Ludwig von Mises. Der kompromisslose Liberale

16. Juli 2021 – Eine Hin- und Einführung in Leben und Werk von Ludwig von Mises.

Ein Referat von Thorsten Polleit. Gehalten am 9. Juli 2021 auf der Liberty Summer School 2021 des Liberalen Instituts Zürich in Weggis, Schweiz.

[Hier können Sie diesen Beitrag als Podcast hören.]

1.

Mein Referat ist eine kurze Hinführung zu und Einführung in Leben und Werk von Ludwig von Mises.

Thorsten Polleit

Seine ökonomischen und erkenntnistheoretischen Wissensbeiträge sind höchst relevant für uns im Hier und Jetzt. Das lässt sich mit einer ganzen Reihe von akuten Problemstellungen aufzeigen. Eine zentrale will ich an dieser Stelle herausgreifen.

Die Menschen in den modernen Gesellschaften – so lässt sich wohl ohne allzu große Vereinfachung sagen – streben nicht nach Freiheit von Herrschaft, sondern nach Beteiligung an der Herrschaft;[1] anders gesagt: Die meisten Menschen scheinen sich mit der Beteiligung an der Herrschaft zu begnügen, sie fordern nicht die Freiheit von Herrschaft.

Dadurch wird unweigerlich – und ich sage hier zudem: unheilvollerweise – der Politik eine zentrale Stellung im Leben der Menschen eingeräumt: Sie wird ermächtigt, dazu angehalten, sich in alle Lebensbereiche einzumischen.

Es kommt zu einer Politisierung von allem und jedem. Zudem werden in einer wissenschaftsgläubigen Zeit politische Streitfragen – die meist Ziele und Wertvorstellungen betreffen – zusehends zu Wissenskonflikten umgemünzt.

Wer für seine politische Position (wie auch immer sie lautet) wissenschaftliche Unterstützung vorweisen kann, vor allem wenn er den Wissenschaftskonsens im Rücken hat, der hat gute Chancen, den Sieg davonzutragen.

Eine Verwissenschaftlichung politischer Streitfragen klingt zwar zustimmungswürdig. Das wäre jedoch vorschnell geurteilt; der Teufel steckt bekanntlich im Detail.

Zum einen stellt sich die Notwendigkeit, wissenschaftliche Ergebnisse zu beurteilen. Nur weil man Wissenschaftlichkeit beansprucht, heißt das noch nicht, dass man die Wahrheit gefunden hat.[2]

Zur Klärung von Wahrheitsansprüchen muss man sich auf die Ebene der Erkenntnistheorie begeben. Hier herrscht nun aber alles andere als Konsens. Über die Frage, welche Aussagen richtig und falsch sind, was wahr und unwahr ist, wird hier seit je her heftig gestritten.

Und wer sich mit der Erkenntnistheorie beschäftigt, der weiß, wie beschränkt und unvollständig letztlich unser menschliches Wissen ist, gerade auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Was hier häufig als Wissen verkauft wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nicht selten als Scheinwissen.

Zum anderen ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass, wenn man politische Streitfragen in Wissenskonflikte übersetzt, insbesondere die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften politisch vereinnahmt und zur Erreichung von politischen Zielen instrumentalisiert werden.

Es sei betont, dass ein solcher Verdacht sich natürlich nicht auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaft beschränken sollte. In Zeiten des Klimawandels und der Coronavirus-Krise sind auch kritische Fragen nach dem Wahrheitsgehalt naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse und ihrer Interpretation, nach ihrer politischen Unabhängigkeit zu stellen – zumal ja die Wissenschaft mehr denn je auf der Gehaltsliste des Staates steht, und auch Wissenschaftler der Versuchung erliegen können, sich der Macht und den Mächtigen anzudienen.

Ludwig von Mises – als Ökonom und Gesellschaftsphilosoph – war für diese Problematik – der Politisierung der Wirtschaftswissenschaft, ihren Missbrauch durch Sonderinteressengruppen – sensibilisiert. Daher ist es nicht überraschend, dass Mises der Frage nach der “richtigen Methode” in der Wirtschaftswissenschaft besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat: der Frage also, wie man in der Volkswirtschaftslehre zu richtigen, zu wahren Aussagen gelangen kann.

Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Anmerkungen will ich nun einsteigen in Mises’ Leben und Werk.

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2.

Ludwig Heinrich Edler von Mises wird am 29. September 1881 als ältester Sohn einer jüdischen Familie in Lemberg (damals die Hauptstadt des Kronlandes Galizien, heute Lwiw, Ukraine) geboren.

Ab 1900 studiert Mises Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien. 1903 liest er Carl Mengers Buch „Grundsätze der Volkswirtschaftslehre“ (erschienen 1871), und nach eigenem Bekunden hat Mises diese Lektüre zum Ökonomen werden lassen. Mises promoviert 1906 an der Wiener Universität.

Nach verschiedenen rechtsanwaltlichen Tätigkeiten wird Mises 1909 Sekretär bei der Wiener Handelskammer, eine Position, die er bis 1934 ausübt.

Seine Habilitation erscheint 1912, sie heißt „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel“. Es ist eine bahnbrechende Schrift in der Geldtheorie.

Einige wichtige Erkenntnisse daraus seien hier kurz genannt. – Mises setzt sich eingehend mit der Frage auseinander, was den Tauschwert des Geldes bestimmt.

Es gelingt ihm, die Wertbestimmung des Geldes (also die Erklärung des objektiven Tauschwertes des Geldes) in die subjektive Wertlehre, in die Grenznutzenschule, zu integrieren.

Geld, so Mises, ist ein Gut wie jedes andere Gut auch. Und folglich unterliegt es dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens.

Es besagt, dass der Grenznutzen der zusätzlich erhaltenen Geldeinheit abnimmt – denn sie kann nur zur Befriedigung eines Bedürfnisses verwendet werden, das weniger dringlich ist, als das Bedürfnis, das mit der zuvor verausgabten Geldeinheit gestillt wurde.

Daraus folgt kurz gesagt: Eine Erhöhung der Geldmenge in der Volkswirtschaft senkt den Tauschwert der Geldeinheit ab, ist also – im modernen Sprachgebrauch – inflationär.

Mises erklärt weiterhin, dass das Geld nur eine Funktion hat: die Tauschmittelfunktion. Und dass alle anderen Geldfunktionen abgeleitet sind von der Tauschmittelfunktion des Geldes.

