„Die Verheißungen des Sozialismus“. Der Konferenzbericht (Teil 1)

15. Oktober 2021 – von Rainer Bieling

Rainer Bieling

Samstag, 9. Oktober 2021. München, Hotel Bayerischer Hof, 10.30 Uhr. Vorn auf der Leinwand über dem Podium leuchtet in weißer Schrift auf blauem Grund ein Herzlich willkommen zur Ludwig von Mises Institut Deutschland Konferenz 2021 in den großen Saal. Unter der Überschrift „Die Verheißungen des Sozialismus“ steht in klein noch Vergangenheit und Zukunft einer machtvollen Idee, und darunter steht jetzt der Präsident des Ludwig von Mises Instituts Deutschland, Professor Dr. Thorsten Polleit, begrüßt die Teilnehmer und kommt sogleich auf das Anliegen der Konferenz zu sprechen: sie möge ein „Meilenstein“ werden, was die „Wiederbelebung der argumentativen Auseinandersetzung“ betrifft. Auseinandersetzung mit, na klar, der sozialistischen Propaganda, die sich mittels Cancel Culture so „resistent gegen rationale Argumente“ erweist.

Diesen Ball spielt Andreas Marquart, Vorstand des Ludwig von Mises Instituts Deutschland, in seiner Einführung in das Konferenzthema weiter und kommt sogleich auf das Projekt The Great Reset zu sprechen, zu Deutsch „Der große Neustart“ wie Wikipedia weiß. Andreas Marquart zitiert das Onlinelexikon:

Vorstand Andreas Marquart begrüßt die Konferenzteilnehmer

„The Great Reset ist eine Initiative des Weltwirtschaftsforums (WEF), die eine Neugestaltung der weltweiten Gesellschaft und Wirtschaft im Anschluss an die COVID-19-Pandemie vorsieht. Die Initiative wurde von Prinz Charles und WEF-Direktor Klaus Schwab im Mai 2020 vorgestellt und möchte den Kapitalismus verbessern. Investitionen sollen demnach stärker auf nachhaltigen Fortschritt ausgerichtet werden.“ Und weiter: „Prinz Charles betonte während der Präsentation des Planes, dass der darin niedergelegte Inhalt nur mit der Zustimmung der Menschheit geschehen solle.“

Nur mit Zustimmung, immerhin – Andreas Marquart zeigt sich „beruhigt, dass wir alle mitreden dürfen“. Den Kapitalismus verbessern – diese sozialistische Camouflage ist so alt wie Ludwig von Mises’ Buch Die Gemeinwirtschaft, nämlich einhundert Jahre. 1922 erschienen, waren Mises’ Untersuchungen über den Sozialismus, so der Untertitel des Buches, ihrerseits ein Meilenstein, alle möglichen „Holzwege“ zu erkennen, die als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus firmierten und doch nur des Sozialismus’ neue Kleider kaschierten. Die „immer neuen Gewänder“ jener machtvollen Idee zu dechiffrieren und deren Träger zu parieren – eben das erhofft sich Andreas Marquart von den folgenden fünf Vorträgen.

Vortrag 1 Dem ersten Referenten an diesem Samstagvormittag, Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann, der Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich lehrt, fällt die Aufgabe des Rückblicks zu: „Sozialismus – das falsche Ideal. Ein Jahrhundert ‚Die Gemeinwirtschaft’“. Tatsächlich, wer hätte das gedacht, dass 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, dem vollständigen Scheitern des realen Sozialismus im Osten, überall im Westen erneut und mit Inbrunst das tote Pferd von 1789 geritten wird. Bis zur französischen Revolution und der Aufklärung blickt Jörg Guido Hülsmann zurück, um die ersten Fußstapfen eines Menschen sehen zu können, der von politischen Eliten gesteuert sein sollte, weil er allein keinen Fuß vor den anderen setzen könne, ohne – in heutiger Denkungsart – dem Planeten zu schaden.

