Kritische Psychotherapie. Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft

12. Juli 2021 – Im Februar dieses Jahres ist das Buch Kritische Psychotherapie: Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft erschienen. Herausgeber ist Dr. Martin Wendisch. Thorsten Polleit hat mit Martin Wendisch über das Buch gesprochen.

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Lieber Herr Dr. Wendisch, Sie haben ein äußert bemerkenswertes Buch herausgegeben mit dem Titel „Kritische Psychotherapie. Interdisziplinäre Analysen einer leidenden Gesellschaft“. Aus meiner Sicht äußerst bemerkenswert, weil Sie darin eine „leidende Gesellschaft“ diagnostizieren; weil Sie deren Krankheitssymptome – kollektiver Stress und Krankheit – der Behandlung durch Psychotherapie zugänglich machen wollen; und weil Sie dazu gedenken, viele Wissenschaftszweige zu Rate ziehen: Präventive Psychiatrie, Biologie, Philosophie, Theologie, Soziologie, Ätiologie – und Psychotherapieforschung, Medizinethik, Humanmedizin – und -das wird unsere Leser vermutlich besonders interessieren – die Ökonomik. Doch bevor wir ins Detail gehen, darf ich einleitend fragen: An was krankt unsere Gesellschaft, und wie leidend ist sie, und wie stellen Sie das fest?

Martin Wendisch

Den Begriff „Leiden“ kann man für eine ganze Gesellschaft daran festmachen, dass der kollektive Stress deutlich zunimmt und auch die psychosomatisch-psychiatrischen Erkrankungen in den letzten 30 Jahren erheblich zunehmen – sogar in der sonst gesündesten Altersgruppe der Kinder und der 15- bis 25-jährigen. Die übliche Abwehrargumentation des „Jammerns auf hohem Niveau“ oder der einer „Wohlstandsverwahrlosung“ mag kulturell im Hinblick auf den Niveauverlust in Bildung und Kultur gelegentlich überzeugen, kann aber die Zunahme ernstzunehmender Erkrankungen nicht erklären. Politisch kann man das Leiden festmachen an immer häufiger auftretenden Krisen und einem generellen Vertrauensverlust der Bürger in die Handlungsfähigkeit der Politik. Obwohl wir auf zahlreiche – auch als neoliberal bezeichnete – Reformen zurückblicken, ist das Ergebnis nicht etwa ein Mehr an Gesundheit, sondern wachsende Krankheit. Die Analysen in unserem Band sind ein Versuch, die Gründe dafür interdisziplinär zu erkunden, ohne eine ganze Gesellschaft zu psychologisieren oder auf die Couch zu legen.

Bevor wir uns den politischen Konsequenzen widmen, erlauben Sie noch diese Frage: Sie sind als Fachmann tagtäglich mit dem konkreten Leiden der Menschen konfrontiert und bemühen sich, die Leiden zu lindern. Vielleicht könnten Sie uns ganz kurz beschreiben, wie sich diese psychosomatischen-psychiatrischen Erkrankungen konkret äußern, und vielleicht haben Sie dafür das ein oder andere Beispiel, wie man dem zu begegnen sucht …

Die Symptomatik der Erkrankungen werden in allen Kapiteln des ICD (WHO: International Classification of Disease) beschrieben; so zum Beispiel schwere Erschöpfungssyndrome, Depressionen mit Schlafstörungen oder Suizidalität, Angststörungen, multiple körperliche Beschwerden ohne kausale organische Ursache, etc.

Eine ätiologische – also an den relevanten Entstehungsbedingungen orientierte – Psychotherapie stellt die Bewältigung der lang- und kurzfristigen emotionalen Stressbelastungen in den Vordergrund und berücksichtigt dabei auch Persönlichkeitsentwicklung, Lebensführung, sozialen Kontext, Beziehungsmuster, Konfliktfähigkeit, und stellt sie in einen inneren Zusammenhang mit der gesundheitlichen Störung. Im Zentrum des therapeutischen Handelns steht das Wachstum des Patienten an der Bewältigung emotionaler Belastungen (Resilienz) analog zu einer wachsenden Immunabwehr bei einem Infekt. Dabei werden familiäre, berufliche, gesundheitliche oder kollektive Umstände individuell gewichtet und im Zusammenhang betrachtet; und wir knüpfen an fundamentale Selbstheilungskräfte an, die jedem zu eigen sind.