Jede gerade vorherrschende Geldmenge übt so gut und so schlecht ihre Gelddienste aus wie jede andere auch. Eine gegebene Gütermenge lässt sich mit einer großen Geldmenge von, sagen wir, 10.000 Mrd. Euro oder einer kleinen Geldmenge von, sagen wir, 5.000 Mrd. Euro umsetzen. Im ersten Fall fallen die Güterpreise höher aus als im zweiten Fall.

Die Geldmenge in einer Volkswirtschaft muss nicht wachsen, damit Geld seine Funktion zufriedenstellend leistet. Eine Vermehrung der Geldmenge stiftet keinen gesamtwirtschaftlichen Nutzen, so Mises.

Sie sorgt nicht nur – wie bereits gesagt – für einen Rückgang des Tauschwertes der Geldeinheit, sie sorgt auch für eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen zwischen den Menschen. Die Erstempfänger des neuen Geldes gewinnen auf Kosten der Spätempfänger. Die Vermehrung der Geldmenge ist so gesehen nicht verteilungsneutral, sie schafft stets Gewinner und Verlierer.

Auch legt Mises in „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel“ die Grundlage für die monetäre Konjunkturtheorie – die zu einem Kernelement der Österreichischen Schule der Nationalökonomie werden wird –, und die auf Arbeiten von David Ricardo, Eugen von Böhm-Bawerk und Knut Wicksell aufbaut.

Mit seiner „monetären Krisentheorie“ zeigt Mises auf, dass die Ausgabe von ungedecktem Geld (er spricht von „Umlaufsmitteln“), das per Bankkreditvergabe geschaffen wird, zu Wirtschafsstörungen führt; und dass es die Zentralbanken und Geschäftsbanken sind, die durch Ausgabe von ungedecktem Geld Krisen verursachen.

Noch zur Zeiten des Goldgeldes schreibt Mises:

Es wäre ein Irrtum, wollte man annehmen, daß der Bestand der modernen Organisation des Tauschverkehres für die Zukunft gesichert sei. Sie trägt in ihrem Inneren bereits den Keim der Zerstörung. Die Entwicklung des Umlaufsmittels muss notwendigerweise zu ihrem Zusammenbruch führen.[3]

Mises gibt also seiner Befürchtung Ausdruck, dass ein ungedecktes Geldsystem, ein Fiat-Geldsystem, unvereinbar ist mit einer freien Marktwirtschaft; dass es sie zerstören wird.

Wer heute mit offenen Augen die Welt schaut, dem fällt es nicht schwer zu sehen, wie zutreffend Mises’ geldtheoretische Überlegungen schon damals, vor mehr als 100 Jahren, waren, wenn es gilt, die Folgen des ungedeckten Geldsystems zu identifizieren.

3.

1919, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs (Mises selbst war im Fronteinsatz und trug eine Verletzung davon), veröffentlicht er sein Buch „Nation, Staat und Wirtschaft“.

Als Ökonom will er eine Erklärung für die Ursache der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ vorlegen, und in dieser Schrift gibt er sich unmissverständlich als liberaler Denker zu erkennen.

Mises argumentiert, dass der Erste Weltkrieg letztlich nur entstehen konnte, weil sich die Staaten, die Politiker, die vorherrschende Geisteshaltung der Menschen vom Liberalismus abgewandt hatten.

Als Ökonom weiß Mises um die friedenstiftende Bedeutung des Liberalismus, und dass der Staat (verstanden als ein Zwangsapparat beziehungsweise als ein Machtmonopol) stets eine Gefahr für Frieden und Freiheit ist.

Mit seiner staatskritischen Haltung hält Mises nicht hinter dem Berg, und so schreibt er unverblümt:

Wer Frieden zwischen den Völkern will, der muss den Staat und seinen Einfluss auf das Stärkste einzuschränken suchen.[4]

4.

Ebenfalls im Jahr 1919 hält Mises einen Vortrag in Wien, in der er die Unmöglichkeit des Sozialismus mit wissenschaftlichen Mitteln darlegt.

Dieser Aufsatz, der 1920 veröffentlicht wird, heißt „Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen“, und er ist zu den bedeutendsten in der Wirtschaftswissenschaft zu zählen.

Die Empörung über das, was Mises in diesem Aufsatz ausbreitet, ist in Fachkreisen groß. Denn Mises präsentiert nicht weniger als eine abschließende Widerlegung des Sozialismus mit wissenschaftlichen Mitteln.

Viele Menschen denken zu dieser Zeit, dass der Sozialismus die neue heilsbringende Lehre sei: Dass der Sozialismus Frieden und gerechten Wohlstand bringe, dass er eine Wiederholung der Kriegsschrecken verhindere.

Mises arbeitet jedoch heraus, dass der Sozialismus unmöglich, dass er nicht durchführbar ist.

Was bedeutet Sozialismus? Mises definiert Sozialismus als eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel verstaatlicht sind.

(Der Gegenentwurf zum Sozialismus ist der „Kapitalismus“, bei dem sich die Produktionsmittel in privaten Händen befinden.)

Wie begründet Mises die Unmöglichkeit, die Undurchführbarkeit des Sozialismus? Er argumentiert wie folgt:

Im Sozialismus gibt es kein Privateigentum an den Produktionsmitteln. Man kann die Produktionsfaktoren (Arbeitskraft, Grund und Boden, Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe etc.) daher auch nicht am freien Markt handeln.

Folglich gibt es für sie keine Marktpreise. Ohne Marktpreise aber lässt sich keine Wirtschaftsrechnung durchführen. Man kann nicht beurteilen, ob eine Investition rentabel und durchführbar ist oder nicht.

Man kann nicht wissen, welche Produkte sich erzeugen lassen, und welche Produktionsmethode sinnvoll ist und welche nicht.

Im Sozialismus, in dem die Wirtschaftsrechnung nicht möglich ist, kann man beispielsweise nicht wissen, ob die verfügbaren Mittel (Arbeitskraft, Energie etc.) ausreichen, um eine Eisenbahnstrecke um das Gebirge herum zu bauen; oder ob es gelingen kann und besser ist, das Gebirge zu durchtunneln.

Mises erkennt, dass der Sozialismus – in dem es kein Privateigentum und damit auch keine Wirtschaftsrechnung gibt – scheitern muss; dass er in Verarmung und Elend, aber auch in Zwang und Gewalt endet.

Im Sozialismus müssen die Entscheidungen, was wann wie und wo produziert werden soll, von zentraler Stelle – von einem Zentralbüro oder einem Diktator – getroffen werden. Willkür, Machtmissbrauch und Gewalt sind die unweigerlichen Begleiterscheinungen.