Über die Revolution von 1848 und den deutschen Kathedersozialismus der 1870er-Jahre, als deutsche Universitätsprofessoren von der Planwirtschaft träumten, folgt der Referent den Fußstapfen bis zur Verwirklichung der professoralen Träume in der Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs seit 1914 und erst recht seit 1916, als das dicke Ende seinen Anfang nahm. 1917 folgte der Staatsstreich der russischen Sozialdemokraten (Bolschewiki), 1919 die Ausrufung der Münchener Räterepublik – unweit des Hotels Bayerischer Hof, dem Tagungsort der Mises Konferenz. Und tatsächlich war es Ludwig von Mises, der 1919 als erster überhaupt die zentralgelenkte Kriegswirtschaft kritisierte, und zwar in seinem Buch Nation, Staat und Wirtschaft im Jahr 1919. Ein Jahr später erschien Mises‘ bahnbrechender Aufsatz Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen. Darin zeigte er die Unmöglichkeit, die Undurchführbarkeit des Sozialismus mit wissenschaftlichen Mitteln auf. Eine bis heute gültige Erkenntnis. Aus diesem Aufsatz entstand nachfolgend Die Gemeinwirtschaft. Untersuchungen über den Sozialismus, veröffentlicht im Jahr 1922.

Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann

Kurioserweise waren die russischen Sozialdemokraten, die sich 1918 in Kommunisten umbenannt hatten, nach nur drei Jahren Kriegskommunismus 1921 zu dem gleichen Schluss gekommen wie Mises: Sozialismus ist unmöglich. Im März 1921 rief Lenin die Neue Ökonomische Politik, kurz NÖP, aus. Wikipedia weiß: „Ihr Hauptmerkmal war eine Dezentralisierung und Liberalisierung in der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie, die der Wirtschaft teilweise auch marktwirtschaftliche Methoden zugestand.“ Der „Stich ins Herz des Sozialismus“, den Hülsmann Ludwig von Mises in seinen Texten der Jahre 1919 bis 1922 mit bestechender Logik ausführen sieht – Lenin hat ihn mit politischem Instinkt gespürt und seinerseits 1921 mit einer drastischen Wende reagiert.

Die Gemeinwirtschaft von 1922 ist ein Buch, das alle Probleme des Sozialismus beleuchtet. Hätten die russischen Kommunisten die gemeinsame Einsicht von der Unmöglichkeit des Sozialismus beibehalten, statt 1928 wieder zur Planwirtschaft zurückzukehren, stünden sie heute wohl längst da, wo die chinesischen Kommunisten stehen, seit sie 1979 ihrerseits von der Planwirtschaft in Teilen abrückten. (Aber dazu wird erst der dritte Referent, Erich Weede, an diesem erkenntnisträchtigen Vormittag sprechen.) Die wichtigste Einsicht, die Jörg Guido Hülsmann aus der Lektüre der Gemeinwirtschaft gewinnt, ist diese: An die Stelle der Verantwortlichkeit des Unternehmers in der Geldwirtschaft (es ist sein Geld oder das seiner Geldgeber, das er investiert) tritt in der Planwirtschaft die Unverantwortlichkeit des Bürokraten (kein Geldverlust bremst dessen Leichtfertigkeit beim Verteilen von Ressourcen). Das Ergebnis: Sozialistische Eliten sind vom Misserfolg ihres Handelns finanziell nicht betroffen – den Schaden tragen allein die Bürger. Jeder frühere Sowjet- oder DDR-Bürger, so er denn alt genug ist, kann ein Lied davon singen.

Es ist diese „strukturelle Unverantwortlichkeit“ der Staatseliten, derentwegen jeder Interventionismus zu dem gleichen Resultat führt: Wenn es mehrere Eigentümer des gleichen Gutes gibt, trägt keiner von ihnen Verantwortung – mit immer neuen Eingriffen setzen die Unverantwortlichen eine Spirale der permanenten Nachbesserung in Gang, bis der Boden erreicht ist: Bruchlandung.

