Wilhelm von Humboldts Schrift zur „Bestimmung der Grenzen der Staatstätigkeit“

9. Juli 2021 – Eine Untersuchung, die nichts von ihrer Aktualität verloren hat

von Antony P. Mueller  

Antony P. Mueller

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Angesichts der hemmungslosen Ausweitung des Staates, die gegenwärtig – nicht nur in Deutschland – stattfindet, ist es wieder dringlich geworden, sich der 1792 verfassten Schrift von Wilhelm von Humboldt (1767-1835) zu den Grenzen der Staatstätigkeit zuzuwenden. Alle Argumente Humboldts haben nach wie vor Geltung. Es genügt nicht, nur die Schlussfolgerungen zu wiederholen, genauso wichtig ist es, sich die Begründungen im Einzelnen in Erinnerung zu rufen. Humboldts „Grenzen der Staatstätigkeit“ gelten nicht nur als Standardwerk des deutschen Liberalismus, sondern haben weltweit Anerkennung als einen hervorragenden Beitrag zum liberalen Gedankengebäude gefunden.

Hintergrund

Wilhelm von Humboldt zählt zusammen mit seinem Bruder Alexander zu den bedeutendsten Vertretern des deutschen Geisteslebens. Neben seiner Tätigkeit als Gelehrter erwarb sich Wilhelm von Humboldt auch Verdienste als Bildungsreformer und Vorbereiter der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität genannt).

Wilhelm von Humboldt verfasste die „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ im Jahre 1792. Einzelne Abschnitte daraus erschienen in der Berlinischen Monatsschrift, der gesamte Text wurde aber erst postum 1851 aus dem Nachlass publiziert.

Ausgehend vom Problem „zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll“ (Abschn. I) stellt Humboldt die Frage, ob die Staatstätigkeit die freie menschliche Entfaltung nicht eher behindert als fördert. Die Freiheit des Privatlebens schrumpft in dem Grade, wie der Handlungsbereich des Staates sich ausweitet. Die Menschen neigen dazu, im Hinblick auf ihre Freiheit bequem zu sein. Wie wichtig Freiheit ist, wird erst dann richtig spürbar, wenn sie fehlt.

Einmischung in das Privatleben

Der Staatseingriff betrifft zwei Seiten des Privatlebens. Zum einen den ökonomischen Bereich und damit das Privateigentum. Dabei schwankt die Staatstätigkeit zwischen der Funktion des Schutzes des Privateigentums als Legitimitätsgrund der staatlichen Existenz, andererseits wird die Existenz des Staates auch herangezogen, die fiskalische Aktivität des Staates zu begründen. Die Staatstätigkeit wird somit zu einem Balanceakt zwischen der Funktion, einerseits das Privateigentum zu schützen und dem Eingriff in das Privateigentum, um sich andererseits über Steuern und Abgaben zu alimentieren.

Humboldt geht von der Bestimmung des Menschen aus, wonach die Vernunft des Menschen ihm die höchste (und proportionierlichste) Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen vorschreibt, wofür Freiheit die erste und erlässliche Bedingung ist. Doch damit nicht genug. „Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen.“ (Abschn. II)

Freiheit ist die Voraussetzung, die Individualität möglichst zur Ausbildung zu bringen. Dazu ist Mannigfaltigkeit der Lebenssituationen eine Vorbedingung. Das individuelle Bildungsziel ist es, die persönliche Eigentümlichkeit zur Geltung zu bringen. Dabei darf die Vernunft keine falschen Zugeständnisse machen. Sie würde sich sonst selbst aufgeben.

Für die Bestimmung der Grenzen der Staatstätigkeit folgt daraus „daß jedes Bemühen des Staats verwerflich sei, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger überall da einzumischen, wo dieselben nicht unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den andren haben.“ (Abschn. III)

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Mitteleinsatz

Hinsichtlich der vom Staat angewandten Mittel ist dabei zu unterscheiden zwischen dem direkten Mittel der Anwendung von Zwang (befehlende und verbietende Gesetze mit den entsprechenden Strafen) und der mittelbaren Weise, indem die Staatstätigkeit Charakter und Denkungsart beeinflusst.

Es ist von Übel, dass der Staat versuche, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, also das zu tun, was heute Wirtschaft- und Sozialpolitik genannt wird. Humboldt lehnt den Interventionismus ab, da der Staatseingriff Einförmigkeit und eine der Privatgesellschaft fremde Handlungsweise mit sich bringt.

