Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer – von Anthony de Jasay

11. Juli 2022 – von Anthony de Jasay

Politik wäre eine überflüssige Aktivität und die Ökonomik würde zu ihrer wissenschaftlichen Behandlung ausreichen.

Anthony de Jasay

„Man bekommt, wofür man bezahlt.“ Aber ebenso oft ist das nicht so. Wenn dem so wäre, dann wäre diese Welt viel einfacher. Sie würde vollständig durch Tauschbeziehungen geregelt. Alle würden die vollen Konsequenzen ihrer Handlungen tragen und niemand würde durch die Trennung von Leistung und Gegenleistung geschädigt oder gewinnen durch „Nebenwirkungen“, die er nicht verursacht hat. Politik wäre eine überflüssige Aktivität und die Ökonomik würde zu ihrer wissenschaftlichen Behandlung ausreichen. Die gesellschaftliche Kooperation würde durch vertragliche Vereinbarungen geregelt, nie durch Befehle. Individuen wären souverän, jeder würde seine Angelegenheiten für sich selbst entscheiden.

Doch es liegt im Wesen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, dass eine Person mehr bekommen kann, als sie bezahlt, und auch, dass sie für mehr zu bezahlen hat, als sie bekommt. Wenn dies der Fall ist, kann man die Art und Weise der Kooperation nicht mit den wechselseitigen Vorteilen frei vereinbarter Tauschaktionen allein erklären. Bestimmte Handlungen und Unterlassungsansprüche, Güter und Dienstleistungen werden gekauft und verkauft; andere werden „zur Verfügung gestellt“. Man glaubt, dass es Güter gibt (wie die nationale Verteidigung, Ampeln, saubere Luft oder gewerkschaftliche Tarifverhandlungen), deren intrinsische Merkmale sie zur Bereitstellung für alle prädestinieren. Denn sie können weder scheibchenweise an Kaufwillige verteilt werden noch denen vorenthalten werden, die nicht zahlungswillig sind. Die Trennlinie zwischen der kollektiven Bereitstellung und dem privaten Tausch verläuft jedoch nicht entsprechend der Lehrbuchunterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Gütern. In den meisten als demokratisch angesehen Gesellschaften, wie auch in einigen nicht demokratischen, werden an sich intrinsisch private Güter, wie Gesundheitsversorgung und Bildung, zu einem großen Teil öffentlich bereitgestellt. Sowohl der private Tausch als auch die kollektive Bereitstellung erfordern Ressourcen, Mühe, Wohlverhalten und gesunden Menschenverstand. Aus Beiträgen entstehen Vorteile, die genossen werden können. Aber die Art und Weise, wie die Beiträge in Vorteile umgewandelt werden, unterscheidet sich bei „Tausch“ und „Bereitstellung“. Im Bereich der Tauschaktionen erhält man Wert nur für erbrachten Wert; der Vorteil jedes Einzelnen wird in jedem Einzelfall vom eigenen Beitrag abhängig gemacht. Man erhält eine Leistung, wenn man den Preis dafür bezahlt.

*****

Jetzt anmelden zur

Ludwig von Mises Institut Deutschland Konferenz 2022

Alle Informationen hier!

*****

Nur rein zufällig kann sich einmal eine „faire“ Entsprechung von eigenem Vorteil und eigenem Beitrag ergeben …

Im Bereich der öffentlichen Bereitstellung jedoch ist die personenbezogene feste Kopplung gelockert oder gänzlich ausgeschaltet. Nur auf der Aggregatebene bleibt es bei der genauen Entsprechung von Beiträgen und Leistungen. Für die Gruppe, die Stadt oder die Nation entsprechen die gesamten Beiträge den Gesamtleistungen. Innerhalb einer solchen Gemeinschaft kann jeder Einzelne ein Trittbrettfahrer sein, solange mindestens ein anderer den Gelackmeierten gibt. Nur rein zufällig kann sich einmal eine „faire“ Entsprechung von eigenem Vorteil und eigenem Beitrag ergeben und dieser Zweck wird mit der öffentlichen Bereitstellung auch gar nicht beabsichtigt. Soweit etwas damit beabsichtigt ist, ist es das Gegenteil. Denn eine nicht marktbestimmte Bereitstellung dient dazu, ausgewählte Waren und Dienstleistungen zur freien Verfügung zu stellen, und einigen Mitgliedern einer „Gesellschaft“ auf Kosten anderer zu helfen. Das Entkoppeln des individuellen Vorteils vom Beitrag, das  intrinsisch ist in „Öffentlichem-zur-Verfügung-Stellen“, macht dieses zum Umverteilungsmotor par excellence – zu einem Motor, der unaufhaltsam weiter umrührt, unempfindlich gegenüber sporadischen Versuchen, ihn zu drosseln.