1922 veröffentlicht Mises das Buch „Die Gemeinwirtschaft Untersuchungen über den Sozialismus”. Darin weist er umfassend den Sozialismus und all seine Spielarten als unmöglich zurück – aufbauend auf der zentralen Einsicht, dass eine Wirtschaftsrechnung im Sozialismus unmöglich ist.

5.

Obwohl es sein Berufswunsch ist, erlangt Mises keine ordentliche Professur an der Universität. Das hat vermutlich mehrere Gründe.

Er geht nicht mit dem Konsens der Ökonomenzunft seiner Zeit konform, und er äußert stets unmissverständlich seine Meinung. Zudem ist er jüdischer Abstammung. Das zusammengenommen versperrt ihm den Zugang zu einem Universitätslehrstuhl.

Ab 1913 lehrt er als Privatdozent an der Universität Wien, ab 1918 als unbesoldeter „außerordentlicher Professor“.

Seine Vorlesungen erfreuen sich großer Beliebtheit bei den Studenten. Das missfällt den etablierten Professoren, allen voran den Ordinarien Othmar Spann (1878–1950) und Hans Meyer (1879–1955). Sie machen Mises das Leben schwer – und auch den Studenten, die bei Mises hören.

Mises weicht aus und hält ab 1920 bis zu seinem Weggang nach Genf 1934 im Zweiwochenturnus ein „Privatseminar“ in der Handelskammer ab; als Vorbild gilt ihm das Seminar seines geschätzten Lehrers Eugen von Böhm-Bawerk.

Von Oktober bis Juni versammelt Mises jeden zweiten Freitag Wissenschaftler um sich – Ökonomen, Philosophen, Soziologen, Mathematiker, Physiker –, um die verschiedensten wissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen, philosophischen und politischen Fragestellungen zu erörtern. Viele der Teilnehmer werden später bedeutsame Wissenschaftler.

Zu ihnen zählen zum Beispiel Friedrich August von Hayek, Fritz Machlup, Gottfried von Haberler, Oskar Morgenstern, Richard von Strigl, auch Felix Kaufmann, Alfred Schütz, Erich Vöglin, Karl Menger.

Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre kommt in Wien der Neopositivismus, der logische Positivismus als Wissenschaftsdoktrin auf. Zu den Philosophen dieses sogenannten “Wiener Kreises” zählen Moritz Schlick, Otto Neurath, Rudolf Carnap, Kurt Gödl, Felix Kaufmann und andere mehr.

Kurzgesprochen fordern die Neopositivisten eine Einheitswissenschaft: Alle Wissenschaftsbereiche sollen mit der gleichen Methode der Erkenntnisgewinnung operieren. Zudem vertreten sie die Auffassung, dass Erkenntnis nur aus der Erfahrung stamme und dass ihr Wahrheitsgehalt auch nur anhand von Erfahrung zu beurteilen sei. Sie verbannen jegliche Metaphysik als unwissenschaftlich, und sie verneinen ausdrücklich die Existenz von erfahrungsunabhängigem, von a priori Wissen.

Das, was die Neopositivisten formulieren, läuft auf einen Frontalangriff auf die vorherrschende wissenschaftliche Methode der Ökonomen hinaus. Mises’ Entgegnung darauf werde ich später noch erläutern.

In den frühen 1930er Jahren ist in Österreich der Nationalsozialismus im Vormarsch. Viele Wissenschaftler wandern aus, vorzugsweise nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Mises, der seit 1934 in Genf lehrt und arbeitet, kann Österreich ab 1938 nicht mehr besuchen. Die sogenannte „Österreichische Schule der Nationalökonomie“, die ihren Ursprung in der Donaumetropole Wien hat, stirbt in ihrem Heimatland aus.

6.

1927 veröffentlicht Mises das Buch „Liberalismus“. Darin rationalisiert er den Liberalismus als die Lehre der Freiheit, und er setzt sich vor allem auch eingehend mit den Kritiken auseinander, denen der Liberalismus ausgesetzt ist.

Was versteht Mises unter Liberalismus? Er beschreibt ihn als „die Anwendung der Lehren der Wissenschaft auf das gesellschaftliche Leben der Menschen.“[5]

Mises’ versteht den Liberalismus folglich als ein wissenschafts- beziehungsweise vernunftbasiertes Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept.

Als Ökonom weiß er, dass der Mensch nach Besserung seiner Lebensumstände strebt; und dass das ein produktives und friedvolles Zusammenleben der Menschen, national wie international, Arbeitsteilung, freie Märkte und freien Handel erfordert.

Vor diesem Hintergrund betont Mises vier Prinzipien, die den Liberalismus auszeichnen: Frieden, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz und Eigentum.

Im Grunde aber identifiziert Mises das Eigentum als das zentrale Prinzip des Liberalismus. (Eine Einsicht, die Mises‘ bedeutendster Schüler, Murray N. Rothbard (1926–1995), später aufgreifen und zur tragenden Säule des Libertarismus weiterentwickeln wird.)

Mises schreibt:

Das Programm des Liberalismus hätte also, in ein einziges Wort zusammengefaßt, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigentum an den ProduktionsmitteIn (denn für die genußfertigen Güter ist das Sondereigentum eine selbstverständliche Sache und wird auch von den Sozialisten und Kommunisten nicht bestritten). Alle anderen Forderungen des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung.[6]

Mises erklärt nicht nur, dass der Liberalismus den materiellen Wohlstand der Menschen bestmöglich befördert – auch gerade im Vergleich mit anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen –, sondern auch dass der Liberalismus ein Friedensprogramm ist.

Das erklärt sich wie folgt: Die Menschen, mit einer Mindestvernunft ausgestattet, begeben sich, wenn es ihnen offen steht, in eine Arbeitsteilung.

Arbeitsteilung erhöht die Ergiebigkeit der Arbeit, den materiellen Wohlstand für alle Beteiligten.

Und folglich erkennen arbeitsteilig organisierte Personen sich als gegenseitig nützlich und dienlich in der Bewältigung ihrer jeweils eigenen Lebensherausforderungen. Die liberale Welt ist daher friedvoll, in ihr gibt es keine Kriege.

Mises versteht es eindrücklich zu erklären, dass der Liberalismus nicht etwa ein Programm ist, das die einen auf Kosten der anderen begünstigt, sondern dass der Liberalismus vielmehr im wohlverstandenen Interesse aller steht.

In „Liberalismus“ setzt sich Mises auch eingehend mit der Rolle des Staates (den er als „Zwangsapparat“ bezeichnet) in einer liberalen Gesellschaft auseinander.