Seit der Coronakrise kann man feststellen, dass durch Distanz, Isolation, ökonomische Sorgen und Ängste in Verbindung mit einem bewussten Schüren der Angst durch Politik und Medien die Patienten in laufenden Behandlungen Rückschläge erleiden und auch das Ausmaß an Neuerkrankungen erheblich zugenommen hat. Als Therapeuten/Ärzte behandeln wir Patienten immer als unverwechselbares Individuum. Als Berufsstand jedoch haben wir auch eine gesellschaftliche Verpflichtung, für gesunde Lebensbedingungen einzutreten.

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Wie einleitend gesagt, legen Sie mit Ihrem Werk eine „interdisziplinäre Analyse der externen Einflüsse auf Gesundheit und Psychotherapie“ vor. Besonders bemerkenswert ist aus meiner Sicht dabei, dass Sie auch ausdrücklich wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse einbinden mit dem Bestreben, sie für die Psychotherapie nutzbar zu machen. Welche Bedeutung hat denn aus Ihrer Sicht der „Wirtschaftsfaktor“, und wie wird er bisher in der Psychoanalyse und -therapie behandelt?

Wer sich mit Zivilisationsgeschichte und Anthropologie beschäftigt, der sollte anerkennen, das seit der neolitischen Revolution vor 10.000 Jahren die Technik und der Handel die Antreiber für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung waren, bis in die Entstehung der modernen Marktwirtschaft und in die industriellen Revolutionen, die den modernen Wohlfahrtsstaat ermöglicht haben. Stets musste aber auch das Mögliche mit dem gesellschaftlich Wünschenswerten in Einklang gebracht werden durch eine Art freiwilliger Selbstbeschränkung, die im Glauben und auch in einer Tugendlehre wurzelte. Philosophisch bestand dies seit Aristoteles in der Einbettung der praktischen Philosophie des Staates und des Handels in die Moralphilosophie des guten Lebens.

Sowohl die philosophische als auch die soziologische Perspektive werden in unserem Buch berücksichtigt. Dabei konzentrieren wir uns soziologisch auf einen der umfassendsten soziologischen Entwürfe der letzten Jahrzehnte, die den Einfluss eines beschleunigten Wandels auf alle Lebensbereiche beschreibt (Steigerungszwang). Die neokritische Resonanzsoziologie Hartmut Rosas kann aufzeigen, dass sich ein beschleunigter exponentieller Wachstumszwang kontraproduktiv auf Ökologie, Politik, Gesellschaft und die Psyche der Menschen auswirkt. Die natürlichen und humanen Ressourcen werden überfordert. Geht man den Ursachen für diesen Zwang nach, dann landet man in der Ökonomie.

Wenn ich an dieser Stelle kurz einwerfen darf: In einem freien Marktsystem ist der Mensch per se keinem Wachstumszwang ausgesetzt. Wachstum ist hier vielmehr so etwas wie ein „Kuppelprodukt“ seiner Freiheiten, die er nutzen kann, um seine Lebensumstände zu verbessern. Aber vermutlich läuft ihre Kritik auf die Folgen der Unterwandung des System der freien Märkte hinaus?

Richtig. Setzt man sich mit den Gründen für eine entfesselte – nicht mehr auf ein gesundes Wachstum rückführbare Ökonomie – auseinander, dann landet man z.B. mit Hans-Christoph Binswanger in der expansiven Geldwirtschaft. Setzt man sich wiederum mit dieser Art von Geldwirtschaft auseinander, dann landet man bei Ludwig von Mises, der die Eigendynamik eines staatlichen Machtinteressen untergeordneten Geldsystems als Grundübel erkennt. Das expansive – nicht mehr an den Handel mit Gütern und Sachwerten gekoppelte – staatliche Geldsystem erzeugt im Interesse politischer Machtexpansion – z.B. Krieg – den Steigerungszwang. Das moderne staatliche Geldsystem – in Verbindung mit einem entkoppelten expansiven Finanzsektor – erzeugt also genau die Probleme, die der Staat gleichzeitig zu behandeln vorgibt. Die meisten Menschen – darunter auch Soziologen, Psychologen, Mediziner, Theologen, Klimaforscher etc. – fallen auf die soziale oder grüne Propaganda des Staates herein und sehen den entkoppelten eigenmächtigen Staat als regulatorische Notwendigkeit an. Dadurch landen wir in einem globalen Neofeudalismus aus Big Business und Global Government, der in jeder Krise durch einschneidende Interventionen weiter vorangetrieben wird (Interventionismus, neoliberale „Reformen“). Von zentraler Bedeutung ist also die Unterscheidung eines gesunden versus kranken Geldsystems, weshalb Sie, Herr Polleit, auch an diesem Buch mitwirken.

Das akademische Fazit aus der interdisziplinären Betrachtung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft ist, dass eine neokritische soziologische Theorie des gelingenden Zusammenlebens sich logisch einwandfrei mit der liberalen Theorie des Geldsystems und der Freiheit der Bürger verträgt, nicht aber mit den neoliberalen Reformen machthungriger Staaten im Verbund mit dem Finanzsektor, die den Bürger über die wahren Ursachen von Kriegen und Krisen täuschen. Hier erst kommt dann im engeren Sinne die Psychologie ins Spiel durch Täuschung, Angsterzeugung und Schulderzeugung. Der Bürger wird nicht nur von den wahren Ursachen der Probleme abgelenkt, sondern auf ihm wird in allen Bereichen über Schuld und Angst die Verantwortung abgeladen („neoliberale Traumaspirale“).

Sie sprechen von Täuschung. Als psychoanalytischer Unwissender vermute ich: Man kann getäuscht werden, man kann sich aber auch selbst täuschen, nicht wahr? Könnte es vielleicht sein, dass viele Menschen die Wahrheit gar nicht wissen wollen? Dass sie nicht bereit sind, die Institutionen – Staat, ungedecktes Papiergeld etc. -, an die sie Zeit ihres Lebens geglaubt haben, in Frage zu stellen, weil die Enttäuschung über die offenbarte eigene Ignoranz einfach zu groß und zu schmerzlich ist? Dass man nicht wahrhaben will, dass wir gar nicht im Kapitalismus leben, sondern in einem durch und durch staatlich durchdrungenen und unterwanderten System, das man am besten als Interventionismus bezeichnet? Und wenn diese Diagnose stimmt, wie lautet die Therapie?

Zum Getäuscht-Werden: Es gibt viele Täuschungen in der politischen Propaganda, die wir im Buch auch ansprechen, aber die wichtigste ist das Märchen vom Staat als Garant für Gerechtigkeit durch expansive Kontrolle. In Wirklichkeit ist er – wie Sie in „Der Antikapitalist“ 2020 auch schreiben – ein „rechtsbrechender Rechtsschützer“ und „eigentumszerstörender Eigentumsschützer“ auf der Basis von Gewalt, Eroberung, Unterdrückung und Enteignung. Der Staat braucht das kranke Geldsystem als ungedeckte/unbegrenzte Finanzquelle wie der Parasit den Wirt. Das zeigen wir ebenfalls auch auf in Verbindung mit der historischen „Kaskade des kranken Finanzkapitalismus“. Der Begriff Kapitalismus ist jedoch aufgrund des pathologischen Geldsystems für Nichtökonomen generell ein rotes Tuch, weshalb man ihn in einer Phase großen Vertrauensverlustes besser als „freie soziale Marktwirtschaft“ oder als „Liberalismus von unten“ oder als „Liberalismus der Bürger” bezeichnen sollte. Dieser ist an ein freies nichtstaatliches Geldsystem und auch an die Rückabwicklung zahlreicher Sonderrechte des Finanzsystems gebunden: City of London, Wallstreet / Fed und EZB sind Staaten im Staate wie der Vatikan und der Finanzsektor dominiert die Realwirtschaft.

In unserem Band gehen wir nach den Analysen auf die Zukunft einer gesunden Gesellschaft in Abgrenzung zum totalitären Globalismus ausführlich ein: Geldreform und Politikreform spielen eine zentrale Rolle für die Wiederherstellung echter Freiheit und echter Demokratie. Dazu gehört die konsequente Anbindung demokratischer Willensbildung an die Basis des Volkes nach Art. 20 des Grundgesetzes zur Unterbindung der Eigenmächtigkeit der politischen Parteien, die den Staat als Selbstbedienungsladen für sich gekapert haben. Eine strukturelle Befreiung von Täuschungen liegt auch in der notwendigen rechtsstaatlichen Begrenzung der Politik, die im Moment durch die EU und den EuGH zersetzt wird. Auch die Befreiung der Wissenschaft vom Staat und von industriellen Interessen und den damit verbundenen methodologischen Einschränkungen – auch in der Ökonomie – sind für eine gelingende Aufklärung von zentraler Bedeutung. Das merken wir auch aktuell in der Coronakrise, in der Wissenschaft politisch unter Druck gesetzt wird und wissenschaftliche Institute reihenweise einknicken. Der Mensch degeneriert entgegen der Menschenrechtspropaganda immer mehr zum Objekt und zum Produkt. Machtmissbrauch ist bis heute eine anthropologische Konstante. Fundamentale Reformen zur Machtbegrenzung einzufordern, ist Aufgabe der Zivilgesellschaft und der Berufsstände, heute genauso wie im ehemaligen Feudalismus.

Zur Selbsttäuschung: Wir werden nicht nur getäuscht, sondern wir erliegen auch den eigenen infantilen und pseudoreligiösen Selbsttäuschungen. Infantil sehnen wir uns nach einem Vater Staat, der uns vor den bösen Kapitalisten beschützt. Die Auflösung dieser Selbsttäuschung ist mit der Bemühung um Aufklärung und dem Schmerz der Selbstverantwortung verbunden. Aufklärung löst vorübergehend Angst vor der Schutzlosigkeit aus und ist letztlich mit einem Prozess des Erwachsenwerdens verknüpft. Die Auflösung pseudoreligiöser Selbsttäuschungen, denen ironischerweise auch die Kirchenführungen erliegen, ist mit einer Abkehr von sämtlichen politischen Ideologien verbunden und mit einer Hinwendung an den wirklichen Glauben und eine echte Spiritualität. Die mit der Desillusionierung verbundene Ernüchterung und Verletzlichkeit ist vorübergehend schwer zu ertragen, steigert aber die Intensität der Suche nach einem echten Glauben und einem pragmatisch-minimalistischen Staatsverständnis. Der im Umgang mit Psyche, Körper und Spiritualität und der in Fremd- und Selbstbestimmung unter seinen Belastungen reifende Mensch ist das Ziel von Psychotherapie und humaner Medizin.

Dieser aufgeklärte Mensch scheitert nicht an seinen Emotionen und an seinem evolutionsbiologisch mitgegebenen sozialen Herdentrieb oder an seiner Führungsrolle durch Machtmissbrauch. Er lässt sich auch nicht manipulieren durch Angst vor Terror, Klimawandel, Viren, einer „Achse des Bösen“ oder durch Schuld als präfaschistischer, rassistischer oder sexistischer Sünder oder Leugner mit dem Staat als pädagogischem Erlöser, weil er einen erwachsenen Umgang mit Angst, Schuld, Gier und Selbstüberforderung entwickelt hat. Ein selbstermächtigter Mensch erlöst und begrenzt sich selbst mit der notwendigen sozialen Unterstützung, findet zur Freiheit und der darin liegenden Verantwortung und dem Lebenssinn und findet zu einer gesunden menschlichen Solidarität und Hilfsbereitschaft. Diese Arbeit ist der Sinn von Psychotherapie. Gesundheitswesen und Wissenschaft werden jedoch selbst unter dem Einfluss von Technisierung und Ökonomisierung politisch deformiert. Die Therapie hat also strukturell-gesellschaftliche und individuelle Aspekte, die sich beide als öffentliche Aufklärung und als individuelle Selbstermächtigung ergänzen können für eine gesündere Zukunft.

Sehr geehrter Dr. Wendisch, ich danke Ihnen für das Interview – und ich hoffe, unser Gespräch hat die Leser so richtig neugierig gemacht auf Ihr Buch!

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Das Interview wurde per email geführt.

Martin Wendisch wurde 1960 geboren.
1979-1987 Studium der Philosophie, Theologie und Psychologie
1987-1995 Tätigkeit in Psychosomatischen Fachkliniken
1993 Promotion Dr. rer.nat.
1983-2004 Ausbildungen in Psychoanalyse, Systemische Therapie und Verhaltenstherapie
seit 1987 Dozent, Supervisor, Lehrtherapeut in Bern, Tübingen, Berlin, Zürich, Basel und Freiburg
seit 2000 Gutachter und seit 2018 Zweitgutachter
2015 Fachbuchautor „VT emotionaler Schlüsselerfahrungen“
2021 Herausgeber „Kritische Psychotherapie – interdisziplinäre Analyse einer leidenden Gesellschaft”

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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