Warum ist der Sozialismus salonfähig?

21. Februar 2022 – von Eduard Braun

Eduard Braun

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Nach den schrecklichen Erfahrungen der Deutschen im Nationalsozialismus und im 2. Weltkrieg ist es nur allzu verständlich, daß nationalsozialistische und faschistische Ideologien in Deutschland (und weltweit) mit einem Tabu belegt sind. Was schon einmal zu Millionen von Opfern und zu fabrikmäßiger Menschentötung geführt hat, sollte wirklich nicht ohne weiteres gleichberechtigt neben anderen politischen Optionen stehen. Es kann mit gutem Recht als unberührbar gelten.

In diesem Artikel stelle ich die Frage, warum dasselbe nicht auch für den Sozialismus gilt. Schließlich sind weltweit an die 100 Millionen Menschen zu Opfern von sozialistischen und kommunistischen Regimen geworden. Auch in der näheren Vergangenheit Deutschlands hat der Sozialismus grausam gewütet, wenn vielleicht auch im internationalen Vergleich deutlich harmloser als anderswo. Warum ist der Sozialismus trotz der erdrückenden Datenlage nach wie vor salonfähig? Warum taugen offen sozialistische Parteien als Koalitionspartner für sozialdemokratische und grüne Parteien? Warum können sich selbst in den Vereinigten Staaten von Amerika Präsidentschaftskandidaten folgenlos zum Sozialismus bekennen?

Ich möchte vorwegschicken, daß es in diesem Artikel ganz bewußt nicht darum geht, den Sozialismus zu widerlegen. Stattdessen geht es um eine Angelegenheit, die mindestens ebenso wichtig ist, üblicherweise aber viel weniger Aufmerksamkeit bekommt. Ich versuche zu ergründen, warum der Sozialismus bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht die Mischung aus Angst, Ekel und Verachtung auslöst, die uns als Reaktion auf die nationalsozialistische Ideologie so bekannt ist. Warum gibt es keine Brandmauer gegen den Sozialismus?

Unsere bürgerliche Gesellschaft beruht auf ideologischen Voraussetzungen, die denen des Sozialismus über weite Strecken sehr ähnlich sind.

Wenn das Problem so gestellt wird, liegt die Vermutung (besser: die Befürchtung) nahe, daß die Antwort etwas damit zu tun hat, daß das Gedankengut des Sozialismus der Mehrheit offenbar näher steht als das des Nationalsozialismus. Genau diese These möchte ich im folgenden begründen. Unsere bürgerliche Gesellschaft beruht auf ideologischen Voraussetzungen, die denen des Sozialismus über weite Strecken sehr ähnlich sind. Aus diesem Grund fällt uns der fundamentale Widerspruch gegen sozialistische Ideen durchaus schwerer als der Widerspruch gegen den Nationalsozialismus. Denn nur letzterer steht den Werten der bürgerlichen Gesellschaft schroff und unversöhnlich gegenüber. Der Sozialismus hingegen ist mit ihnen verwandt.

Diese Verwandtschaft wird nun gerade auch von Gegnern des Sozialismus häufig übersehen. Während die westlichen, marktwirtschaftlichen Gesellschaften als traditionell offen, freiheitlich und individualistisch beschrieben werden, wird der sozialistischen Ideologie vorgeworfen, das Individuum unterdrücken zu wollen und stattdessen das Kollektiv als obersten Wert auszurufen. Da der kanadische Psychologieprofessor Jordan Peterson in den letzten Jahren zu einer der weltweit wichtigsten Stimmen gegen den Sozialismus geworden ist, zitiere ich hier seine Fassung dieses Arguments:

„Zunächst einmal nimmt die [sozialistische] Philosophie an, daß Gruppenidentität an erster Stelle steht. Das ist die grundlegende Philosophie, die hinter der Sowjetunion und Maos China stand. Und es ist die grundlegende Philosophie der linken Aktivisten. Es ist Identitätspolitik. Es ist egal, wer Du als Individuum bist, entscheidend ist, wer Du von Deiner Gruppenidentität her bist.“[1]
Auch aus dem Rest des zitierten Interviews wird klar, daß Peterson sich hier eindeutig nicht auf rechte, sondern ausschließlich auf linke Sozialisten bezieht.