Mises weist dem Staat nur eine einzige Aufgabe zu: den Schutz des Eigentums und den Schutz des einzelnen vor Übergriffen Dritter. Alles, was darüber hinausgeht, ist seiner Ansicht nach von Übel.

Der Grund, einen solchen Staat überhaupt als notwendig anzusehen, ist aus Mises’ Sicht der Folgende: Es gibt immer wieder Menschen, die betrügen, stehlen, rauben und morden.

Wenn ihr Treiben nicht verhindert beziehungsweise bestraft wird, dann ist das Zusammenleben in der Gemeinschaft nicht möglich.

Eine Gemeinschaft ohne Recht und Sicherheit kann nicht funktionieren. Erforderlich ist daher eine Instanz (ich füge hier ein: oder Instanzen), die Rechtsbrüche, die Angriffe auf Leib und Leben abwehrt oder sanktioniert.

Mises hat kein naives Staatsverständnis. Er weiß, dass der Zwangsapparat Staat kein Engel ist, sondern dass er selbst zur allergrößten Gefahr für Recht und Sicherheit werden kann; die Geschehnisse im 20. Jahrhundert unterstreichen diese Einschätzung eindrücklich.

Mises erkennt richtigerweise ein Dilemma: Wenn man den Staat zum Monopolisten für Recht und Sicherheit macht, dann besteht die Gefahr, dass der Staat diese Machtstellung missbraucht und Leib und Leben des Individuums bedroht.

Wie lässt sich das Dilemma lösen? Die ordoliberalen Denker (Walter Eucken (1881–1950) und seine Anhänger), die sich dieses Dilemmas ebenfalls bewusst waren, schlugen vor, den Staat durch Verfassungsregeln einzuhegen, ihm die Hände zu binden.

Mises beschreitet einen anderen Weg. Er setzt auf das Austrittsrecht, auf die Sezession.

Er spricht sich für ein konsequentes Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen aus. Wenn jemand oder eine Gruppe von Menschen aus dem Staat auszusteigen wünscht, so hat er beziehungsweise haben sie das Recht dazu.

Die Aussicht, dass die Menschen aus dem Staat austreten können, wenn sie sich schlecht behandelt fühlen, hält, so Mises’ Kalkül, den Staat dazu an, es mit seinen Repressalien nicht zu übertreiben.

Indem Mises die Möglichkeit der Sezession eröffnet, bricht er das absolute Monopol des Staates für Recht und Sicherheit, entmachtet dessen Missbrauchspotential. Insofern ist Mises nicht nur ein Minimalstaatler, er versagt dem Staat auch seine absolute Monopolstellung für Recht und Sicherheit.

7.

1929 erscheint Mises‘ Buch „Kritik des Interventionismus“. Was bedeutet Interventionismus? Der Interventionismus ist ein Wirtschaftssystem, in dem sich die Produktionsgüter im Privatbesitz befinden.

Der Staat schränkt jedoch die Verfügungsrechte der Eigentümer über ihr Eigentum ein – indem er selbst auf Kosten der Eigentümer tätig wird, beziehungsweise indem er ihnen vorschreibt, was sie mit ihrem Eigentum tun dürfen und was nicht – durch Weisungen, Ge- und Verbote, Vorschriften, Gesetze, Regularien und Steuern.

Mises setzt sich eingehend mit dem Interventionismus auseinander, und er kommt zu folgendem Ergebnis: Die Ziele, die man durch den Interventionismus erreichen will, lassen sich entweder nicht erreichen; oder sie werden nur erreicht, indem sich unerwünschte und problematische Nebenwirkungen einstellen.

Mises argumentiert, dass der Interventionismus nicht dauerhaft durchführbar ist. In seinen Worten:

Kapitalismus oder Sozialismus. Tertium non datur.[7]

Wie lautet Mises‘ Erklärung für diese Einschätzung?

Wie bereits angeführt, erreicht der Staat, wenn er in das Marktgeschehen eingreift, entweder das Angestrebte nicht, oder wenn doch, dann nur, indem er ungewollte Nebeneffekte verursacht.

Die Interventionisten werden durch ihre Misserfolge leider nicht entmutigt. Im Gegenteil. Sie fordern, zu immer mehr und weiterreichenden Maßnahmen zu greifen, wenn die von ihnen empfohlenen Interventionen ihre Ziele verfehlt haben oder unerwünschte Nebenwirkungen aufgetreten sind.

Und so folgt Intervention auf Intervention, und nach und nach wird das, was vom System der freien Märkte noch übrig ist, durch staatliches Eingreifen immer weiter zurückgedrängt und letztlich zerstört.

Im Extremfall führt der Interventionismus (wenn man sich nicht von ihm abkehrt) in den Sozialismus, so Mises, also in eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der der Staat zum allmächtigen Diktator aufsteigt.

Ein gutes Beispiel für den Interventionismus ist das staatlich monpolisierte ungedeckte Papiergeldsystem.

Es zeichnet sich dadurch aus, dass die staatliche Zentralbank, in enger Kooperation mit den Geschäftsbanken, neues Geld  per Kreditvergabe in Umlauf bringt, also Geld aus dem Nichts schafft.

Das führt zunächst zu einem Aufschwung (Boom), der aber notwendigerweise nachfolgend in einen Abschwung (Bust) umschlagen muss.

Kommt es zur Krise, rufen die Interventionismus-Gläubigen nach der staatlichen Zentralbank. Sie solle mit noch niedrigeren Zinsen und noch mehr Kredit und Geld die Rezession und Deflation bekämpfen. Das mag das ein oder andere Mal gelingen.

Doch das Ausweiten der Geldmenge sorgt für Preisinflation. Beispielsweise steigen Häuserpreise und Mieten. Um die politisch unerwünschte Verteuerung von Wohnraum zu verhindern, erlässt der Staat daraufhin Obergrenzen für Mietpreise (die unter den markträumenden Mietpreisen liegen).

Das hat zur Folge, dass die Nachfrage nach Wohnraum steigt, während das Angebot an Wohnraum abnimmt. Nicht alle, die eine Mietwohnung suchen, werden fündig.

Die Mietobergrenze schreckt zudem Investoren ab, neue Wohnungen zu erstellen und Altbauten zu renovieren. Es verschlechtert sich also auch noch die Wohnqualität und das künftige Wohnungsangebot.

Ein weiterer Effekt der Geldmengenvermehrung: Sie sorgt für eine nicht marktkonforme Umverteilung von Einkommen und Vermögen. Die Gewieften wissen das für ihre Zwecke zu nutzen, die breite Bevölkerung hat das Nachsehen. Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander.