Der Staatseingriff hat die Konsequenz, die Kräfte der Menschen zu schwächen. Die der Privatwirtschaft eigentümliche Dynamik erlahmt, je mehr die Menschen ihren Lebensunterhalt vom Staat erhalten.  Die vom Eingriff betroffenen Menschen werden von Bürgern zu Untertanen. Die Macht des Staates hemmt die individuelle Entfaltung (Abschn. III): „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte.“

Die Staatstätigkeit will in erster Linie Ruhe im Land und damit Einförmigkeit. Die Menschen wollen aber Mannigfaltigkeit und eigenes Tätigsein. Wer diese menschliche Neigung nicht anerkennt, so Humboldt, steht im Verdacht, dass er „aus Menschen Maschinen machen will“. Mit dem Anwachsen des Staatsanteils schrumpft notwendigerweise die Reichweite des Privateigentum. Damit schwindet auch der Enthusiasmus der Menschen, eigenständig tätig zu sein. „Anordnungen des Staats aber führen immer mehr oder minder Zwang mit sich, und selbst wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken.“ (Abschn. III)

Der betreute Mensch glaubt sich durch fremde Hilfe der eigenen Sorge überhoben und damit verrückt sich die Vorstellung von Verdienst und Schuld. „Er glaubt sich nun nicht bloß von jeder Pflicht frei, welche der Staat nicht ausdrücklich auflegt, sondern sogar jeder Verbesserung seines eignen Zustandes überhoben …“. (Abschn. III). Ein Automatismus kommt in Gang, wonach der bevormundete Mensch auch die wenige Freiheit, die er noch als Rest haben mag, leichtfertig aufgibt: „Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern.“

Je weiter die Staatstätigkeit um sich greift, desto kälter werden die Beziehungen der Menschen zueinander. Wo jeder sich auf die Hilfstätigkeit des Staates verlässt, erlahmt auch die freiwillige gegenseitige Hilfeleistung.

Es geht gar nicht anders, als dass mit der Ausdehnung der Staatstätigkeit der Staatsapparat wächst. Die Verwaltung der Staatsgeschäfte wird zu einem Ungetüm detaillierter Einrichtungen und der staatliche Personalbestand steigt. Die Verwaltungsbeamten haben es dabei vorzugsweise mit der ordnungsgemäßen Ausführung von Vorschriften zu tun. Humboldt diagnostiziert, dass diese auf „Zeichen und Formeln“ ausgerichtete Tätigkeit viele treffliche Köpfe dem Denken und einer nützlichen Arbeit entzieht und sie in leerer, einseitiger Beschäftigung gefangen hält. Die geistigen Kräfte der Staatsbeamten lassen in einem solchen Umfeld nach und in der Folge verrücken sich die Maßstäbe und Gesichtspunkte des „Wichtigen und Unwichtigen, Ehrenvollen und Verächtlichen, des letzten und der untergeordneten Endzwecke…“ (Punkt 6, Abschn. III)

Aus diesen Überlegungen folgert Humboldt als ersten Grundsatz: „der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem andren Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.“ (Punkt 7, Abschn. III)

Erziehung, Religion und Sittlichkeit

Eine spezielle Bürgererziehung, die die Tendenz erhält, den Bürger vor den Menschen zu stellen, würde ihren Zweck verfehlen und eher Untertanen heranziehen. Für eine gute Erziehung bedarf es nicht des Staates. In einer freiheitlichen Gesellschaft blühen nicht nur Gewerbe, Kunst und Wissenschaft, auch werden die Eltern bestrebt sein, für ihre Kinder zu sorgen. Es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Fortkommen nicht von der Beförderung durch den Staat abhängt, sondern vom Erfolg ihrer Arbeiten. In einer freien Gesellschaft, so Humboldt, wird es daher „weder an sorgfältiger Familienerziehung noch an Anstalten so nützlicher und notwendiger gemeinschaftlicher Erziehung fehlen.“ (Abschn. VI)

Desgleichen gilt auch für die Religion. Indem die Wirksamkeit der Religion auf der individuellen Beschaffenheit der Menschen beruht, bedarf es bei manchen Menschen keines Religionsgrundes, um tugendhaft zu handeln. Für Humboldt entspringt die wahre Religiosität aus dem „innersten Zusammenhange der Empfindungsweise des Menschen“. Der Staat darf die Religiosität nicht direkt fördern oder leiten.“ Vielmehr soll gelten, „daß alles, was die Religion betrifft, außerhalb der Grenzen der Wirksamkeit des Staats liegt und daß die Prediger, wie der ganze Gottesdienst überhaupt, eine ohne alle besondre Aufsicht des Staats zu lassende Einrichtung der Gemeinen sein müßten.“ (Abschn. VII)

Auch um die sogenannte Sittlichkeit sich zu sorgen, besteht kein Grund. Selbst wenn die Sinnlichkeit auch die Quelle einer großen Menge physischer und moralischer Übel ist, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass „die Sinnlichkeit mit ihren heilsamen Folgen durch das ganze Leben und alle Beschäftigungen des Menschen verflochten ist“ und dadurch zu achten und ihr Freiheit zu gewähren ist.