Wenn man die Aussage Petersons ein wenig überdenkt, bemerkt man allerdings, daß er hier doch recht eigentlich die nationalsozialistische Ideologie beschrieben hat, nicht die sozialistische. Denn was war es anderes als die Gruppenidentität, was im nationalsozialistischen Deutschland den eigenen Status innerhalb der Gesellschaft bestimmt hat? Wer Jude war, konnte noch so deutsch und patriotisch gesinnt sein – er war und blieb Jude und damit der Angehörige einer verfolgten Gruppe. Die Eigenschaften und Verdienste des Individuums verblaßten hinter seiner Gruppenidentität. Der Arier war Teil des deutschen Volkes, der Jude war hingegen auszumerzen.

Anders als in Petersons Darstellung gibt es derartige Gruppenidentitäten im sozialistischen Denken gerade nicht. Gruppenidentitäten sind dem Sozialismus vielmehr äußerst suspekt, er bekämpft sie, wo er sie vorfindet. Es besteht kein Zweifel, daß der Sozialismus traditionell nicht nur die klassische Ehe und Familie ablehnt, sondern ganz besonders energisch auch die Ideen von nationaler oder rassischer Zusammengehörigkeit.

Die sozialistische Zukunftsgesellschaft sollte eine klassenlose Gesellschaft sein. Gruppenidentitäten sollten dort ganz sicher nicht an erster Stelle stehen, im Gegenteil, sie sollten aufhören zu existieren.

Es stimmt zwar, die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist laut Marx und Engels die Geschichte von Klassenkämpfen. Aber die Klassen sollten sich nach ihrer Vorstellung in Zukunft auflösen. Die sozialistische Zukunftsgesellschaft sollte eine klassenlose Gesellschaft sein. Gruppenidentitäten sollten dort ganz sicher nicht an erster Stelle stehen, im Gegenteil, sie sollten aufhören zu existieren.

Wer wissen möchte, wofür der Sozialismus kämpft, ist gut beraten, sich einmal den Text der „Internationalen“ anzusehen. Was erkämpft die Internationale? Genau: das Menschenrecht. Jeder Mensch hat Rechte, unabhängig von Rasse oder Herkunft, von Gruppenzugehörigkeit und gesellschaftlicher Identität.

Wenn Peterson und viele andere trotzdem die Unterdrückung der individuellen Identität und die zentrale Stellung der Gruppenidentität als das wesentliche Merkmal der sozialistischen Philosophie beschreiben, dann handelt es sich hierbei meines Erachtens um eine Fehlinterpretation der Entwicklung, die der Sozialismus in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts genommen hat.

Wie der bekannte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schreibt, kamen dem Sozialismus durch die großen Erfolge der westlichen Gesellschaften bei der Bekämpfung der Armut und durch das Scheitern des realexistierenden Sozialismus im Ostblock die klassischen Themen abhanden. Die Arbeiterklasse taugte nicht länger als Objekt der Befreiungsambitionen. Die Linke mußte sich inhaltlich neu formieren. Die entstandene Lücke wurde mit dem Kampf für unterdrückte Minderheiten gefüllt. In den späten 1950er Jahren begann diese Entwicklung mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, und bald folgten die feministische Bewegung, der Kampf gegen die tradierten Normen in den Bereichen Familie und Sexualität sowie später weitere Bewegungen, welche für die Rechte der Homosexuellen, Behinderten, Immigranten und Transgender-Personen kämpften.

… Gruppenidentitäten wurden nur deswegen zu einer wichtigen Größe für den modernen Sozialismus, weil westlichen Gesellschaften angeblich oder tatsächlich den Menschen nicht als Individuum behandeln, sondern nur als Mitglied bestimmter Gruppen.

