punkt metaphysisch:

Es gibt in der ganzen Utopie etwas sehr tief Widerspruchsvolles. Nämlich, dass sie auf der einen Seite ohne die Abschaffung des Todes gar nicht konzipiert werden kann. Dass aber auf der anderen Seite diesem Gedanken selber, die Schwere des Todes und alles, was damit zusammenhängt innewohnt. Wo dieses nicht drinnen ist, wo die Schwelle des Todes nicht zugleich mitgedacht wird, da gibt es auch eigentlich keine Utopie. […] Und das will mir scheinen hat für die Erkenntnistheorie der Utopie eine sehr schwere Konsequenz: Dass man nämlich die Utopie nicht positiv ausmalen darf. Jeder Versuch, die Utopie nun positiv zu beschreiben, auszumalen, wäre ein Versuch über diese Antinomie des Todes hinwegzugehen und so zu reden, als ob der Tod nicht wäre. […] Das ist vielleicht der tiefste, metaphysische Punkt dafür, dass man eigentlich von Utopie nur negativ reden kann […] [2]

Es ist jedoch nicht ratsam, Adorno hier wörtlich zu nehmen. In der erschlagenden Mehrheit der Utopieerzählungen wird der Tod nicht überwunden. Selbst Morus „Utopia“, der Archetyp des Genres, würde nach Adorno nicht in die Kategorie des Utopischen fallen. In unnötig kompliziertem Ausdruck mystifiziert Adorno lediglich die Mehrdeutigkeit, die alle utopischen Erzählungen aufgrund von Leerstellen begleitet und die die methodische Simplizität in der Konstruktion des Genres verschleiern.

Scheitern

Trotz breiter Resonanz formierte sich nach der Publikation von „Utopia“ keine Massenbewegung mit dem Ziel, Morus Ideale in die Realität umzusetzen. Anders war das bei der roten Revolution von 1917, die als neuzeitliches Beispiel von „Utopia Now“ interpretiert werden kann. Bis heute ist bemerkenswert, wie sehr die Bolschewiki von marxistischen Idealen getrieben waren. Gleichheit statt Ausbeutung, Gemeinschaft statt Klasse – nichts Geringeres als Utopia sollte anstatt der Zarentyrannei entstehen. Das großmaßstäbliche Projekt des real existierenden Sozialismus – die Sowjetunion – war geboren. Doch diese Utopie scheiterte. Bereits in den ersten Monaten zeigte sich die Fratze des Totalitarismus, die bis zum Ende des Systems erhalten blieb. Lenin ging über Leichenberge, Stalin über Leichengebirge. Damit teilt sich die Sowjetunion ein Schicksal mit allen sozialistischen Experimenten, die bisher von Menschen angestrebt wurden.

Verantwortlich für das Scheitern von Utopien im Realen sind nie tragische Zufälle, versehentliche Fehlentscheidungen, die „falschen“ Entscheider oder mystische Kategorien wie „Schicksal“. Utopien scheitern stets an den inhärenten Widersprüchen der zugrunde liegenden Ideale untereinander und/oder den Widersprüchen zwischen Narrativ und anthropologischer Handlung.

So können Utopien, die als Ideale die vollkommende Freiheit und die vollkommende Sicherheit haben, nur auf dem Papier funktionieren. In der Realität schließen sich die Ideale aus – eine Umsetzung ist damit unmöglich. Sind die utopischen Ideale zwar kongruent, stehen sie aber im Widerspruch zur Logik des menschlichen Handelns, so sind sie auf das Papier, dem keine menschliche Handlung innewohnt, verbannt. Besonders absurd sind jene Utopien, welche genuin misanthrope Ideale wie z.B. die „Gleichheit“ eingeschrieben haben. Da das Leben die Menschen ungleich macht, würden diese in der Realität umgesetzt zum Tod der Menschen führen, denen die Utopie dienen soll.

Die spießbürgerliche Auffassung, die das Utopische dem Irrealen und dem Traumtanzen gleichstellt, geht vermutlich auf die Liste dieser Widersprüche zurück. Doch hat der Spießbürger damit Recht? Ist das Scheitern im Realen das zwangsläufige Schicksal alles Utopischen?

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Freiheit gibt es nicht umsonst. Sie muss immer wieder neu errungen und bewahrt werden

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Theorie 

Auch Ernst Bloch (1885 – 1977) stellte fest, dass keine Utopieerzählung je gänzlich und im Sinne der intendierenden Utopisten Wirklichkeit geworden ist. In seinen Auseinandersetzungen warb er für die Rehabilitation des Utopischen. Er etablierte den paradoxen Begriff der „Konkreten Utopie“[3]. Diese käme in der Handlung zum Vorschein, wenn Pessimismus oder ungeprüftem Optimismus eine per dialektischer Methode „geprüfte“ Hoffnung gegenüberstellt würde. Mit kitschigen Parolen wie „Geschlagen ziehen wir nach Haus – unsere Enkel fechten’s besser aus!“, schälte Bloch diesen Moment der Hoffnung, den – im spießbürgerlichen Sinne – utopischen Glauben anschaulich heraus.