Seit hundert Jahren wissen also Sozialisten, was nicht geht, aber ihr unverantwortliches Handeln schadet ihnen nicht, weil sie selbst nach dem Scheitern ihres Staatssozialismus nicht für den Schaden haften; das tun allein die Bürger, generationenlang, wie der anhaltende Wohlstandverlust in der einstigen DDR zeigt, von der früheren Sowjetunion gar nicht zu sprechen. Warum gedeiht dann die rote Ideologie, 30 Jahre nach ihrem schmählichen Ende im Osten, im Westen erneut in grünem Gewand?

Jörg Guido Hülsmann lenkt den Blick auf den Staatsapparat in den westlichen Demokratien, der große Bereiche der Wirtschaft bereits der Zentralplanung unterworfen hat, am deutlichsten zu erkennen beim Geldwesen: Seit einem halben Jahrhundert sind es staatliche Zentralbanken, die den Preis des Kredites, den Zinssatz, bestimmen und die Geldmenge nach Gutdünken ausweiten. Ausgehebelt ist die Marktwirtschaft auch bereits in den Bereichen, die staatlicherseits unter dem Begriff „System“ firmieren: Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem. Keines funktioniert, beständig wird reformiert. Deshalb sind staatliche Institutionen „Brut- und Nistplätze“ für Sozialisten: „Bürokratien suchen nach Selbstrechtfertigung – nach Problemen.“

Und weil sie für die selbstgeschaffenen Probleme ihrer „Systeme“ keine Lösung haben – und auch keine haben können -, finden sie stets neue Probleme, zuletzt die „menschengemachte Erderwärmung“. Das Adjektiv ist wichtig; denn was menschengemacht ist, legitimiert beides: das Engagement von jungen Menschen, den Kindern des grünen Establishments, und die regulatorischen Maßnahmen der Erwachsenen, die im Besitz der Staatsmacht sind und den Bürgern Vorschriften machen, die deren ökologischen Fußabdruck auf dem Planeten verkleinern sollen. Ein Schuft, wer sich der Klimarettung verweigert.

Die „ideologische Überhöhung einzelner Ideen“ sieht Jörg Guido Hülsmann als Merkmal der aktuellen Bestrebungen staatsorientierter Eliten, sich als Retter und Beschützer der Bürger aufzuspielen, sei es vor der Klimakatastrophe, sei es vor der Gesundheitsgefährdung durch eine Pandemie – immer definiert als globale Herausforderungen, denen niemand anderes als der Staat und seine Diener begegnen können. Hundert Jahre nach Mises’ Gemeinwirtschaft hat zwar die Farbe der sozialistischen Ideologie gewechselt, aber ihr Anliegen ist gleich geblieben: Legitimation von Interventionismus, Expansion des Staates. 

Vortrag 2 Die Expansion des Staates in einen ganz und gar nicht öffentlichen, sondern in den privaten Raum beschäftigt die Publizistin Birgit Kelle seit langem. Am Konferenztag ist sie Gastrednerin, um einen im ökonomisch fokussierten Mises-Umfeld weniger beachteten Gedanken zu entfalten: Wie es sich mit „Mann, Frau und Familie im Sozialismus“ verhält. Dass sie aus eigenem Erleben spricht, macht Birgit Kelle gleich eingangs deutlich: Als Kind im Sozialismus groß geworden, siedelte sie mit ihrer Familie 1984 aus Rumänien nach Deutschland über. Und lernte bald, dass viel zu kurz springt, wer den Gegensatz von Sozialismus und Kapitalismus auf einen Gegensatz zweier Wirtschaftsweisen reduziert. Tief griff der rumänische Sozialismus in das private Leben der Familie ein. Die Kindheitserfahrungen im Osten sensibilisierten sie ungewollt für die Wahrnehmung des Rückfalls hinter die Menschenrechte, der im Westen von heute zu beobachten ist: „Die Gruppe wird wieder wichtig, die Zugehörigkeit zählt.“ Weh dem, der als alter weißer Mann gilt: „Er ist Verlierer – wer oben mitspielen will, muss zur richtigen Gruppe gehören.“