Der Gegensatz zwischen dem Aufbau gesellschaftlicher Kooperation aufgrund von freien Verträgen und aufgrund von Gehorsam gegenüber gesetzmäßigen Befehlen ist der Grund für den Zwiespalt zwischen individueller und kollektiver Wahl. Nur wenn der Vorteil dem Beitrag entspricht und man „bezahlt, was man bekommt, und bekommt, wofür man bezahlt“, ist die Wahl des Individuums einzig oder zumindest überwiegend seine eigene Sache und geht die anderen nichts an. Wenn in kooperativen Situationen der Vorteil den Beitrag übersteigt oder hinter dem Beitrag zurückbleibt, spielt man de facto die Rolle des Trittbrettfahrers oder des Gelackmeierten, verbunden mit entweder der Toleranz oder der drängenden Ermunterung anderer, die durch Gesetz oder Macht ein Mitspracherecht in der Sache haben. Wenn sie nicht illusorisch sind (eine redundante Addition gleicher Wünsche), beinhalten kollektive Entscheidungen den Willen, die Vorliebe oder das Interesse eines Teils des Kollektivs und verwerfen diejenigen des Rests. Wer wen überstimmt, hängt von der Entscheidungsregel oder der Verfassung ab. Indem eine bestimmte Verfassung mehr oder weniger demokratisch, plutokratisch, aristokratisch oder was auch immer ist, oder einfach aufgrund ihrer mehr oder weniger agilen oder trägen Natur, wird sie entsprechende gesellschaftliche Entscheidungen erzeugen, die für ein erkennbares Interesse voreingenommen sind. Dies ist auffallend der Fall im Bereich der Produktion von öffentlichen Gütern, der Besteuerung, des Eigentums und anderer „Rechte“ von Minderheiten.

Das Wesen einer „Verfassung“ oder Entscheidungsregel ist hingegen gerade, Dissens zu überstimmen und Entscheidungen angesichts von Nichteinstimmigkeit zu generieren.

Daher kann keine nichtillusorische Verfassung eingeführt werden, ohne vorher diejenigen zu überstimmen, deren Interessen im Durchschnitt erwartungsgemäß besser durch eine andere bedient worden wären. Der Gesellschaftsvertrag ist eine hypothetische Vereinbarung. Kein vernünftiger Mensch hätte einen triftigen Grund ihn abzulehnen; er ist legitim, weil niemand überstimmt wird. Das Wesen einer „Verfassung“ oder Entscheidungsregel ist hingegen gerade, Dissens zu überstimmen und Entscheidungen angesichts von Nichteinstimmigkeit zu generieren. Anders als beim ihr „vorgelagerten“ Gesellschaftsvertrag steht die wahre Natur einer gesellschaftlichen Entscheidungsregel im Widerspruch zu der Forderung, niemand solle einen berechtigten Grund haben, sie zurückzuweisen. Die gesellschaftliche Entscheidungsregel kann ihre Legitimität nicht von der Einstimmigkeit ableiten, da die Wahlen so gestaltet oder „programmiert“ wurden, dass sie „nachgelagert“ ebenfalls weder einstimmig sind noch vorhersagbar. Im besten Fall kann eine solche Regel aufgrund von Duldung legitim sein – ein logisch anderer und ethisch fragwürdiger, wenn nicht geradezu minderwertiger Status.

Alles, was den Bereich der kollektiven Wahl erweitert, vergrößert folglich ipso facto den Bereich zum Trittbrettfahren und den Ruf nach Befehlen von anfechtbarer Legitimität, um damit fertig zu werden. Der Übergang vom Tausch zur öffentlichen Bereitstellung im weiteren Sinne ist ebenso ein Übergang von Verträgen zu Befehlen, die entweder einige in die unangenehme Rolle des Gelackmeierten zwingen sollen oder das Trittbrettfahren unterdrücken sollen, zu dem andere verlockt würden.