Somit bedingt die „konkrete Utopie“ den emotionalen Glauben an das Abstrakte – abseits der Logik.

Blochs Theorie stützt sich auf das Mittel der Induktion: Aus der Empirie der Utopieerzählungen schafft er per dialektischer Methode (informiertem Mutmaßen[4]) eine Theorie. Er bleibt jedoch dadurch ad infinitum in einer ewigen Schleife der Schärfung gefangen, betrachtet immer neue Einzelfälle, die den Kurs für eine allgemeine Formulierung geben sollen, die allgemeine Formulierung selbst aber verunmöglichen. Wie Morus, der das Mittel der Negation zur Utopieerzeugung wählte, jedoch auf diese Weise keine in die Realität umsetzbare Utopie erzeugen konnte, wählte Bloch einen Schlüssel zum Schloss der Theorie, der die Tür zur Allgemeingültigkeit nicht zu öffnen vermochte.

Für die positive Formulierung einer Theorie des Utopischen bedarf es einer Umkehrung der Methodik von der Induktion zur Deduktion und damit einer Umkehrung der Erkenntnisgrundlage von der Empirie zur Logik, genauer gesagt zur Logik des Handelns, der von Ludwig von Mises (1881 – 1973) begründeten Praxeologie.

Utopia Now! 

Was bedeutet dies hinsichtlich der am Anfang gestellten Frage, ob Utopien gebaut werden können?

Untersucht man das Konzept der Utopie deduktiv in den Kategorien praxeologischer Schlussfolgerung[5], wird offensichtlich, dass kein geläufiges Ideal als allgemeingültig anerkannt werden kann. Dies liegt daran, dass das Bewerten und somit jeder Wert eine subjektive Komponente darstellt. Die einzige Möglichkeit, ein universell gültiges utopisches Ideal zu etablieren, liegt darin, dass das anthropologische Handeln selbst als Ausgangspunkt gewählt wird. Anders ausgedrückt: Die einzige Utopie, die ohne Widersprüche sowohl mit ihren eigenen Idealen als auch mit dem menschlichen Handeln konkret werden kann, ist die Utopie des Handelns an sich. Nur diese Utopie lässt sich bauen.

Zusätzlich sind die logischen Schlussfolgerungen bezüglich des zwischenmenschlichen Handelns mit einzubeziehen. Menschliches Handeln ist stets zielbezogen. Das letzte Ziel des Handelns ist die Hebung des Status quo in einen subjektiven Status höherer Befriedigung. Da in einer Gemeinschaft von Menschen nur freiwilliges Handeln diesem Ziel für alle nachweisbar dient, steht das Pareto-positive[6] (Win-win-Situationen) Handeln im Mittelpunkt des Utopischen. Kurzum:

Die konkrete Utopie liegt im friedlichen und freiwilligen Handeln!

Die konkrete Dystopie liegt im Pareto-unvergleichbaren (Win-lose-Situationen) Handeln, also wenn man Menschen, die sich selbst friedlich verhalten, zu einem bestimmten Handeln zwingt.

Für einen Bau müssen die Beteiligten von der Bauidee beseelt sein. Dies ist noch nicht der Fall. Darum sind alle Utopisten aufgerufen, die neue Bauidee für Utopia in die Welt zu tragen. Die Chancen sind gut, dass auf diesem Fundament Utopia tatsächlich gebaut werden kann.

Comic „Atlantis Upcycling – Utopia in Wellen“

Der zweite, praktische Teil der Masterarbeit umfasst den Comic „Atlantis Upcycling – Utopia in Wellen“. Diesen habe ich auf Grund meiner vorangehenden Erörterungen entwickelt. Eine für das Ludwig Mises Institut Deutschland erstellte Edition können Sie HIER herunterladen. Viel Spaß beim Lesen!

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[1] Vgl. Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, Frankfurt a.M. 1972, 1. Aufl. S.253ff.

[2] Adorno, Bloch: Möglichkeiten der Utopie heute; SWF Interview, 1964, ab Min. 29

[3] Vgl. Bloch: Geist der Utopie, München 1918, 2. Aufl. 1923, S.24ff.

[4] Vgl. Tiedtke: Kompass zum lebendigen Leben, München 2021, 1. Aufl.; Kapitel 1.4.

[5] Vgl. Tiedtke: Kompass zum lebendigen Leben, München 2021, 1. Aufl.; Kapitel 1.1.

[6] Vgl. Tiedtke: Kompass zum lebendigen Leben, München 2021, 1. Aufl.; Kapitel 7.1.f

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Henning Storch, Jahrgang 1997, ist Master in Architektur (RWTH), Freiberufler, überzeugter Liberaler und Freund der Österreichischen Schule der Nationalökonomie.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

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Titel-Foto: Henning Storch

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