Birgit Kelle während ihres Vortrages „Mann, Frau und Familie im Sozialismus“

Die Attacke zielt aber auch und besonders auf die Familie, stellt sie doch ein Hindernis dar, das staatlicher Einflussnahme im Wege steht. „Die Familie muss dekonstruiert werden“, weil nur so die Mitglieder der Familie vereinzelt und gegeneinander ausgespielt werden können. Erst dann nämlich kann die „Solidargemeinschaft“ zum Zug kommen und sich etwa der „Kindesarmut“ annehmen – als handelte es sich nicht um Eltern- oder Familienarmut. So lassen sich Kinder an den Eltern vorbei behandeln – „der Staat kümmert sich“. Für Birgit Kelle ist das eine Eins-zu-eins-Übertragung aus dem erlebten Realsozialismus, die nur durch ihr „neues Framing“ nicht rumänisch klingt: „Das Wir entscheidet“, wie die deutschen Sozialdemokraten es einst im Wahlkampf versprachen. Für die Referentin „eine Drohung, keine Verheißung“.

Birgit Kelle lässt die sozialistische Dekonstruktion der Familie Revue passieren, auch sie hat mittlerweile eine hundertjährige Geschichte. 1920 erschien das ABC des Kommunismus, ein kurzes Lehrbuch über die Grundsätze des Programms der Kommunistischen Partei Russlands, das die Sozialdemokraten bei ihrer Umbenennung 1918 verabschiedet hatten. Die beiden Autoren Nikolai Bucharin und Jewgeni Preobraschenski popularisierten in ihrem ABC das Projekt der künftigen schönen neuen Welt und räumten auch der „Kinderfrage“ breiten Raum ein: Sie stellten die „gesellschaftliche Erziehung“ in Aussicht, und Birgit Kelle fasst kurz als „Massenkinderhaltung“ zusammen, was später Realität des Realsozialismus werden sollte. Bucharin und Preobraschenski war es nicht mehr vergönnt, den Triumph ihres ABC des Kommunismus zu erleben – von Staats wegen erschossen, der eine 1938, der andere schon 1937.

Wie lebendig hingegen das sozialistische Projekt der „gesellschaftlichen Erziehung“ über die Jahrzehnte blieb, verdeutlicht Birgit Kelle mit einem Zitat des heutigen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aus dem Jahr 2002: Vom Deutschlandfunk gefragt, was die SPD mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung bezwecke, bekannte er: „Wir wollen eine kulturelle Revolution erreichen. […] Und vielleicht kann man das so sagen: Wir wollen die Lufthoheit über den Kinderbetten erobern.“

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die Eroberung der Lufthoheit beachtliche Fortschritte gemacht. Dabei fällt Birgit Kelle ein bemerkenswerter Widerspruch auf: Nicht nur, aber besonders für Die Grünen ist die Natur das höchste Gut, sie gilt es zu retten, im Wortsinn um jeden Preis. Nur für eine Natur gilt das alles nicht: die Natur des Menschen. Deren Geschlechtlichkeit wird als „soziales Konstrukt“ denunziert. Gender ist das Zu-Ende-Denken der alten Idee, „die Frau vom Kind und vom Gebären zu befreien“. Mit Leihmutterschaft und Ganztagsbetreuung findet die „Emanzipation von der eigenen Körperlichkeit“ ihren Höhepunkt und Abschluss. Diese Enteignung des naturgegebenen Körpers verneint den Selbstbesitz und öffnet ihn dem staatlichen Zugriff.