Jedes Bemühen des Staates ist bedenklich, der Ausschweifung der Sitten entgegenzutreten oder ihnen zuvor kommen zu wollen.

Grundsatz der Notwendigkeit, nicht Nützlichkeit

Humboldts Ausführungen folgen zum allgemeinen Schluss, dass die Staatstätigkeit strikt dem Prinzip der Notwendigkeit und nicht der Nützlichkeit unterworfen ist. Dieses „Prinzip der Notwendigkeit“ (Abschn. XVI) wird von der Eigentümlichkeit des natürlichen Menschen in seiner Individualität bestimmt. Das Nützliche hingegen, im Unterschied zum Notwendigen, zeigt nur Grade an, die so gleichsam unendlich sind und immer neue Veranstaltungen herausfordern. Das Nützliche erfordert stets neues Tätigwerden, während das Notwendige die Staatstätigkeit negativ als Prinzip bestimmt.

Eine auf die Nützlichkeit gründende Rechtfertigung der Staatstätigkeit treibt den Staatseingriff immer weiter voran. Das Nützliche „erlaubt keine reine und gewisse Beurteilung. Es erfordert Berechnungen der Wahrscheinlichkeit, welche, noch abgerechnet, daß sie ihrer Natur nach nicht fehlerfrei sein können, Gefahr laufen, durch die geringsten unvorhergesehenen Umstände vereitelt zu werden …“ Die Grade des Nützlichen sind unendlich. Sie fordern immer weitere Betätigung. Das Notwendige hingegen ist, da unentbehrlich, immer auch nützlich.

Die Eigentümlichkeit des natürlichen Menschen bestimmt die Grenzen dieser Notwendigkeit. Das Prinzip der Notwendigkeit steht im Einklang „mit der Ehrfurcht für die Individualität selbsttätiger Wesen und der aus dieser Ehrfurcht entspringenden Sorgfalt für die Freiheit…“. (Abschn. XVI)

Die Begründung von Staatstätigkeit über die Nützlichkeit führt dazu, dass immer mehr Tätigkeiten als Gebiete der Staatstätigkeit in Frage kommen. Damit wird aber auch die Begründung in Kategorien der Nützlichkeit immer fragwürdiger und die Lageanalyse verkompliziert sich. Ganz anders ist es mit dem Prinzip der Notwendigkeit bestellt, denn „mit der Befolgung dieses Prinzips wird die Lage immer einfacher und diese Einsicht immer leichter“. (Abschn. XVI)

Schlussbetrachtung

In Humboldts Essay klingen alle die Prinzipien an, die im Laufe der vergangenen beiden Jahrhunderte bis in unsere Zeit hinein von liberalen Denkern weiterentwickelt wurden. Drei Aspekte stechen jedoch hervor:

Erstens der Gedanke, dass die Staatstätigkeit prinzipiell in ihre Schranken zu weisen ist, und die Grenzen nicht durch Nützlichkeitsdenken aufgeweicht werden dürfen.

Zweitens das Prinzip, dass je mehr der Staat sich ausdehnt, die gesellschaftlichen Kräfte erlahmen und das Gemeinschaftsleben erkaltet.

Drittens der Grundsatz, dass auch bei Fragen der Erziehung, Religion und Sittlichkeit, der Staat nichts zu befehlen hat.

Antony P. Mueller ist promovierter und habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor für Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS. Er unterhält das Webportal Continental Economics und eine Autorenseite bei Facebook. In Kürze erscheint auf Deutsch sein Buch „Pluralistischer Kapitalismus. Wirtschaft und Gesellschaft jenseits von Staat & Politik“. Wer Interesse hat, besonders im Hinblick auf eine mögliche Besprechung, kann direkt beim Autor jetzt schon eine PDF-Version kostenlos anfordern. E-Mail: antonymueller@gmail.com

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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