Das sorgt für Not und Unmut bei vielen Menschen. Antiliberale Ideologen wissen das für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Sie behaupten, der Kapitalismus sei schuld an Wohnraumverknappung, steigenden Mieten, einer sich spreizenden Einkommens- und Vermögensverteilung.

Sie sagen, die freien Märkte, der „Raubtierkapitalismus“, müssen gezähmt, die entstandenen Probleme gelöst werden – durch noch mehr Interventionen. Die Politiker erhalten daraufhin einen Freibrief, mit zum Beispiel immer mehr Gesetzen und Steuern in das Wirtschaftsleben einzugreifen.

Die Interventionismusspirale dreht sich immer schneller. Der Interventionismus führt die Gesellschaft zunächst in eine Befehls- und Lenkungswirtschaft, in der der Staat Preise, Mengen, Löhne, Zinsen etc. diktiert; im Extremfall gleitet die Gesellschaft in den Sozialismus ab.

Man kann Mises‘ Interventionismuskritik folglich problemlos als eine Absage an das Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“, wie sie heute verstanden wird, interpretieren. Denn die Soziale Marktwirtschaft ist nichts anderes als eine Spielart des Interventionismus, sie ist der Wegbereiter in den Kommandostaat, wie beispielsweise im Falle der Bundesrepublik Deutschland gut zu beobachten ist.

Mit seiner Interventionismuskritik befördert Mises auch die (für viele heute vermutlich geradezu empörende) Einsicht zutage, dass die einzig mögliche dauerhafte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Kapitalismus ist – Kapitalismus, verstanden als das System der freien Märkte und des unbedingten Respekts vor dem Eigentum; Kapitalismus also als Manifestation des Liberalismus.

8.

1934 verläßt Mises Wien, um der Bedrohung von seiten des österreichischen Parteiablegers der deutschen Nationalsozialisten zu entgehen, und geht in die Schweiz, nach Genf, um den Lehrstuhl für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der dortigen Universität für das Studienjahr 1934/35 zu übernehmen. Doch Mises bleibt und lehrt in Genf länger als ursprünglich gedacht.

Als 1938 die deutschen Nationalsozialisten in Österreich einmarschieren, ist für Mises an eine Rückkehr nach Wien nicht mehr zu denken.

In Genf veröffentlicht er 1940 sein Magnum Opus „Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens“. Das Buch fand, kriegsbedingt, nur wenig Aufmerksamkeit, es blieb im Grunde einflusslos.

In Nationalökonomie integriert Mises nicht nur seine bisherigen ökonomischen Erkenntnisse in ein systematisches Theoriegebäude.

Er gibt vor allem auch – anlehnend an seine Arbeiten aus dem Jahr 1933 – der Ökonomik ein hieb- und stichfestes erkenntnistheoretisches Fundament.

Eine Leistung, die bis auf den heutigen Tag unterschätzt wird und vielfach auch in Ökonomen- und Philosophenkreisen wenig oder gar nicht bekannt ist. Deshalb dazu einige Anmerkungen.[8]

Die Nationalökonomik, so urteilt Mises, ist keine Erfahrungswissenschaft wie die Naturwissenschaft.

In der Naturwissenschaft formuliert man Theorien oder Hypothesen wie zum Beispiel “Wenn A, dann B” oder “Wenn A um x Prozent steigt, verändert sich B um y Prozent”.

Die Hypothese wird sodann getestet. Beispielsweise stellt man Laborversuche an, in der eine Variable bei Konstanz aller anderen Variablen (und unter sonst gleichen Bedingungen) verändert und der Effekt auf die zu untersuchende Größe bestimmt wird.

Ein solches Vorgehen ist im Bereich des menschlichen Handelns nicht gangbar. Schon allein deswegen nicht, weil es hier keine miteinander vergleichbaren gleichartigen Beobachtungen gibt, die man zur Überprüfung von Theorien heranziehen kann.

Menschliche Handlungsakte sind stets einzigartig, nicht in genau gleicher Weise wiederholbar, und sie stehen zudem unter einer Vielzahl von nicht kontrollierbaren Einflussfaktoren, deren Bedeutung auf das Handeln auch noch zeitlich veränderlich ist.

Dennoch hat die moderne Volkswirtschaftslehre sich die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaft zu Eigen gemacht, ihr sich verschrieben; und das ist nicht zuletzt Ergebnis der Akzeptanz der Positionen des Neopositivismus, des logischen Positivismus.

Doch die wissenschaftliche Methode der Naturwissenschaft lässt sich aus noch einem weiteren Grund im Bereich des menschlichen Handelns nicht sinnvoll anwenden.

In der Naturwissenschaft sind zum Beispiel Atome, Steine und Planeten das Erkenntnisobjekt. Sie alle sind unbelebt, haben keine Wünsche und Ziele, sie wählen nicht zwischen verschiedenen Handlungsalternativen aus, sie reagieren lediglich in einer bestimmten Art und Weise auf Impulse von außen.

Ganz anders steht es um das Erkenntnisobjekt Mensch. Menschen haben Wünsche und Vorlieben, sie haben Ziele, sie wählen zwischen Zielen und den Mitteln, die zur Erreichung der Ziele eingesetzt werden; und sie ändern mitunter ihre Ziele, Wünsche und die Wahl der Mittel im Zeitablauf.

Im Bereich des menschlichen Handelns gibt es daher – anders als in der Naturwissenschaft – nicht so etwas wie Verhaltenskonstanten. Das hatte Mises zwar bereits erkannt, aber es war der deutsche Philosoph Hans Herman Hoppe (* 1949), der diese Einsicht abschließend begründet hat.[9]

Und zwar mit der Einsicht, dass der Mensch lernfähig ist. Die Aussage “Der Mensch ist lernfähig” lässt sich mit logischen Mitteln nicht widerlegen, sie ist apriorisch wahr.

Der Begriff a priori bezeichnet eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt man nicht in Abrede stellen kann, ohne dadurch ihre Gültigkeit bereits vorauszusetzen, und die Allgemeingültigkeit besitzt.

Wenn ich sage “Der Mensch kann nicht lernen”, so treffe ich diese Aussage, weil ich dir etwas vermitteln will, was du meiner Meinung nach noch nicht weißt, was du aber lernen kannst; sonst würde ich diese Aussage nicht machen. Zu sagen, der Mensch kann nicht lernen, ist ein performativer Widerspruch.