Es ist nun wichtig zu betonen, daß sich diese Minderheiten- und Identitätspolitik zwar durchaus an bestimmten Gruppenidentitäten orientiert. Jedoch geht es ihr nicht darum, derartige Identitäten als einen Wert an sich zu propagieren und entsprechende Identitäten zu erzeugen. Im Gegenteil, Gruppenidentitäten wurden nur deswegen zu einer wichtigen Größe für den modernen Sozialismus, weil westlichen Gesellschaften angeblich oder tatsächlich den Menschen nicht als Individuum behandeln, sondern nur als Mitglied bestimmter Gruppen. Die Gruppen, deren Interessen der moderne Sozialismus vertreten will, sind demnach nichts anderes als Summen von Einzelpersonen, denen gemeinsam ist, daß sie aufgrund bestimmter Eigenschaften wie Hautfarbe oder Geschlecht von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden.

Fukuyama weist daher durchaus zurecht darauf hin, daß das Denken in Gruppen, das für die linke Identitätspolitik charakteristisch ist, seinen Ursprung in der individualistischen Weltanschauung hat.[2] Die gemeinsame Erfahrung, diskriminiert zu werden, d. h. gerade nicht als Individuen wahrgenommen zu werden, sondern als Angehörige einer Gruppe, ist es, die hier häufig erst eine Gruppenidentität entstehen ließ. Der Sinn der oben genannten Bewegungen ist es demnach auch, die betroffenen Individuen zu befreien, indem die gruppenbezogenen Diskriminierungen und Vorurteile bekämpft werden. Wie der amerikanische Politologe Wilson Carey McWilliams (1933-2005) feststellte, geht es den modernen Sozialisten „nicht um Frauen, Minderheiten und junge Menschen an sich, sondern darum, Individuen von fragwürdigen Klassifizierungen zu befreien.“[3]

Sie versuchen, unter dem Deckmantel der Antidiskriminierung Sonderprivilegien für diese Minderheiten zu ergattern und sie gegen die Mehrheitsgesellschaft auszuspielen.

Es ist an dieser Stelle allerdings zu bemerken, daß es seit einigen Jahren Strömungen innerhalb der Linken gibt, für welche die Gruppenidentitäten zum Selbstzweck zu werden drohen. Diese Strömungen kämpfen nicht nur dann für bestimmte Minderheiten, wenn diese scheinbar oder tatsächlich diskriminiert werden, sondern auch unabhängig davon. Sie versuchen, unter dem Deckmantel der Antidiskriminierung Sonderprivilegien für diese Minderheiten zu ergattern und sie gegen die Mehrheitsgesellschaft auszuspielen. Gegen diese Übersteigerungen wenden sich wiederum linke Politiker wie Sahra Wagenknecht, indem sie bezeichnenderweise die alte und wahre Linke beschwören.

Der entscheidenden Punkt ist der folgende: Wäre es tatsächlich so, daß der Sozialismus grundsätzlich Gruppenidentitäten stärken wollte, wenn er für Kollektivwerte stehen würde, dann wäre er nicht salonfähig. In diesem Fall wäre die sozialistische Ideologie nicht weltweit auf dem Vormarsch. Es gibt nichts, was den Bewohnern der westlichen Welt ferner stehen würde, als ihre Individualität aufzugeben und sich stattdessen einer Gruppenmoral zu beugen. Denken Sie einmal darüber nach! Was würde passieren, wenn Sie versuchen würden, auf der politischen Bühne die Einhaltung und Pflege von Gruppenidentitäten zu bewerben? Wie käme es wohl an, wenn Sie für getrennte Lehrpläne für Mädchen und Jungs einträten, oder sogar für Deutsche und Türken? Wie käme es an, wenn Sie die Identität der deutschen Nation durch konkrete Maßnahmen stärken wollten? Wie käme es an, wenn Sie laut verkündeten, sozialpolitische Maßnahmen nicht nach Bedarf, sondern je nach Identität oder Herkunft der Leistungsempfänger ausgestalten zu wollen?