Beide Absichten sind falsch verstanden worden. Es ist Teil der in diesem Buch vorgestellten zentralen These, dass die meisten Befehle der kollektiven Wahl für ihren angeblichen Zweck unnötig sind. Sie sind nicht notwendig, um die Vorteile der öffentlichen Bereitstellung zu realisieren, indem sie die Menschen dazu zwingen, die geforderten Anstrengungen und Ressourcen beizutragen. Ebenso wenig schaffen Befehle ein Regime der Fairness durch die Unterdrückung des Trittbrettfahrens. Was Befehle erwirken, ist die Ersetzung von freiwillig angenommenen gesellschaftlichen Rollen – einige würden akzeptieren, nach einer klugen Berechnung der Alternativen als Gelackmeierter zu handeln, und andere würden das Risiko des Trittbrettfahrens eingehen in der Erwartung, dass es genügend Gelackmeierte gibt, die sie tragen – durch zentral zugeordnete Rollen als Steuerzahler und Steuerempfänger. Statt selbst gewählte Untergruppen von Trittbrettfahrern und Gelackmeierten zuzulassen, teilen Befehle die Öffentlichkeit in „sozial“ festgelegte Untergruppen auf, die analoge Funktionen haben. Das Streben nach Fairness, das der Grund ist, warum Freiwillige durch „Rekruten“ ersetzt werden, mag mehr Fairness bringen oder auch nicht, aber es bringt sicherlich mehr Restriktionen und weniger Autonomie. Im Rückblick ist das kaum ein Abkommen, das vernünftige Menschen nicht ablehnen könnten.

Nur im kollektiven Bereich können Entscheidungsregeln demokratisch sein oder nicht. Tatsächlich gibt es jedoch keine feste Grenze, die beide Bereiche trennt …

Auf den ersten Blick ist Demokratie eine Ausprägung, die eine Klasse von kollektiven Entscheidungsregeln (Verfassungen) definiert. Als solche scheint sie für die Sache des Liberalismus, der logischerweise der Demokratie vorausgeht, irrelevant in Hinsicht darauf, wo die Grenze zwischen dem individuellen und dem kollektiven Bereich gezogen wird. Der individuelle Bereich, nicht betroffen von kollektiven Entscheidungen, kann großzügig („liberal“) abgesteckt werden oder nicht. Innerhalb dessen einigt sich jeder Einzelne mit sich selbst und braucht keine Entscheidungsregel, demokratisch oder nicht. Nur im kollektiven Bereich können Entscheidungsregeln demokratisch sein oder nicht. Tatsächlich gibt es jedoch keine feste Grenze, die beide Bereiche trennt und keine Frage von vorher und nachher. Demokratie im strengen Sinne, wie in „einem demokratischen politischen System“, ist ein Kennzeichen einer Vorgehenswiese und nicht des von ihr erreichten Ergebnisses. Allerdings ist sie wie andere Vorgehenswiesen sichtlich anfällig dafür, nur eine Art von Ergebnis zu erzeugen, „Demokratie“ im weiteren Sinne, wie in „einer demokratischen Gesellschaft“ und in einer „Wirtschaftsdemokratie“. Demokratisch erzielte kollektive Entscheidungen zielen gewöhnlich darauf, Besitztümer zu untergraben, Belohnungen zu nivellieren und die allgemein akzeptierte Vorstellung von Fairness über weniger populäre Prinzipien in der Verteilung von Lasten und Vorteilen vorherrschen zu lassen. Unter einer demokratischen Entscheidungsregel zählen alle, die zählen, in der gemeinsamen Entscheidung gleich viel – ohne Ansehen ihrer verschiedenen Besitztümer, Fähigkeiten und Interessen. Jeder kann seine Chancen verbessern, seinen bevorzugten Zustand zu erreichen, indem er kollektive Entscheidungen für die Verpflichtung der Ressourcen und Energien anderer benutzt, um sie für seine eigene bevorzugte Verwendung einzusetzen; doch niemand kann es sich leisten, andere so mit ihm umgehen zu lassen, ohne dasselbe mit ihnen zu versuchen.

… der Versuch jedes Einzelnen, entweder Gewinne als Trittbrettfahrer zu ernten oder sich vor den gleichartigen Versuchen anderer zu schützen, [führt] zu einer Ausweitung des Bereichs der kollektiven Ressourcenallokation.

