Meilensteine politischen Unternehmertums: 850 Jahre Staatsanleihe

Geschichte(n) aus der Wirtschaft – 8. August 2022

von Stephan Ring

So eine Sensation hat auch die bewegte Geschichte Venedigs nur selten erlebt. Am 28. Mai 1172 soll sich das Stadtoberhaupt, der Doge Vitale Michiel II. (vor 1119-1172), wegen eines von ihm geleiteten und missglückten Feldzugs vor der Volksversammlung rechtfertigen. Sein späterer Nachfolger im Dogenpalast, Andrea Dandolo (1306-1354), beschreibt in seiner „chronica brevis“ was geschehen sein soll.

Seinem Bericht nach – es gibt auch andere Versionen – ist der Doge vom wütenden Hass („tanto furori“) so verängstigt gewesen, dass er den Dogenpalast verlässt („descendit“) und über See („per viam maris“) zum Kloster San Zaccaria fliehen will. Doch auf dem Weg dorthin wird er „a quodam lethaliter vulneratus“, also „von jemandem tödlich verwundet“. Ein Priester nimmt ihm noch schnell die Beichte ab, dann verstirbt Michiel („ad Deum transvolavit“).[1]

Ausgangspunkt ist Byzanz, das heutigen Istanbul. Dort leben wegen der lukrativen Handelsbeziehungen von manchen Historikern – vielleicht etwas hoch – geschätzte im Jahr 1171 80.000 Italiener, viele davon aus Venedig. Sie alle genießen am Bosporus eine Menge wirtschaftlicher Privilegien, die ihnen – in ihren jeweiligen Schwächephasen – von den Kaisern des Byzantinischen Reiches zugestanden wurden.

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Der amtierende Herrscher, Manuel I. Komnenos (1118-1180), sieht das zunehmend skeptisch. Sein Geheimschreiber Kinnamos schildert die Venezianer als „Volk von verdorbener Sinnesart, voll von Matrosenrohheiten“.[2] Und die Stimmung in der griechisch geprägten Bevölkerung ist ganz allgemein gegen die Privilegierten aus Italien. Die Genuesen sind die ersten, die das am eigenen Leib erfahren müssen. 1171 wird ihr bevorzugtes Wohnviertel Galata am Goldenen Horn in Byzanz von einer aufgebrachten Menge gestürmt und verwüstet.

Welche Rolle der Kaiser dabei genau spielt, ist nicht ganz klar, aber er wittert eine schöne Chance: man könne doch diesen Affront gegen die Italiener Venedig anlasten. Am 12. März dieses italienischen Unglücksjahres lässt er die Waren und Schiffe der Venezianer auf byzantinischem Territorium beschlagnahmen und die Venezianer inhaftieren. Bei allein in der Hauptstadt 10.000 Verhaftungen reichen die Gefängnisse nicht aus und es müssen auch Klöster und Konvente genutzt werden.[3]

So etwas kann sich eine Handelsmacht erster Güte natürlich nicht bieten lassen. Der Doge Vitale Michiel II. (vor 1119-1172) lässt eine Flotte von 120 Galeeren ausrüsten und fährt selbst an ihrer Spitze erst in die zum Byzantinischen Reich gehörende Ägäis um dort durch Plünderungen Druck aufzubauen und dann nach Byzanz, um zu verhandeln. Ein halbes Jahr vergeht mit Gesprächen. Dabei schrumpfen Flotte und Mannschaften durch die Pest, die der Doge auf der Insel Chios aufgelesen hat. Entsprechend gestalten sich die Verhandlungen um die verhafteten Venezianer und ihre Besitztümer wenig erfolgreich.