Weitere zwanzig Jahre später hat das Projekt „gesellschaftlichen Erziehung“ alias „Lufthoheit über den Kinderbetten“ einen neuen Namen: „Kinderrechte“ sollen jetzt Verfassungsrang erhalten und dem Staat den Zugriff auf das Kind gegen den Willen der Eltern ermöglichen. „Der Staat ermächtigt sich zum Anwalt der Kinder“, zieht Birgit Kelle Resümee; der Kreis, von Bucharin und Preobraschenski vorgezeichnet, ist hundert Jahre später geschlossen. Dass die „Generation Ahnungslosigkeit“ von alledem nichts weiß, nur zwei Generationen nach den von Krieg und Kalter Krieg gezeichneten, findet Birgit Kelle bestürzend: „Es verkümmern die Sensoren für totalitäres Gedankengut.“ Für das eigentliche Versagen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hält sie das Unvermögen, die Idee der Freiheit weiterzugeben. 

Vortrag 3 Von Freiheit keine Spur, das gibt auch der zweite Gastredner des Vormittags unumwunden zu, als er auf sein Thema zu sprechen kommt: „Chinas Aufstieg – wie Mises‘ „Untersuchungen über den Sozialismus“ helfen, ihn zu deuten und seinen Erfolg abzuschätzen.“ Der Deuter ist Professor Dr. Erich Weede, Emeritus für Soziologie der Universität Bonn. Er beginnt mit dem Bekenntnis, erst spät zur Ökonomie und noch später zu Mises gelangt zu sein. In der Erkenntnistheorie von Karl Popper geprägt, habe er zu Mises ein „zwiespältiges Verhältnis“ entwickelt, ihn als Ökonom geschätzt, aber seine Erkenntnistheorie nicht geteilt. Nach dem erneuten Lesen der zweiten, veränderten Ausgabe von Die Gemeinwirtschaft mit dem Vorwort von 1932 jedoch sei er nicht mehr sicher, dass Popper und Mises tatsächlich zwei Welten der Erkenntnistheorie verkörpern.

Für die Deutung von Chinas Aufstieg erweist sich Die Gemeinwirtschaft nämlich insofern als Schlüsselwerk, als sie alle Elemente nennt, die für einen Aufstieg relevant sind: Nötig ist Privateigentum an Produktionskapital und Unternehmen, um Wettbewerb zu ermöglichen und Preise zu erzeugen. Und für die Abschätzung von Chinas Erfolg sei Ludwig von Mises’ Studie Die Bürokratie von 1944 heranzuziehen, die Erich Weede als „Band zwei der Gemeinwirtschaft“ liest. Hier findet er Anhaltspunkte zur Beurteilung der Erfolgsaussichten: Politiker sind „enorm resistent“ gegen ökonomische Einsichten und staatliche Bürokratie hält sich an Rechtsvorschriften – „geistige Arbeitsteilung“ sei beiden unbekannt. Und nun prüft Erich Weede Mises „als Popperianer“ mittels Falsifikation am Beispiel Chinas und siehe da – alles ist richtig.

Professor Dr. Erich Weede

Erstens – das Scheitern der Planwirtschaft in China. Das sozialistische Projekt der Jahre 1959 bis 1962 lief unter der Parole „Der große Sprung nach vorn“ und sah die Auflösung der traditionellen chinesischen Dorfstruktur, ihrer gewachsenen Eigentumsverhältnisse und ihres familialen Zusammenhalts vor. Stattdessen fasste die Kommunistische Partei jeweils 20.000 bis 30.000 Landbewohner zu einer Volkskommune zusammen – mit „totaler Enteignung der Bauern“. Die landwirtschaftliche Produktion kam schnell zum Erliegen, die Folge waren 40 Millionen Hungertote im Verlauf dieser drei Jahre. Den Kadern der Kommunistischen Partei Mao Tse-tungs attestiert Erich Weede Resistenz gegen ökonomische Einsichten und Verweigerung geistiger Arbeitsteilung. Für die betroffenen Bauern eine Tragödie, die sie das Leben kostete, für uns Heutige, die wir das Leben auskosten wollen, ein Beweis für die Richtigkeit von Mises’ Lehre von der Unmöglichkeit des Sozialismus.

