Argentinier haben den Glauben an den Staat verloren – davon profitiert Javier Milei

17. November 2023 – von Rainer Zitelmann

Rainer Zitelmann

Am 19. November findet in Argentinien die Stichwahl zwischen dem Peronisten Sergio Massa und dem Anarchokapitalisten Javier Milei statt. Künftig könnte ein vehementer Anhänger des Kapitalismus Argentinien regieren. Das wäre eine Sensation, doch diese Sensation wäre Ergebnis einer grundlegenden Änderung in der Einstellung der Argentinier zur Marktwirtschaft und zur Rolle des Staates, die sich bereits länger abzeichnet.

Ich habe in diesem und im letzten Jahr in 30 Ländern die libertäre Bewegung studiert, aber in keinem dieser Länder habe ich eine so starke libertäre Bewegung gesehen wie in Argentinien. Normalerweise gehen viele Menschen in die ganz linke oder die ganz rechte Richtung, wenn ihr Land in einer schweren Krise ist, doch in Argentinien sind Libertäre die Hoffnungsträger, besonders bei jungen Menschen. Bei den unter 30jährigen stimmte eine Mehrheit für Milei.

Die Wahlen finden statt vor dem Hintergrund einer dramatischen Wirtschaftskrise und einer Inflationsrate von über 100 Prozent, eine der höchsten der Welt. Seit 1945 war die Inflation in jedem Jahr zweistellig (außer in den 90er-Jahren). Argentinien wurde seit Jahrzehnten durch Etatisten heruntergewirtschaftet und gehört heute zu den wirtschaftlich unfreisten Ländern der Welt. In dem „Index of Economic Freedom“ steht es an Position 144 von 177 Ländern – und sogar in Lateinamerika sind nur wenige Länder (vor allem Venezuela) wirtschaftlich noch unfreier als Argentinien. Zum Vergleich: Chile, obwohl sich dessen Position nach dem Machtantritt des Sozialisten Gabriel Boric im März 2022 verschlechtert hat, steht immer noch auf Platz 22 der wirtschaftlich freiesten Länder der Welt und Uruguay auf Platz 27 (die USA stehen auf Platz 25).

Aber was die Stimmung in der Bevölkerung anlangt, so haben viele Argentinier vom linken Peronismus genug und wenden sich vom Etatismus, der das Land Jahrzehnte geprägt hat, ab. Argentinien gehörte schon bei einer Umfrage, die ich im vergangenen Jahr durchführen ließ, zu den Ländern, in denen die Menschen die Marktwirtschaft am stärksten unterstützen. In Argentinien wurden vom 12. bis 20. April 2022 insgesamt 1.000 repräsentativ ausgewählte Personen durch das Meinungsforschungsinstitut Ipsos zum Image von Marktwirtschaft und Kapitalismus befragt.

Zuerst wollten wir herausfinden, was die Argentinier von der Marktwirtschaft halten. Wir legten den Befragten in Argentinien sechs Statements zur Marktwirtschaft vor, in denen das Wort Kapitalismus nicht verwendet wurde. Es zeigte sich, dass Aussagen für einen stärkeren Einfluss des Staates bei 19 Prozent der Befragten Zustimmung finden und Aussagen für mehr Markt bei 24 Prozent. Wir haben die Befragung in 34 anderen Ländern durchgeführt, aber nur in fünf Ländern (Polen, USA, Tschechien, Südkorea und Japan) war die Zustimmung zur Marktwirtschaft noch größer als in Argentinien, in 29 Ländern war die Zustimmung zur Marktwirtschaft geringer.

Zusätzlich wurden allen Befragten 10 Begriffe vorgelegt – positive und negative – und die Frage gestellt, welche davon sie mit dem Wort „Kapitalismus“ verbinden, sowie 18 weitere Fragen zum Kapitalismus gestellt. Zwar war die Zustimmung zum Kapitalismus dann nicht mehr so groß wie beim ersten Fragenkomplex zum Thema Marktwirtschaft, wo der Begriff „Kapitalismus“ nicht verwendet wurde. Aber auch dann, wenn das Wort „Kapitalismus“ erwähnt wurde, ist das Image des Kapitalismus nur in sieben von 35 Ländern positiver als in Argentinien, aber in 27 Ländern denken die Menschen laut dieser Umfrage schlechter über den Kapitalismus als in Argentinien.

Nur vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass ein bekennender Kapitalismus-Fan wie Javier Milei, Professor für Austrian Economics, eine Chance hat, die Wahlen in dem Land zu gewinnen. Milei ging mit der Forderung in den Wahlkampf, die Zentralbank abzuschaffen und einen freien Wettbewerb von Währungen zuzulassen, was wahrscheinlich dazu führen würde, dass der US-Dollar das beliebteste Zahlungsmittel wird. Zudem forderte er die Privatisierung von Staatsunternehmen, Streichung von zahlreichen Subventionen, Senkung der Steuern bzw. Abschaffung von 90 Prozent der Steuern und eine radikale Liberalisierung des Arbeitsrechtes.

Im Bildungsbereich forderte Milei die Finanzierung auf ein Gutscheinsystem umzustellen, wie es bereits Milton Friedman vorgeschlagen hatte.

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Argentinien ist übrigens auch ein Beispiel dafür, welch wichtige Rolle Thinktanks spielen, um geistige Änderungen vorzubereiten, denen dann politische Änderungen folgen. In Argentinien sind das beispielsweise die Fundación para la Responsabilidad Intelectual, die Fundación para la Libertad oder Federalismo y Libertad. Ich habe in 30 Ländern libertäre Thinktanks kennengelernt, doch nur in wenigen Ländern waren sie so aktiv wie in Argentinien. Man darf neugierig sein, ob die Saat, die sie gesät haben, am 19. November aufgehen wird.

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Dieser Beitrag ist bereits am 15.11.2023 auf Focus.de erschienen.

Dr. Dr. Rainer Zitelmann ist promovierter Historiker und Soziologe. Er war zunächst Wissenschaftlicher Assistent am Zentralinsitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin. Seine Bücher werden weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt – sein Buch „Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten“ (englisch: In Defense of Capitalism) erscheint in 30 Sprachen. In den vergangenen Jahren schrieb er Artikel oder gab Interviews in führenden Medien wie Wall Street Journal, Daily Telegraph, Times, Forbes, Newsweek, Le Monde, Corriere della Sera, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung und zahlreichen Medien in Lateinamerika und Asien. Mehr Informationen: www.rainer-zitelmann.de

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