Als seine Position am Bosporus unhaltbar wird, muss er in die Heimat zurückfahren, wo ihm das Desaster mit den geschilderten bösen Folgen angelastet wird. Erst unter seinem Nachfolger gelingt es, dem Nachfolger Manuels die alten Privilegien wieder abzutrotzen. Was jedoch nichts am Abscheu der byzantinischen Bevölkerung gegen die Italiener ändern sollte.[4]

Verständlich ist die Verbitterung der heimischen Venezianer durchaus, denn der gewaltige Verlust durch die Beschlagnahmungen am Bosporus trifft sie als Kaufleute direkt, aber auch viele vom Handel abhängige Berufsgruppen indirekt. Und die Pleite ist gewaltig: von den 100 teuren Kampfschiffen kehrt nur ein Viertel zurück. 10.000 Mann der Besatzung sind im Osten gestorben. Die Landsleute sitzen im Byzantinischen Reich immer noch in Haft und zu allem Überfluss bringen die wenigen heimkehrenden Galeeren auch noch die Pest mit nach Venedig.[5]

… im Vorfeld der traurigen Episode ist es 1171 zu einer Erfindung gekommen, die bis heute in Gebrauch ist: die Staatsanleihe.

Doch im Vorfeld der traurigen Episode ist es 1171 zu einer Erfindung gekommen, die bis heute in Gebrauch ist: die Staatsanleihe.[6] Denn das für die Flottenrüstung nötige Geld hat Michiel nach diversen venezianischen Kriegen nicht in der Staatskasse gehabt. Und wegen der unabweislichen Ausgaben hatte er sich ein neues Konzept der Verschuldung ausdenken müssen.

Bis dahin sind die Staatsausgaben meist brav aus den laufenden Einnahmen oder angesparten Schätzen bezahlt worden. In extremen Notsituationen hat man bei reichen Bürgern Geld geborgt und dafür künftige Steuereinnahmen oder sonstige Einkünfte als Sicherheiten eingesetzt. Doch diesmal haben sich die Finanziers geziert, da die Lage unübersichtlich ist, die Staatsfinanzen nicht zum Besten stehen und einige wohl angesichts der Spannungen auch eine Schrumpfung des Handels befürchten.

Und nun kommt das Neue: die Bürger der Lagunenstadt bezahlen den Ausflug nach Byzanz mit einer Zwangsanleihe. Das Modell sieht so aus: die Kommune wird administrativ in sechs Distrikte aufgeteilt, diese Unterteilung von Castello bis San Marco existiert bis heute. Jedes Sechstel muss den Wohlstand seiner Einwohner selbst abschätzen und jedem Bürger ein Prozent seines Vermögens für den Bau der 100 Kriegsgaleeren und 20 Lastschiffe sowie den Unterhalt ihrer Besatzungen abringen.[7]

… die erzwungene Summe soll mit jährlich fünf Prozent verzinst und irgendwann in besseren Zeiten zurückgezahlt werden. Was allerdings nie geschieht, weil natürlich immer gerade neue dringende Ausgaben zu tätigen sind.

Doch das ist keine Steuer oder Einmalabgabe, sondern die erzwungene Summe soll mit jährlich fünf Prozent verzinst und irgendwann in besseren Zeiten zurückgezahlt werden. Was allerdings nie geschieht, weil natürlich immer gerade neue dringende Ausgaben zu tätigen sind. Von Stunde an sind die Venezianer über die Anleihe Gläubiger ihrer Kommune und als deren Bewohner und Steuerzahler auch Schuldner und dürfen die Stadtfinanzen durch eigene Gremien mit kontrollieren. Aber ihnen ist somit auch noch klarer als früher, dass Michiel bei der Exkursion ihr Geld verloren hat.

Und noch eine Besonderheit hat die Finanzinnovation: da die Rückzahlung nicht für einen genauen Termin garantiert wird, können Eigentümer der Anleihe in Liquiditätsschwierigkeiten geraten. Zwar gibt es keine Wertpapiere, aber man kann seine Anteile bei einer Geschäftsstelle des Fonds umschreiben lassen. Sehr wahrscheinlich ist, dass man diese Rechte an der „Börse“ von Venedig, einem Platz neben der damals noch hölzernen Rialto-Brücke, gehandelt hat.

Dort gibt es schon eine Frühform des Bankwesens, die „campsores“. Sie wechseln – wie man einer notariellen Urkunde aus dem Jahr 1164 entnehmen kann – dort fremde Münzen in einheimische um. Dafür haben sie am Rialto Tische („tabule“), die man damals auch als „banca“ bezeichnet. Nicht unwahrscheinlich, dass der Handel in Staatsanleihen, Prestiti genannt, bei diesen „campsores“ begonnen haben könnte; bestätigt ist das nicht.[8]

Glasklar geregelt wird das Anleihewesen 1262. Da fasst man im Dekret „ligato pecuniae“ alle vorherigen Stadtschulden in einem Fonds zusammen, der „monte vecchio“ (etwa Alter (Schulden)Berg) genannt wird. Auch er zahlt fünf Prozent Zinsen auf den Nominalwert und das in zwei jährlichen Raten. Die Laufzeit wird auf unendlich festgelegt, der Staat kann also nicht einseitig Tilgung verfügen. Wollte er das tun, wäre das nur durch einen Aufkauf der Papiere am freien Markt möglich.

Spätestens jetzt haben die Anteile auch den Namen, der sie über Jahrhunderte in ganz Europa bekannt wird, der eben bereits genannte: „prestiti“. 1482 wird sogar noch ein zweites Instrument dieser Art geschaffen: der „monte nuovo“ (etwa Neuer Berg), dessen Anteile parallel zum alten Titel am Rialto gehandelt werden. Auch der Neuling ist ein Kind der Not, mit ihm finanziert Venedig diesmal einen aufwendigen Krieg gegen Ferrara.[9] So geht es noch weiter, 1509 kommt der „monte nuovissimo“ (etwa Brandneuer Berg) und 1526 der „monte sussidio“ (etwa Berg der Unterstützung).[10]

Diese Anleihen werden zunehmend populär. So nutzt sie die venezianische Führungsschicht gerne bei Stiftungen oder Mitgiften. Dabei gilt als zusätzlicher Vorteil, dass die prestiti – zumindest bis 1378 – bei weiteren Zwangsanleihen bei den ursprünglichen Eigentümern nicht als Vermögen mitgezählt werden.

Die im Vergleich zu den damals üblichen Zinssätzen niedrige Nominalverzinsung von fünf Prozent wird teilweise dadurch ausgeglichen, dass die prestiti so gut wie immer unter dem Nominalwert gehandelt werden. Aber auch die erstklassige Bonität zählt, denn im ausgehenden Mittelalter zahlt längst nicht jeder Schuldner über ein Jahrhundert lang pünktlich seine Zinsen.[11]

Wie groß der Unterschied dieser recht modern anmutenden Anleihe zu den vorherigen Geldbeschaffungsmaßnahmen ist, zeigt ein Vergleich zum Jahr 1164, also sieben Jahre vor der Zwangsanleihe. Da leiht ein Dutzend reiche Venezianer seiner Kommune 1.150 Silbermark, das sind etwa 270 Kilogramm des damals in Europa raren Edelmetalls. Eine andere Quelle spricht gar von 15.000 Mark Silber.

Aber dafür müssen die Stadtoberen die Einnahmen aus dem stark frequentierten Rialto-Markt für ganze 11 Jahre an die Gläubiger abtreten.[12] In der schon erwähnten Notarurkunde ist festgehalten, dass die Gläubiger die Tische aus kommunalem Besitz an interessierte Proto-Bankiers vermieten dürfen. Wofür diese Geldaufnahme dient, ist nicht überliefert, nur die Formulierung „in maxima necessitate“, also höchster Notwendigkeit.[13]

Offenbar leuchten die Vorteile der venezianischen Staatsfinanzierung irgendwann auch anderen norditalienischen (Stadt)Staaten ein.