Zweitens – das Gelingen der Marktwirtschaft in China. Der „Große Sprung nach vorn“ dauerte genau so lange wie der Kriegskommunismus in Russland: drei Jahre. Dann deckte sich die praktische Evidenz des Handelns (Lenin, Mao) mit der theoretischen Evidenz des Denkens (Ludwig von Mises). Danach entdeckten beide, Russland und China, die Marktwirtschaft. Anders als in Russland, wo die Neue Ökonomische Politik, kurz NÖP, von oben, von der Staatspartei selbst verordnet – und 1928 erneut kassiert – wurde, verlief die Abkehr von der Planwirtschaft seit 1962 in China schleichend und durch zeitweise Duldung von De-facto-Privatinitiative von unten. Bis 1979 schmierte das Land wirtschaftlich weiter ab, nicht zuletzt durch die Kulturrevolution, die Wirtschaftskreisläufe zerstörte und weiteren Millionen chinesischen Bürgern den Tod brachte.

Warum geht es seit 1979 mit Deng Xiaoping nach drei Jahrzehnten des Abstiegs wieder aufwärts in China? Und wie erfolgreich wird der Aufstieg sein? Für Erich Weede bestätigt sich in dem Handeln Dengs die Richtigkeit von Mises’ Denken: Die Kommunistische Partei löste die Volkskommunen wieder auf, verteilte das Land de facto wieder an die Bauern, erlaubte auf dem Land ein „Verantwortungssystem“, ließ also Märkte und freie Preisbildung zu – „Inseln rationaler Ressourcenallokation“. Später kamen De-facto-Privatunternehmen hinzu, vorausgesetzt, die Unternehmer setzten sich den „roten Hut“ auf, gaben also vor, ihr Unternehmen „für die Allgemeinheit“ zu führen. Zu den De-facto-Unternehmern gesellten sich später die Leiter privatisierter Staatsunternehmen und bildeten „Inseln geduldeten Unternehmertums“ ohne jede Rechtssicherheit.

Erst nach dem Jahr 2000 akzeptierte die Kommunistische Partei Privatkapital und sprach von einem „markterhaltenden Kapitalismus“. Die lokalen Kader rivalisierten um die erfolgreichsten Unternehmen – wer an seinem Standort Erfolg erzielte, konnte und kann bis heute auf der Parteileiter nach oben klettern. Das „chinesische Wunder“ lebt davon, dass die Kommunistische Partei Privatkapital de facto wieder zugelassen hat. Für Erich Weede der Beleg für die Richtigkeit von Ludwig von Mises’ Annahme, dass es Privateigentum an Produktionskapital und Unternehmen brauche, um Wettbewerb zu ermöglichen und Preise zu erzeugen. In den 40 Jahren seit 1979 ist Chinas Wirtschaft um den Faktor 30 gewachsen. Da sich die Bevölkerung in dem gleichen Zeitraum von 700 Millionen auf 1,4 Milliarden Menschen verdoppelt hat, verbucht das Land ein Wohlstandswachstum von 15 Prozent – durch die staatliche Erlaubnis zu marktwirtschaftlichem Handeln

Und genau hier liegt der Pferdefuß, der jede Prognose zunichte machen kann: staatliche Erlaubnis. In dem Augenblick, in dem die Führung der Kommunistischen Partei ihre Erlaubnis widerruft, und eben das tut sie aktuell, zwar nur punktuell, aber mit einschüchternder Wirkung auf viele, die nun eine strukturelle Abkehr vom Deng-Modell befürchten. Den Erfolg von Chinas Aufstieg abschätzen? Erich Weede behilft sich so: Nur wenn der neue „Chairman of Everything“ so ein Mann an der Spitze wird, wie Deng Xiaoping einer war, kann China zur Weltherrschaft gelangen.

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Teil 2 des Konferenzberichtes erscheint am nächsten Freitag (22. Oktober).

Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief. Dort publizierten namhafte Vertreter Österreichischen Schule in den Jahren 2012 bis 2018 regelmäßig; die Beiträge sind seit 2020 im Archiv leider nicht mehr online verfügbar, ebenso wenig die Editorials des Berichterstatters.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Fotos: Rainer Bieling und Andreas Marquart

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