Und wenn ich sage “Der Mensch kann lernen nicht zu lernen” begehe ich einen offenen Widerspruch. Man erkennt: Die Lernfähigkeit des Menschen lässt sich nicht widerspruchsfrei verneinen, sie ist logisch richtig und damit wahr, sie gilt a priori.

Lernen bedeutet nun aber, dass sich die Wissensstände der handelnden Menschen im Zeitablauf verändern. Folglich weiß man nicht schon heute, was die Handelnden morgen wissen. Und daher kann man ihr künftiges Handeln nicht schon heute kennen – denn es hängt von ihren künftigen Wissensständen ab.

In der Nationalökonomie kann man also weder auf gleichartige Beobachtungspunkte zurückgreifen und aus ihnen Gesetzmäßigkeiten ableiten, noch kann man den Anspruch erheben, im Bereich des menschlichen Handelns könnte es so etwas geben wie Verhaltenskonstanten, die künftiges Handeln prognostizierbar machen.

Die Volkswirtschaftslehre (als Teilbereich des menschlichen Handelns) erfordert vielmehr eine eigene wissenschaftliche Methode; und in dieser Einsicht kommt der “methodologische Dualismus”, für den Mises eintritt, und der dem Neopositivismus widerspricht, zum Ausdruck.

Mises argumentiert, dass sich die Nationalökonomik widerspruchsfrei nur als eine sogenannte a priori Handlungswissenschaft konzeptualisieren lässt. Was ist damit gemeint?

Mises hat eine Erkenntnis aufgespürt, die sich mit logischen Mitteln nicht widerspruchsfrei verneinen lässt, die wahr ist. Sie lautet: “Der Mensch handelt”.

Wer sagt “Der Mensch handelt nicht”, der handelt und widerspricht damit seiner Aussage, weist sie als falsch aus. Der Satz “Der Mensch handelt” ist ein a priori: Man kann ihm nicht widersprechen, ohne seine Gültigkeit bereits vorauszusetzen; er ist erfahrungsunabhängig, und er kann Allgemeingültigkeit beanspruchen.

Ausgehend von der wahren Erkenntnis, dass der Mensch handelt – sie lässt sich als das “ultimativ Gegebene” bezeichnen –, lassen sich per logischer Deduktion weitere wahre Aussagen ableiten.

Beispielsweise ist das menschliche Handeln stets zielbezogen; Handeln erfordert den Einsatz von Mitteln; Mittel sind knapp, Handeln erfolgt daher stets unter Knappheit; Zeit ist ein Mittel für das Handeln; Handeln impliziert die Gültigkeit der Ursache-Wirkungs-Beziehung (Kausalität); die Phänomene Zeitpräferenz und (Ur-)Zins lassen sich ebenfalls aus der Logik des Handelns erklären; gleiches gilt für das Eigentum.

Was ist mit diesen Einsichten – man kann sie als Handlungskategorien (also als grundlegende Begriffe der Erfahrung) bezeichnen – gewonnen?

Sie stellen – in den Worten von Immanuel Kant (1724–1804) – die Bedingungen der Möglichkeiten objektivierbarer Erfahrung dar.[10]

Die Handlungskategorien sind die Bedingungen, unter denen wir Menschen Erfahrungen machen. Die Gegenstände unserer Erfahrung müssen den Handlungskategorien genügen. Erfahrungen oder Theorien, die den Handlungskategorien widersprechen, sind für unser Erkenntnisvermögen unsinnig, sind als falsch, als Unsinn zurückzuweisen.

Aus Mises’ apriorischer Handlungslogik folgt, dass man die Richtigkeit von ökonomischen Gesetzen, von ökonomischen Theorien durch logisches Denken, genauer: durch handlungslogische Deduktionen einsehen kann.

Man muss also nicht erst ausprobieren, um herauszufinden, ob eine ökonomische Theorie richtig oder falsch ist. Man kann diese Beurteilung quasi im Sessel sitzend erledigen.

Mit Mises‘ apriorischer Handlungslogik lässt sich beispielsweise unzweifelhaft aufzeigen, dass freiwilliges Tauschen für alle daran Beteiligten vorteilhaft ist;

oder dass der Handelnde eine größere Mittelausstattung höher bewertet als eine geringere;

oder dass ein Ansteigen der Geldmenge zu Umverteilung von Einkommen und Vermögen führt, die unterschiedliche Personen unterschiedlich trifft;

oder dass die Ausgabe von ungedecktem Geld per Kreditvergabe zu Wirtschaftsstörungen führt;

oder dass ein künstliches Absenken der Marktzinsen Überkonsum und Fehlinvestitionen verursacht;

oder dass ungedecktes Papiergeld nicht im freien Markt entstehen, sondern dass es nur zwangsweise eingeführt werden kann;

oder das der Staat (wie wir ihn heute kennen: als territorialen Zwangsmonpolisten mit der Letztentscheidungsmacht auf seinem Gebiet) nicht durch freiwillige Übereinkunft, sondern nur durch Zwang und Gewalt entstanden sein und erhalten werden kann;

oder dass der Sozialismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht funktionieren kann.

Mises sagt uns also, dass unsere ökonomische Erkenntnis nicht aus der Erfahrung stammt, sondern dass wir sie aus handlungslogischem Denken gewinnen; und dass eine empirische Volkswirtschaftslehre nicht begründen kann, ob ökonomische Theorien wahr oder falsch sind.

9.

1940 flieht Mises zusammen mit seiner Frau Margit von Mises aus der von den Nationalsozialisten umzingelten Schweiz. Über Südfrankreich flieht er nach Portugal, und von dort gelingt es dem Ehepaar, in die Vereinigten Staaten von Amerika zu entkommen.

Als Mises im Sommer 1940 in Amerika anlandet, ist er im Grunde mittellos, an einem persönlichen und beruflichen Tiefpunkt angelangt.

Die Bücher „Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel“ und „Die Gemeinwirtschaft“ lagen zwar seit Mitte der 1930er Jahre in englischer Sprache vor; Mises war in internationalen Fachkreisen also kein Unbekannter.

Aber als liberaler Ökonom und Denker wird er in den USA nicht mit offenen Armen empfangen. Denn hier feiert gerade der „New Deal“, der Keynesianismus, der Interventionismus seine Triumphe. Liberale, Kapitalismusbefürworter und Staatsskeptiker sind nicht gefragt.

Unter den etablierten Ökonomen findet Mises daher auch kaum Unterstützer. Die akademische Welt zeigt ihm gewissermaßen die kalte Schulter.

Mises ist jedoch nicht bereit, seine intellektuelle Integrität zu opfern, um anschlussfähig zu werden, um eine staatsbezahlte Stellung zu erlangen. Er heult nicht mit den Wölfen, biedert sich nicht an.

1941 erhält er ein jährliches Stipendium, das bis 1944 verlängert wird. Mises‘ Gehalt wird von einer privaten Stiftung bezahlt, später von Geschäftsleuten.

In dieser Zeit entstehen zwei wichtige Bücher: „Omnipotent Government: The Rise of The Total State and Total War“ und „Bureaucracy“. Ersteres legt dar, wie und warum der deutsche Staat ab 1933 totalitär wurde, zweiteres erklärt, warum alles, was der Staat anfasst und tut, grundsätzlich ineffizient ist.

Zudem veröffentlicht Mises eine Reihe von Aufsätzen in der New York Times. Dadurch entstehen Kontakte. Mises wird zum Beispiel Mitglied der Grundsatzkommission der National Association of Manufacturers.

1945 erhält Mises eine Teilzeit Gastprofessur an der New York University und beginnt wieder zu lehren, 1949 wird daraus eine permanente Teilzeit-Gastprofessur. Ab 1948 veranstaltet er ein wöchentlich stattfindendes Privatseminar.

1949 veröffentlicht Mises „Human Action. A Treatise on Economics“. Es handelt sich um die englische Übersetzung der überarbeiteten und erweiterten Nationalökonomie.

Das Buch findet Aufmerksamkeit. Mit ihm etabliert Mises die Österreichische Schule der Nationalökonomie im englischsprachigen Raum, prägt sie nachhaltig und maßgebend.

1957 veröffentlicht Mises sein Spätwerk „Theory and History“. Darin beschäftigt sich Mises noch einmal intensiv mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen, mit deren Hilfe er Szientismus, Positivismus, Historismus und Historizismus, Marx dialektischen Materialismus und Behaviorismus als unwissenschaftlich beziehungsweise als untaugliche Methoden für die Nationalökonomik verwirft.

Mises hatte schon früh in seiner Wiener Zeit erkannt, dass in der wissenschaftlichen Methodenfrage ein ganz entscheidendes Bollwerk zur Verteidigung der Freiheit gegen die Lehren der Unfreiheit zu finden ist.

Bis zuletzt bewegen ihn gerade diese Fragestellungen. Sein letztes Buch erscheint 1962. Es trägt den Titel „The Ultimate Foundation of Economic Science“ und ist die Auseinandersetzung, die Zurückweisung des Positivismus und aller seiner Spielarten.

Mises lehrt bis 1969 an der New Yorker Universität. Da ist er 87 Jahre alt. Am 10. Oktober 1973 stirbt Mises in New York.

10.

Ludwig von Mises ist ein mutiger, kompromissloser liberaler Ökonom, der seine Werke im Zeitalter der Unfreiheit schuf: In seine Lebenszeit fielen zwei Weltkriege, auch Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Totalitarismus.

Seine intellektuelle Aufrichtigkeit und seine Entschiedenheit, für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und Überzeugungen einzutreten, machen Mises zu einem Vorbild-Wissenschaftler, zu einem „Role Model“, der zeitlose Beiträge in der Volkswirtschaftslehre erarbeitet hat.

Mit der wissenschaftlichen Methode, die er für die Volkswirtschaftslehre begründet – dass also die Volkswirtschaftslehre eine apriorische Handlungswissenschaft ist –, begibt sich Mises in eine unversöhnliche Gegenposition zur Hauptstrom-Ökonomik.

Von ihr hat vor allem Mises’ wissenschaftliche Methode keine positive Rezeption erfahren. Das ist wohl auch der entscheidende Grund, warum Mises‘ Erkenntnisbeiträge auf die Ideen und damit auf das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben keinen richtungsweisenden Einfluss genommen haben.

Der Liberalismus ist seit Jahrzehnten auf dem Rückzug, kollektivistisch-sozialistische Ideen sind im Vormarsch. Der Staat regiert mittlerweile in nahezu jeden Winkel des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens hinein: Erziehung, Bildung (Schule und Universität), Gesundheit, Altersvorsorge, Transport, Recht und Sicherheit, Geld und Kredit, Ernährung, Presse, Umwelt: Überall ist der Staat zum mächtigen Akteur aufgestiegen.

Die Verbreitung dieses Interventionismus ist bezeichnend für die Entwicklung der westlichen Welt. In den letzten Jahren hat sich der Prozess im Zuge von neo-marxistischen (kulturmarxistischen) Agitationen sogar noch radikalisiert – wie zum Beispiel an der Politik der offenen Grenzen, der Klimapolitik und der Coronavirus-Politik abzulesen ist.

Die „Große Transformation“, der „Great Reset“ sind verklausulierte Überschriften, die das eigentliche Ziel im Halbdunkel halten: Dass nämlich die Interventionisten weltweit die Abkehr vom System der freien Märkte (beziehungsweise von dem, was von ihnen noch übrig ist) mit Vehemenz vorantreiben.

Wenn die Menschen auf diesem interventionistischen Weg unbeirrt fortschreiten, dann endet die westliche Welt, soweit man Mises‘ Überlegungen folgt, entweder in einer Befehls- und Lenkungswirtschaft – also einer Wirtschaft, in der das Eigentum zwar formal erhalten bleibt, de facto aber abgeschafft ist, weil der Staat vorschreibt, wer was wann und wie mit seinem Eigentum machen kann; oder, im Extremfall im Sozialismus.

11.

Ich möchte abschließend und mit Blick auf die Zukunft des Liberalismus zwei miteinander verbundene Einsichten hervorheben, die Mises besonders hellsichtig herausgearbeitet hat, und die Anknüpfungspunkte für eine Renaissance des Liberalismus sein können.

Die erste Einsicht ist, dass das menschliche Handeln letztlich von Ideen (oder Theorien) getrieben ist. Die Bedeutung der Ideen (oder Theorien) für die Geschicke von uns Menschen kann also gar nicht überschätzt werden.

Richtige Ideen führen uns zum Ziel, falsche lassen uns scheitern oder gar untergehen. Die richtigen Ideen zu identifizieren und die falschen auszusortieren, ist und bleibt daher eine zentrale Herausforderung.

Das gilt gerade auch für die Volkswirtschaftslehre. Denn ihre Theorien entfalten, wenn sie weithin als richtig und gut angesehen werden, Breitenwirkung.

Das bleibt denen, die Macht über andere ausüben wollen, natürlich nicht verborgen. Denn sie wissen: Wer die Autorität hat zu sagen, welche Ideen und Theorien richtig und falsch sind, hat die Macht über die Menschen.

Deshalb ist es für den Liberalismus im wahrsten Sinne des Wortes fatal, dass der Staat die Bildung – Schule und Universität – dominiert.

Denn dadurch stellt der Staat (wie wir ihn heute kennen) sicher, dass staatstragende und staatsverherrlichende Ideen in die Köpfe der Menschen hineingebracht werden.

Es käme geradezu einem Wunder gleich, wenn liberale Ideen eine Chance hätten, sich im staatlich beherrschten Bildungsbetrieb durchzusetzen. Der Siegeszug interventionistischer-kollektivistisch-sozialistischer Ideen ist unter diesen Bedingungen vielmehr vorgezeichnet.

Die zweite Einsicht leitet sich aus der ersten ab. Sie lautet: Die Wiedererlangung, die Verteidigung der individuellen Freiheit gegen die Lehren der Unfreiheit (ob in Form des Sozialismus, Kommunismus oder Faschismus) benötigt ein rigoroses, ein hieb- und stichfestes intellektuelles Begründungsfundament.

Und genau das hat Mises bereitgestellt, indem er widerspruchsfrei darlegt, dass die Volkswirtschaftslehre keine Erfahrungswissenschaft ist, die ihre Erkenntnisse durch Ausprobieren, durch Testen gewinnt, sondern dass sie eine apriorische Handlungswissenschaft ist, die ihre Aussagen durch logisches Denken ableitet.

Wenn die Volkswirtschaftslehre in dieser Weise verstanden wird, kann sie nicht mehr – und das ist quasi ein Nebeneffekt – für politische Zwecke vereinnahmt und instrumentalisiert werden; sie wird immun gegen den Einfluss von Parteien, Ideologien und Sonderinteressengruppen.

Die kritische Auseinandersetzung mit Mises‘ Position, dass die Volkswirtschaftslehre eine a priori Handlungswissenschaft ist und keine Erfahrungswissenschaft, ist folglich von zentraler Bedeutung, um freiheitsfeindliche Ideen wirksam intellektuell zu besiegen, damit der Liberalismus (wie Mises ihn versteht) wieder im Denken der Menschen Fuß fassen kann.

Und um diese intellektuelle Auseinandersetzung kommt man nicht herum. Denn, um Mises zu zitieren:

Ideen können nur durch Ideen überwunden werden. Den Sozialismus können nur die Ideen des Kapitalismus und des Liberalismus überwinden. Nur im Kampfe der Geister kann die Entscheidung fallen.[11]

Man sollte in der Tat nicht meinen, aus schlechter Erfahrung werden die Menschen notwendigerweise klug. Weit gefehlt. Das Unheil, das der Sozialismus beispielsweise in der Sowjetunion, in der DDR oder in Venezuela den Menschen gebracht hat, werden diejenigen, die die Volkswirtschaftslehre als Erfahrungswissenschaft verstehen, nicht als überzeugenden Beweis werten, dass der Sozialismus unmöglich ist, dass er scheitern muss.

Sie werden vielmehr sagen: Wenn man bessere, geeignetere Personen an die Schaltstellen der Macht setzt, dann wird der Sozialismus beim nächsten Versuch gelingen, werden seine Verheißungen für eine bessere Welt Wirklichkeit.

Doch worauf es ankommt, ist leicht zu erkennen: Es kommt darauf an, welche Interpretation man der Erfahrung gibt, welche Theorien man anwendet, um das Geschehene zu deuten. Die Entscheidung fällt auf der Theorieebene.

Und deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für alle, die die individuelle Freiheit, die Freiheit des Menschen in der Gemeinschaft bewahren wollen, sich mit Mises’ ökonomischen, aber vor allem auch erkenntnistheoretischen Einsichten auseinanderzusetzen.

Sie sind, so bin ich überzeugt, der Schlüssel zur Rückeroberung, zur Verteidigung der Freiheit!

Sehr verehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich hoffe, ich konnte Ihnen mit meinem Referat einen Überblick über Leben und Werk von Ludwig von Mises geben und Sie auch begeistern, sich für die Schriften dieses Ökonomen, dieses Ausnahmewissenschaftlers, zu interessieren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

*****

Leseempfehlungen:

Hoppe, H. H. (2006), Ludwig von Mises und der Liberalismus, Einführung zu Liberalismus, 4. Aufl., Academia.
Hoppe, H.-H. (1995), Economic Science and the Austrian Method, Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama.
Hülsmann, J. G. (2007), The Last Knight of Liberalism, Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama.
Polleit, T. (2018), Ludwig von Mises – der kompromisslose Liberale, F.A.Z.-Verlag, Frankfurt.
Rothbard, M. N. (1999), Ludwig von Mises: Dean of the Austrian School, in: 15 Great Austrian Economists, Holcombe, R. E. (ed.), Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, pp. 143–165.

[1] Diese Begrifflichkeit habe ich von Bogner, A. (2021), Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, S. 40.
[2] Siehe hierzu z. B. Grundmann, T. (2019), Philosophische Wahrheitstheorien.
[3] Mises, L. v.  (1912), Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel, S. 472.
[4] Mises, L. v. (1919), Nation, Staat und Wirtschaft, S. 77.
[5] Mises, L. v. (1927), Liberalismus, S. 3.
[6] Mises, L. v. (1927), Liberalismus, S. 17.
[7] Mises, L. v. (2013), Kritik des Interventionismus, S. 130.
[8] Siehe hierzu vor allem Hoppe, H.-H. (1995), Economic Science and the Austrian Method.
[9] Siehe hierzu Hoppe, H.-H. (1983), Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung, insb. S. 22–26, S. 44–49.
[10] Siehe hierzu z. B. Tetens, H. (2006), Kants Kritik der reinen Vernunft. Ein systematischer Kommentar.
[11] Mises, L. v. (1932), Die Gemeinwirtschaft, S. 471.

Thorsten Polleit ist seit April 2012 Chefvolkswirt der Degussa, Europas größtem Edelmetallhandelshaus. Davor war er als Ökonom 15 Jahre im internationalen Investment-Banking tätig. Thorsten Polleit ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institut, Auburn, Alabama, Mitglied im Forschungsnetzwerk „ROME“ und Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Im Jahr 2012 erhielt er den The O.P. Alford III Prize In Political Economy. Thorsten Polleit ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher: „Ludwig von Mises – der kompromisslose Liberale“ (2018), „Vom Intelligenten Investieren“ (2018), „Mit Geld zur Weltherrschaft“ (2020) und „Der Antikapitalist“ (2020). Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.comHier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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