Die Antwort liegt auf der Hand: Die westlichen Gesellschaften sind individualistisch, und daher würden derartige Forderungen und Vorstellungen rundheraus abgelehnt werden. Vermutlich würden die Vorschläge sogar in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt werden. Der Sozialismus hätte niemals den Erfolg, den er derzeit verzeichnet, wenn er sich gegen den Individualismus wenden würde.

Vielmehr ist der Sozialismus salonfähig, weil er den Individualismus bedient, man könnte sogar sagen, weil er es geschafft hat, sich als Speerspitze des Individualismus zu verkaufen. Der Sozialismus stellt seine Forderungen im Namen der Freiheit des Individuums. Das ist der Grund, weswegen er in den freiheitlichen, westlichen Gesellschaften nicht auf fundamentalen Widerstand stößt.

In diesem kurzen Artikel möchte ich diese These durch einige Beispiele untermauern. Zahlreiche Forderungen, die der Sozialismus im Laufe der Zeit aufgestellt hat, zahlreiche seiner Appelle an den Staat, in die Marktwirtschaft einzugreifen, wurden und werden gerade auch von Liberalen vorgebracht. Es handelt sich nämlich regelmäßig um Staatseingriffe, die den Individualismus in der Gesellschaft erhöhen sollen und allein schon deswegen nicht auf erbitterten Widerstand stoßen.

… die Liberalen [wollten] die Trauung zur Staatsaufgabe machen …

Beginnen möchte ich mit einem Blick auf die Familienpolitik. Ein zentrales Anliegen des Sozialismus war seit jeher die Zerschlagung der traditionellen Ehe und Familie. In der jüngeren Geschichte fanden sich nun immer wieder auch Liberale, welche dieses Ziel mit den Sozialisten teilten. Im Kulturkampf (2. Hälfte des 19. Jahrhunderts) waren es insbesondere die Liberalen, die den Anspruch der Kirche bekämpften, als alleinige Institution über Eheschließungen zu bestimmen. Stattdessen wollten die Liberalen die Trauung zur Staatsaufgabe machen, was ihnen mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe auch gelang. Der Staat sollte die kirchlichen Zwänge von den Schultern des einzelnen nehmen und aus einer traditionellen und religiösen Institution ein reines Vertragsverhältnis zwischen Individuen machen. Ganz besonders deutlich sieht man die gegen die traditionelle Familie gerichtete Stoßrichtung des Liberalismus wieder neuerdings im Verhalten der FDP. Noch in der Opposition legte sie 2021 einen Gesetzesentwurf „zur Stärkung der geschlechtlichen Selbstbestimmung“ (Drucksache 19/20048) sowie den Antrag „Geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Europäischen Union schützen“ (Drucksache 19/10553) vor. Beide sollten natürlich die Entscheidungsfreiheit des einzelnen vergrößern, wie schon die Titel deutlich machen, aber beide richteten sich auch gegen die traditionelle Familie. Bezeichnenderweise stimmten neben der FDP auch die Fraktionen der Linkspartei und der Grünen für diese Initiativen.

Es gibt im übrigen auch zahlreiche Einschränkungen des Privateigentums, die sowohl von Sozialisten als auch von vielen Liberalen gefordert werden …

Es gibt im übrigen auch zahlreiche Einschränkungen des Privateigentums, die sowohl von Sozialisten als auch von vielen Liberalen gefordert werden – stets im Zeichen des Individualismus. Da wäre als wichtiges Beispiel die Einschränkung des Erbrechts zu nennen. Es klingt für viele wie ein Vorschlag aus der Mottenkiste des Sozialismus, wenn Erbschaften beschränkt oder abgeschafft werden sollen, um Ungerechtigkeit zu beenden und Gleichheit zwischen den Menschen herzustellen. Zahlreiche Liberale stellten und stellen aber ganz ähnliche Überlegungen an. Ihnen geht es dabei darum, daß Wettbewerb nur dann funktionieren kann, wenn alle Marktteilnehmer die gleichen Startchancen haben. In den USA trat beispielsweise der liberale Wirtschaftsnobelpreisträger James M. Buchanan (1919-2013) für die Erbschaftssteuer ein. In Deutschland kann man den Neoliberalen Alexander Rüstow (1885-1963) nennen, der hierzu bemerkte:

Offenbar entspricht es nicht den Grundsätzen eines fairen, allein auf die Leistung abgestellten Wettbewerbs, wenn in ihm ein Wettbewerber nur dadurch einen wesentlichen und vielleicht uneinholbaren Vorsprung hat, daß er bei der Wahl seiner Eltern die nötige Vorsicht walten ließ und als Sohn eines reichen Vaters startete.[4]

Rüstow plädierte für eine Reform des privaten Erbrechts, um wirtschaftliche Startgleichheit herzustellen. Es ging ihm darum, eine funktionierende Marktwirtschaft auf individualistischer Basis zu ermöglichen. Indem er dieses Ziel verfolgte, verlangte er Maßnahmen, die wir eigentlich dem Sozialismus zuordnen würden.

Hayek rechtfertigt hier also den staatlichen Zwang, sofern er dazu dient, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse zu verhindern und individualistische Strukturen zu ermöglichen.

Selbst der Sozialstaat wird von Sozialisten und Liberalen gleichermaßen im Namen der Freiheit des einzelnen gefordert. Friedrich von Hayek (1899-1992) schreibt, daß der Sozialstaat wohl selbst „von den konsequentesten Verteidigern der Freiheit“ akzeptiert werden könne, solange er ein bestimmtes Maß nicht überschreite. Dabei geht es ganz explizit um die Freiheit des einzelnen, die der Sozialstaat laut Hayek ermöglicht. Zwar sei staatlicher Zwang nötig, um die öffentlichen Sozialleistungen vor Mißbrauch zu schützen. Dieser Zwang sei aber geboten, da er dabei helfe „vorzubeugen, daß das Individuum einem noch größeren Zwang im Interesse von anderen ausgesetzt wird.“[5] Hayek rechtfertigt hier also den staatlichen Zwang, sofern er dazu dient, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse zu verhindern und individualistische Strukturen zu ermöglichen.

Was den Sozialismus vom Liberalismus unterscheidet, sind offenbar weder die Weltanschauung noch die grundlegenden Werte. Beide sind im wesentlichen individualistische Ideologien. Sozialisten denken ähnlich wie alle anderen Bewohner des Westens auch.

Was Sozialisten von Nicht-Sozialisten unterscheidet, ist nicht ein grundsätzlicher Dissens in den Werten. Wenn man es auf den Punkt bringen will, geht es eigentlich hauptsächlich darum, wie die Institution des Privateigentums wahrgenommen wird. Es geht um die Frage, ob das Privateigentum mit einer individualistischen Gesellschaftsordnung vereinbar ist oder nicht. Die bürgerlichen und liberalen Parteien stehen dem Privateigentum traditionell positiv gegenüber, halten es für eine zentrale Voraussetzung für individuelle Freiheit und Wohlstand, die zwar vielleicht an manchen Stellen eingeschränkt, nie jedoch aufgehoben werden dürfe. Die Sozialisten lehnen das Privateigentum dagegen ab. Sie lehnen es aber nicht deswegen ab, weil sie gegen individuelle Freiheit wären. Im Gegenteil, für sie ist das Privateigentum gerade der Grund dafür, warum es keine individuelle Freiheit für die besitzlosen Klassen gibt. Privateigentum an den Produktionsmitteln ist für Sozialisten die Voraussetzung für die Ausbeutung der Arbeiter durch die Kapitalisten. Nur durch die Abschaffung des Privateigentums könnte auch die Arbeiterklasse in das Stadium der individuellen Freiheit eintreten.

Das heißt also, daß selbst die Forderung nach der Kollektivierung des Privateigentums, nach der Verstaatlichung der Produktionsmittel, im Namen des Wertekanons der westlichen Gesellschaften geschieht. Es geht um die Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, um die Herstellung des wahren Individualismus. Es kann somit eigentlich nicht Wunder nehmen, daß der Sozialismus salonfähig ist und die fundamentale Opposition gegen den Sozialismus so schwerfällt.

Die Geschichte zeigt, daß auch und gerade Liberale dazu neigen, den Staat als Instrument zu benutzen, um Gleichberechtigung und Freiheit für alle durchzusetzen.

Nach meinem Dafürhalten ist es aus diesem Grund auch nicht möglich, eine Brandmauer gegen die sozialistischen Werte zu errichten. Diese Werte sind zu sehr mit denjenigen der Mehrheitsgesellschaft verwandt, als daß die Mauer nicht von vorneherein bröckeln würde. Eine bessere Möglichkeit dürfte darin bestehen, auf die Gefahr des Totalitarismus aufmerksam zu machen, die gerade auch in solchen staatlichen Maßnahmen steckt, die den Individualismus fördern und die Grund- und Menschrechte zu stärken vorgeben. Der Grundsatz sollte lauten: „Ich fürchte den Staat, auch wenn er Geschenke bringt.“ Die Geschichte zeigt, daß auch und gerade Liberale dazu neigen, den Staat als Instrument zu benutzen, um Gleichberechtigung und Freiheit für alle durchzusetzen. Das Problem, das dabei übersehen wird, ist, daß die Bedrohung des einzelnen durch den Staat in dem Maße wächst, wie der Staat den einzelnen aus den traditionellen Bindungen und Institutionen befreit.[6]

Wie sähe zum Beispiel der Finanzmarkt ganz ohne Staatseingriffe aus?

Es geht demnach nicht an, mit dem Finger auf Sozialisten zu zeigen und ihre Weltanschauung lächerlich zu machen oder zu verteufeln. Dieser Schuß geht nur allzu leicht nach hinten los. Stattdessen tut es not, sich an der eigenen Nase zu packen. An welcher Stelle verlassen wir uns auf den Staat, oder akzeptieren ihn und seine Folgen stillschweigend, nur deswegen, weil es uns ideologisch in den Kram paßt? Hier müßte man ansetzen und mit gutem Beispiel vorangehen. Wahrscheinlich müßte man sogar die eine oder andere heilige Kuh schlachten. Wie sähe zum Beispiel der Finanzmarkt ganz ohne Staatseingriffe aus? Gäbe es ihn überhaupt in seiner heutigen Form, wenn die zahlreichen, staatlich zugesicherten Haftungsbeschränkungen beseitigt würden? Nur, wenn der Liberalismus hier keine Scheuklappen kennt, besteht die Möglichkeit, daß er einen klaren und eindeutigen Weg aufzeigt, wie verhindert werden kann, daß wir uns gemeinsam mit den Sozialisten auf einen mit guten Absichten gepflasterten Weg zur Hölle begeben.

[1] https://www.youtube.com/watch?v=aMcjxSThD54 ab 25:12

[2] Vgl. Fukuyama, Francis: Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, New

York: Farrar, Straus and Giroux 2018, S. 106

[3] McWilliams, William C.: Politics, in: American Quarterly 35(1/2), 1983, S. 19–38, hier S. 27

[4] Rüstow, Alexander: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, Godesberg: Helmut Küpper 1949, S. 49

[5] Beide Zitate aus: Hayek, Friedrich A. v.: The Constitution of Liberty, London/New York: Routledge 2006, S. 249

[6] Diesen Punkt habe ich in meinem letzten Artikel auf www.misesde.org ausgeführt: https://www.misesde.org/2022/01/wie-totalitaere-strukturen-in-individualistischen-gesellschaften-entstehen-und-was-der-moderne-staat-damit-zu-tun-hat/

Dr. Eduard Braun hat im Jahr 2011 bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann an der Universität Angers (Frankreich) promoviert und ist Privatdozent an der Technischen Universität Clausthal-Zellerfeld, (https://www.wiwi.tu-clausthal.de/ueber-uns/abteilungen/volkswirtschaftslehre/ueber-uns/team/dr-rer-pol-eduard-braun).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

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