Offenbar leuchten die Vorteile der venezianischen Staatsfinanzierung irgendwann auch anderen norditalienischen (Stadt)Staaten ein. Florenz konsolidiert zwischen 1343 und 1345 seine Schulden im „monte comune“ (etwa Gemeindlicher (Schulden)Berg), auch das sind ehemalige Zwangsanleihen. Die Genuesen tun 1340 desgleichen. Sie schaffen einen Fonds namens „compera“, er wird später als „Casa die San Giorgio“ in Europa bekannt. Von bis zu 10 Prozent Zinsen nähert man sich in Genua bis 1420 mit fünfeinviertel Prozent schließlich dem venezianischen Ausgangsniveau an.[14]

In den nächsten Jahrhunderten werden sich alle großen Staaten die Idee des Dogen Vitale Michiel II. zu eigen machen. Und auch diese Staaten werden mit der Not argumentieren und auch sie werden die Anleihen als Finanzierungsinstrument für Kriege und politische Zwangsmaßnahmen nutzen.

In den nächsten Jahrhunderten werden sich alle großen Staaten die Idee des Dogen Vitale Michiel II. zu eigen machen. Und auch diese Staaten werden mit der Not argumentieren und auch sie werden die Anleihen als Finanzierungsinstrument für Kriege und politische Zwangsmaßnahmen nutzen. Mit beträchtlichen Folgen für die Entwicklung Europas und schließlich der ganzen Welt.

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[1] Vitale Michiel II., Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Vitale_Michiel_II. Marco Casolo, Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Marco_Casolo Darin auch die Zitate aus der „chronica brevis“.

[2] Reinhard Heynen, Zur Entstehung des Kapitalismus in Venedig, Münchener Volkswirtschaftliche Studien, Einundfünfzigstes Stück, Stuttgart/Berlin 1905, Seite 58

[3] John Julius Norwich, A History of Venice, New York 1982, (Zahl der Italiener in Byzanz) Seite 103, (Schlag gegen die Venezianer), Seite 104.

[4] Frederic C. Lane, Seerepublik Venedig (Original: Venice, A Maritime Republic, Baltimore 1973), München 1980, Seite 68.

[5] Helmut Dumler, Venedig und die Dogen, Düsseldorf 2001, Seite 125.

[6] Lynn Thorndike, The History of Medieval Europe, 1917, Seite 343

[7] Ein Prozent nach: Reinhard Heynen, Seite 59.

[8] Reinhold C. Mueller, The Venetian Money Market. Banks, Panics and the Public Debt, 1200-1500, Baltimore/London o.J., Seite 8

[9] William N. Goetzmann, Money changes everything. How finance made civilization possible, Princeton (N.J.) 2016, Seite 229-232.

[10] Michele Fratianni/Franco Spinelli, Italian city-states and financial evolution, European Review of Economic History, Cambridge 2006, Seite 257-278, hier speziell: Seite 263.

[11] Sidney Homer/Richard Sylla, A History of Interest Rates, Third Edition, New Brunswick (N.J.) 1996, Seite 95-97.

[12] Luciano Pezzolo, Bonds and Government Debt in Italian City-States, 1250-1650, Seite 145-163, in: William N. Goetzmann/K. Geert Rouwenhorst (Hrsg.), The Origins of Value, Oxford/New York 2005, speziell: Seite 147. Abweichende Darlehnssumme von 15.000 Mark Silber nach: Margarete Merores, Die ältesten venezianischen Staatsanleihen und ihre Entstehung, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 15 (1919), DigiZeitschriften, Seite 381-398, hier: Seite 391-392. Bei ihr auch die Formulierung „in maxima necessitate“.

[13] Reinhold C. Mueller, a.a.O., Seite 8.

[14] John H. Munro, The medieval origins of the „Financial Revolution“: usury, rentes, and negotiablity, Department of Economics, University of Toronto February 2002, Seite 515, http://mpra.ub.uni-muenchen.de/10925/

Dr. Stephan Ring ist Jurist und Vorstand des Ludwig von Mises Institut Deutschland.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

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