Unabhängig davon, ob das Ergebnis schieres ergebnisloses Umrühren ist oder ob eine Mehrheit erfolgreich gemeinsame Ergebnisse zu ihren Gunsten umbiegt, führt der Versuch jedes Einzelnen, entweder Gewinne als Trittbrettfahrer zu ernten oder sich vor den gleichartigen Versuchen anderer zu schützen, zu einer Ausweitung des Bereichs der kollektiven Ressourcenallokation. Eine demokratische Regel der kollektiven Wahl neigt folglich dazu, Entscheidungen zu erzeugen, die den eigenen Bereich vergrößern und damit die Bereichseinschränkungen zu brechen, die liberale Institutionen aufstellen. Sie tendiert dazu, die relative Rolle des Tauschs einzuschränken, wo jeder erhält, wofür er bezahlt, und die Rolle der öffentlichen Bereitstellung zu vergrößern, wo einige mehr erhalten können, als sie beitragen. Unter den vielen ad hoc-Gründen, die für bestimmte Fälle gelten, ist diese Tendenz eine Konstante in jedem einzelnen Fall und hilft zu erklären, dass die Personalkantine ein freies Mittagessen serviert und dass staatliche und kommunale Schulen freien Unterricht bieten; sie erklärt diverse Berechtigungen ohne Zusammenhang mit Beiträgen, ungedeckte Rentensysteme, den nicht kostendeckenden Verkauf aller Arten von Dienstleistungen und nicht zuletzt endemische Haushaltsdefizite. In jedem solchen Fall schafft die Abkopplung des individuellen Vorteils vom eigenen Beitrag de facto „öffentliche Güter“ als eine Angelegenheit der expliziten oder impliziten kollektiven Wahl, die die Entscheidung über die entsprechende Ressourcenverwendung aus dem privaten in den öffentlichen Bereich verschiebt.

Wenn es wahr wäre, dass es ein schwerwiegendes Dilemma der öffentlichen Güter gibt, nämlich, dass der freiwillige Beitrag zu den gemeinsamen Vorteilen irrational ist und der Eigennutz dazu verurteilt ist, sich selbst zu besiegen, bliebe wenig zu sagen. Bestenfalls könnten wir mit etwas Gewinn an Prägnanz neu formulieren, warum ein sich selbst erhaltender Ablauf mit einer stetig wachsenden Rolle der öffentlichen Bereitstellung, gekennzeichnet durch den Vormarsch der Demokratie und den Rückzug des Liberalismus, als besser und ethisch am wenigsten verwerflicher Weg angesehen werden muss, den die gesellschaftliche Entwicklung nehmen kann. Politik- und Wirtschaftswissenschaften könnten jeder ihren eigenen immer tristeren Weg gehen und technischen Einzelheiten von zweifelhafter Bedeutung nachjagen, da es wenige oder keine großen Fragen gäbe, die es wert wären, gestellt zu werden.

Da jedoch starke Argumente gefunden werden können, die darauf hindeuten, dass das Dilemma der öffentlichen Güter falsch ist, gibt es zumindest etwas Hoffnung …

Da jedoch starke Argumente gefunden werden können, die darauf hindeuten, dass das Dilemma der öffentlichen Güter falsch ist, gibt es zumindest etwas Hoffnung für die Wiederbelebung der keineswegs trostlosen politischen Philosophie und der politischen Ökonomie. Darüber hinaus gibt es die lebhaftere Hoffnung, dass die Zukunft nicht trostloser sein muss als die Vergangenheit.

Einleitung aus: Antony de Jasay, Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer – Abhandlung über öffentliche Güter. Erschienen im TvR Medienverlag, Jena 2020. Anthony de Jasay (1925 – 2019) war ein einflussreicher von jeder Denkschule unabhängiger Philosoph und Ökonom, der zu einem der weltweit führenden Vertreter des klassischen Liberalismus geworden ist.

Aus dem Englischen übersetzt von Burkhard Sievert. Er engagiert sich in der Fachgruppe Liberalismus der Atlas Initiative. Er hat von Anthony de Jasay die Bücher Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer, Gegen Politik sowie Der Indische Seiltrick übersetzt und das Buch Liberalismus neu gefasst wiederaufgelegt.

*****

Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

Soziale Medien:
Kontaktieren Sie uns

We're not around right now. But you can send us an email and we'll get back to you, asap.

Nicht lesbar? Text ändern. captcha txt

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen