Steuern – Einstimmigkeit und Freiwilligkeit als einzig mögliche Vernunftkriterien

28. Januar 2022 – von Antony P. Mueller

[Auszug aus dem Buch Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie: Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik. Der Text ist dem Abschnitt “Steuerpolitik” entnommen.]

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Steuerpolitik

Antony P. Mueller

Dass das Steuersystem ein Chaos ist, von dem niemand außer Steuerberatern profitiert, dürfte den meisten Kennern offenbar sein. Nicht einmal der Staat selbst gewinnt vom Wirrwarr, denn die Steuerpolitik schwächt die wirtschaftliche Leistung insgesamt. Wenn, dann kommt der Steuerwirrwarr den Großkonzernen zugute, allerdings nur indirekt, indem diese es besser als andere verstehen, Steuern zu vermeiden, und, wenn das nicht geht, auf ihre Kunden und Mitarbeiter abzuwälzen.

Steuerzwecke

Auf dem Gebiet der Steuerpolitik hat sich das Verhältnis zwischen den fiskalischen und nicht fiskalischen Steuerzwecken umgekehrt. Heute dominieren die vormals als Nebenzwecke bezeichneten nicht fiskalischen Ziele die Steuerpolitik. Die Steuerzwecke umfassen inzwischen das gesamte Spektrum der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Anliegen, die sich nach Belieben unterteilen lassen, sodass diese von wohnungspolitischen bis kulturpolitischen, von raumordnungspolitischen bis zu konjunkturpolitischen Zwecken reichen. Um das Fass vollzumachen, haben sich nunmehr noch die klima- und umweltpolitischen Zielsetzungen hinzugesellt, wobei es inzwischen so ist, dass sich alle anderen Ziele an der Klimapolitik ausrichten sollen.

Die Steuer ist mit nicht fiskalischen Funktionen überfrachtet worden. Als Folge verfährt die Steuerpolitik ohne Prinzipien, und insoweit ihre Erhebung ein zentraler Teil der Staatsfinanzen ist und das Budgetrecht zu den herausragenden Privilegien des Parlaments zählt, ist die gesamte Politik prinzipienlos geworden.

Die Besteuerung dient als Handhabe, Sondergruppen Vorteile in Aussicht zu stellen.

Steuerpolitik ist heute Teil der Gesellschaftspolitik, in die alles hineingepackt wird, was der jeweiligen politischen Opportunität entspricht. Wegen der dem Steuerrecht fälschlicherweise zugeschriebenen leichten Handhabbarkeit und Geschmeidigkeit glauben die Regierenden, in der Steuer ein hervorragendes Instrument der politischen Zielverfolgung zu besitzen. Eine solche Sicht betrachtet die Steuer in einer höchst oberflächlichen Weise. Die Besteuerung dient als Handhabe, Sondergruppen Vorteile in Aussicht zu stellen. Dabei kommt es weniger auf die tatsächlichen Effekte der Maßnahme an, als für die Partei Geldzuwendungen und letztlich Stimmen einzuheimsen. Um die distributive Tiefenwirkung der eingesetzten Mittel zu bestimmen, müsste man die Inzidenz der Steuer und der Ausgabenwirkungen erfassen einschließlich ihrer Wirkung auf Produktion, Konsum und Sparen. Eine solche Erkenntnisleistung übersteigt die Möglichkeiten.

Widersprüchlichkeit

Der politische Vorteil der Besteuerung besteht darin, dass man die in der Absicht liegende Vorteilsgewährung den Zielgruppen deutlich machen kann, während die tatsächlichen Kosten – ganz zu schweigen von den Opportunitätskosten – verdeckt bleiben. So befriedigt man die vom Klima- und Umweltschutz begeisterten Wähler mit einer Steuer, die diesen Namen trägt und von der die beabsichtigte Wirkung postuliert wird. Ihre tatsächliche Wirkung, die eher das Gegenteil zur Folge hat, wird nicht erfasst. Steuerpolitik ist ein „abgekartetes“ Spiel, das darin besteht, vermeintliche Vorteile für einzelne Personengruppen zu versprechen, die zu Lasten der anonym bleibenden Gesamtheit gehen.

In diesem perversen Konkurrenzkampf weitet sich die staatliche Vorteilsgewährung stetig aus. Wähler und Parteienspender sehen wesentlich nur das Begünstigungssystem und ignorieren die Gesamtkosten. Während der Eigennutz in der privaten Wirtschaft von höchstem Vorteil ist, wirkt er im öffentlichen Raum pervertiert, da die Beziehung zwischen Nutzen und Kosten durchbrochen ist.

Der vermeintliche Nutzen wird individuell internalisiert, während die Kosten anonymisiert und generalisiert werden. Diese Gemengelage führt unaufhaltsam dazu, dass die Steuerlast im Gerangel um die staatliche Vorteilsgewährung nicht nur mehr und mehr wächst, sondern das Steuerrecht immer komplizierter und unüberschaubarer wird.

Darüber hinaus zeugt die Handhabung des Steuerrechts – nicht zuletzt beim sogenannten Klimaschutz – von der Täuschung, die Wissenschaft sei imstande, passgenaue Prognosen über komplexe Sachverhalte abzugeben.

So präsentiert sich heute das Steuerrecht in einer verwirrenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit.  Dahinter steht der Irrglaube, man hätte mit der Steuer ein Medium zur Hand, das die maßgerechten Anpassungen an die einzelnen gesellschaftlichen Anforderungen erlaube und geeignet sei, spezifisch Ungerechtigkeiten zu beseitigen und die Gesamtwohlfahrt zu fördern. Darüber hinaus zeugt die Handhabung des Steuerrechts – nicht zuletzt beim sogenannten Klimaschutz – von der Täuschung, die Wissenschaft sei imstande, passgenaue Prognosen über komplexe Sachverhalte abzugeben.

Diese falschen Vorstellungen führen dazu, dass das moderne Steuersystem irrational und prinzipienlos geworden ist.

Fehlende Begründung

Alle Bemühungen der Theorie der öffentlichen Finanzen haben es nicht geschafft, eine ausreichende Begründung für die heute übliche Weise der Steuererhebung zu liefern. Die meisten theoretischen Darstellungen erschöpfen sich in Klassifikationen und die empirischen Untersuchungen zeigen widersprüchliche Ergebnisse. Weder vonseiten der Jurisprudenz noch von der wirtschaftswissenschaftlichen Finanztheorie ist es gelungen, Steuerprinzipien von universeller Gültigkeit zu erstellen. Was bleibt, ist die Feststellung, dass die derzeit übliche Form der Steuererhebung auf Macht beruht und weitgehend in Willkür besteht.

Nach den Grundsätzen der Staatstheorie bedarf es sowohl für die Besteuerung als auch für die Art ihrer Erhebung der Rechtfertigung. Eine Steuerreform, wenn sie nicht bloße Willkür oder Ausdruck des politischen Machtspiels sein soll, braucht Steuergrundsätze, wobei diese Prinzipien logisch der Steuerrechtfertigungslehre entsprechen müssen. Bei der Steuer handelt es sich um einen der tiefsten Staatseingriffe, denn die Steuerhebung ändert nicht nur die Form der Wirtschaftsaktivität, sondern bestimmt auch die Verteilung der Steuerlast und ändert somit die Einkommens- und Vermögensverteilung.

Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzprinzip

Von Anfang an hat sich die Öffentliche Finanzwissenschaft bemüht, Kriterien der Steuergerechtigkeit zu finden. Bei den Theorien zu Steuerrechtfertigung haben sich das „Leistungsfähigkeitsprinzip“ und das „Äquivalenzprinzip“ als die wichtigsten Ansätze herausgebildet. Es ist bezeichnend, dass den Vertretern des jeweiligen Prinzips die Widerlegung des Gegenprinzips jeweils besser gelingt, als den eigenen Grundsatz zu rechtfertigen.

Dem Leistungsfähigkeitsprinzip liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Steuererhebung der Finanzierung des Gemeinwohls zu dienen hat. Entsprechend sollen die Gesellschaftsmitglieder Opfer erbringen, die gerechterweise nach der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu bemessen seien. Demgegenüber ist das Äquivalenzprinzip darauf ausgerichtet, dass die Besteuerung am Grundsatz der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung zu orientieren sei.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip scheitert daran, dass man das „gerechte Opfer“ nicht bestimmen kann.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip scheitert daran, dass man das „gerechte Opfer“ nicht bestimmen kann. Welche Besteuerung ist gerecht? Die nach dem Grenzopfer, dem gleichen absoluten Opfer oder dem gleichen proportionalen Opfer? Die Modelle der Rechtfertigung scheitern selbst unter der Annahme, das subjektive Opfer sei marginal sinkend vom Einkommen abhängig, man könne intersubjektive Nutzenvergleiche anstellen und dass für alle Steuerzahler die gleiche marginale Nutzenkurve gelte. Nach dem Äquivalenzprinzip kann weder die Finanzierung des Gemeinwohls begründet werden noch eine zielgerechte Umverteilungspolitik.

Die Anwendung eines Progressionstarifs ergibt sich logischerweise aus der Annahme des gleichen marginalen Opfers, wohingegen sich ein proportionaler Steuertarif ergäbe, wenn man vom gleichen proportionalen Opfer ausgehen würde. Unter der Annahme eines gleichen absoluten Opfers und konstantem Grenznutzenverlauf käme man sogar zur Forderung nach einem regressiven Steuerverlauf.

Prinzip der Eistimmigkeit und Freiwilligkeit

Nach dem „Äquivalenzprinzip“ ist jede Umverteilungspolitik zurückzuweisen. Die Zurechnungsprobleme, die bei der Anwendung dieses Prinzips in der Praxis auftauchen, haben zu dem Grundsatz der Einstimmigkeit geführt, wie er maßgeblich in den „finanztheoretischen Untersuchungen“ (1896) vom schwedischen Ökonomen Knut Wicksell (1851-1926) erarbeitet wurde. Nach Wicksell besteht der große Vorteil des Äquivalenzprinzips darin, die staatliche Ausgabenseite zu berücksichtigen. Der Steuerzahler begleicht das, was er an öffentlichen Leistungen erhält. Wie immer das politische System nun ausschaut, folgt daraus der Grundsatz der Einstimmigkeit.

Jedwede Staatstätigkeit ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie einstimmig von den Betroffenen bewilligt wird.

Ob eine staatliche Maßnahme mehr Nutzen als Nachteil erbringt, kann weder durch Mehrheitsentscheidung noch durch Umfragen oder sozio-ökonomische Untersuchungen bestimmt werden. Jedwede Staatstätigkeit ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie einstimmig von den Betroffenen bewilligt wird.

Wenn keine Einstimmigkeit vorliegt, erklärt Knut Wicksell in seinen „Finanztheoretischen Untersuchungen“ (S. 113 f.), „so liegt …. ein aposteriorischer und der einzig mögliche Beweis vor, dass die fragliche Staatstätigkeit der Gesamtheit doch nur einen, dem notwendigen Opfer nicht entsprechenden Nutzen bringen würde.“ Wenn keine Einstimmigkeit zu erhalten ist, muss die jeweilige Staatstätigkeit vernünftigerweise verworfen werden.

Mit dem Prinzip der Einstimmigkeit hat die Finanztheorie klar das einzig mögliche Vernunftkriterium für die Gerechtigkeit der Steuerlast bestimmt. Das wechselseitige Einvernehmen über die Beschlüsse dient als Garantie gegen ungerechtfertigte Steuerlastverteilung. Nicht nur das: Einstimmigkeit und Freiwilligkeit wären auch ein wirksamer Damm gegen die Ausgabenflut und damit gegen die um sich greifende Steuer- und Abgabenbelastung gewesen, wie sie sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Bahn gebrochen hat.

Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmende Demokratisierung und die sie begleitende Herausbildung des Parteienwesens haben dazu geführt, dass der Damm gebrochen ist. Inzwischen liegt die Mehrheit, die über die Staatsausgaben entscheidet, in der Hand derer, die zu ihrer Finanzierung nichts oder nur wenig beitragen. Der Umfang der Nettozahler ist geschrumpft, während die Zahl der Nettoempfänger immer mehr gestiegen ist.

Steuer- und Abgabenflut

Es wäre eine Illusion zu glauben, die Nettoempfänger wären weniger eigennützig als die früheren Machthaber. Es ist vielmehr so, dass sich die Tendenz zum Nettoempfang, wenn das politische System nicht dem Kriterium der Einstimmigkeit, sondern der Mehrheitswahl folgt, ausweitet. Einer wachsenden Zahl von Leistungsempfängern steht eine geringer werdende Anzahl von Leistungserbringern gegenüber. Mit dieser Entwicklungsrichtung ruiniert sich das System von selbst und wandert unaufhaltsam auf dem Kollaps zu.

Wie erleben heute das, was Knut Wicksell in seinen „Finanztheoretische Untersuchungen“ (S. 122) kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts vorausgesehen hat:

Wenn einmal die unteren Klassen definitiv in den Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gestalt gelangt sind, wird … die Gefahr vorliegen, dass sie eben so wenig eigennützig verfahren werden, wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten“. Sie werden „die Hauptmasse der Steuern den besitzenden Klassen auflegen und dabei vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr nun wenig beitragen, so sorglos und verschwenderisch verfahren, dass das bewegliche Kapital des Landes bald nutzlos vergeudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden.“

Dr. Antony P. Mueller (antonymueller@gmail.com) ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br), wo er am Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung und an deren Konjunkturbericht mitarbeitet und im Doktoratsprogramm für Wirtschaftssoziologie mitwirkt. Er ist Mitglied des Ludwig von Mises Institut USA, des Mises Institut Brasilien und Senior Fellow des American Institute of Economic Research (AIER). Außerdem leitet er das Webportal Continental Economics (www.continentaleconomics.com).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.

Titel-Foto: Adobe Stock

 

 

 

 

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