Interview mit Hans-Hermann Hoppe: „Der Übergang vom Minimalstaatler zum Anarchokapitalisten ist nicht mehr als das Ergebnis einer halben Stunde intensiven, vorurteilsfreien Nachdenkens.“
23. Juni 2021 – Das nachfolgende Interview (aus dem Jahr 2016) ist dem jüngst erschienen Buch Über den demokratischen Untergang und die Wege aus der Ausweglosigkeit: Reden, Aufsätze und Interviews wider den links-grünen Zeitgeist von Hans-Hermann Hoppe entnommen (Holzinger Verlag).
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Herr Hoppe, wenn Sie auf die letzten 150 Jahre des „klassischen Liberalismus“ zurückblicken, was stellen Sie fest?
Zuerst eine kurze Anmerkung hinsichtlich der Ziele des klassischen Liberalismus und dann zur Frage von Erfolg oder Versagen.
Das zentrale Ziel des klassischen Liberalismus war die Durchsetzung der Rechts-Gleichheit aller Personen – jedermann ist vor dem Recht gleich, im Gegensatz zu allen seinerzeit bestehenden fürstlichen oder feudalen Privilegien! – und, damit logisch verbunden, des gleichen Rechts jeder Person auf Privateigentum an allen von ihr durch ursprüngliche Aneignung, Produktion oder freiwilligen Tausch erworbenen bzw. hergestellten Gütern, sowie der Vertrags- und Handelsfreiheit.
Was nun den Erfolg angeht, so wird man sagen müssen: Ziel total verfehlt. Wir sind heute von der Erreichung dieser klassisch liberalen Ziele weiter entfernt als wir es vor 150 oder 100 Jahren waren. Darüber darf uns der seither eingetretene unermessliche technische Fortschritt nicht hinwegtäuschen. Statt sich liberalen Zielen zu nähern, hat sich die westliche Welt, die den Liberalismus als eine intellektuelle Bewegung hervorgebracht hat, immer stärker dem entgegengesetzten, kommunistischen Ziel der Abschaffung des Privateigentums und der Errichtung einer “Gemeinwirtschaft” genähert.
Nur zur Illustration: Vor 150 Jahren galten die Forderungen, die im kommunistischen Manifest erhoben wurden, noch als unerhört und schlicht abwegig. Z.B. die Forderung nach einem uneingeschränkten allgemeinen Wahlrecht (ab 21), die Forderung nach Bezahlung gewählter “Volksvertreter” aus Steuermitteln, die Forderung nach “unentgeltlicher,” d.h. steuer-finanzierter, “Volkserziehung” und “Gerechtigkeitspflege”, die Forderung nach einem staatlich garantierten Mindesteinkommen, die Forderung nach einer staatlichen Zentralbank und einer Papierwährung, die Forderung nach einer starken Progressivbesteuerung von Einkommen und Vermögen, oder die Forderung nach einer Beschränkung des Erbrechts.
Heutzutage ist dies alles verwirklicht und gilt geradezu als selbstverständlich. Selbst die Vertreter sogenannter liberaler Parteien, namentlich etwa der FDP, sind heute so betrachtet ausnahmslos Kommunisten.
Das werden die Vertreter der Politik nicht gerne hören. Gibt es im Rückblick nichts Positives zu berichten?
Doch, das gibt es. Der immer eklatantere Misserfolg des Liberalismus in der Praxis hat zu einer grundlegenden theoretischen Erneuerung und Weiterentwicklung des klassischen Liberalismus in Gestalt des modernen Libertarismus geführt. Exemplarisch ist diese theoretische Weiterentwicklung im Übergang von Ludwig von Mises als dem “letzten Ritter des Liberalismus,” wie ihn Guido Hülsmann in seiner großen Mises-Biographie bezeichnet hat, zu Mises’ bedeutendstem Schüler, Murray Rothbard, und dem von ihm begründeten neuen Libertarismus vollzogen worden.
Wenn man sein erklärtes Ziel, d.h. die Rechtsgleichheit und den Schutz des Privateigentums, offenkundig nicht erreicht, ja ihm nicht einmal systematisch näherkommt, dann muss dies seinen Grund in der Wahl falscher Mittel haben. Und der Grundfehler, so hat Rothbard und die ihm nachfolgende intellektuelle Tradition gezeigt, ist ebenso fundamental wie einfach.
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Worin besteht dieser Grundfehler?
Wenn man Rechtsgleichheit und den Schutz des Privateigentums will, dann darf man nicht und niemals gleichzeitig einen Staat – und schon gar nicht einen demokratischen Staat – und staatliche Steuern fordern oder befürworten! Denn beides ist per definitionem mit Rechtsgleichheit und Eigentumsschutz unvereinbar. Beide Einrichtungen spalten eine Gesellschaft logisch unvermeidbar in zwei antagonistische Rechtsklassen. In Personen höheren und niederen Rangs. Übermenschen und Untermenschen. Von Herrschern, die selbst Recht setzen und über sich selbst richten dürfen, und Beherrschten, die dem von anderen gesetzten Recht (Gesetz) unterworfen sind und von ihnen gerichtet werden. Und gleichzeitig: Von Ausbeutern oder Parasiten, die von durch andere Personen erwirtschafteten Steuern leben und diese für ihre eigenen Zwecke verwenden dürfen, und Ausgebeuteten oder Produzenten, die dies Steueraufkommen zu erarbeiten haben, aber nicht für ihre eigenen Zwecken nutzen dürfen.
Und noch etwas hat Rothbard gezeigt. Utilitaristische Argumente zugunsten des Liberalismus sind gut und schön. Tatsächlich führt eine liberal(er) gestaltete Gesellschaft auch zu größerem Wohlstand, insbesondere für die Ärmsten und Minderbemittelsten. Aber als motivierende Kraft reichen solche Argumente nicht aus. Sie müssen ergänzt und unterfüttert werden mit stärkeren, in der menschlichen Psyche tiefer verankerten moralischen Argumenten. Mit dem Ruf nach Gerechtigkeit und dem Aufbegehren und Aufschrei gegen Unrecht, ungeachtet der Person, die dieses Unrecht begeht. Und dazu gehört an vorderster Front das stete Erkennen und Benennen des Staates als einer moralischen Ungeheuerlichkeit und seiner Repräsentanten als einer Bande von Rechtsbrechern, Räubern und ihrer Günstlinge.
Was ist der Hauptgrund, dass sich eine Regierung, ein Staat nicht beschränken lässt?
Die Frage führt unmittelbar zurück zum Thema der Rechtsgleichheit. Eine Handlungsbeschränkung ist nur dann eine wirkliche Beschränkung, wenn sie allgemein gültig ist, also für jedermann gilt. Das ist z.B. so mit der üblicherweise schon im Kindesalter gelernten Handlungsmaxime: “Was Du nicht willst das man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.” Diese Maxime beinhaltet eine Handlungsbeschränkung, und sie ist allgemein gültig. Sie gilt ausnahmslos, für jede Person gleichermaßen. Und nur darum ist sie eine wirkliche Beschränkung.
Ganz anders sieht die Sache aus, und der Begriff der Beschränkung nimmt eine völlig andere Bedeutung an – und da sind wir wieder beim Thema Staat –, wenn man als Handlungsmaxime z.B. vorgibt: Du, und niemand außer Dir, darfst Gesetze machen und andere aufgrund dieser Gesetze richten. Oder: Nur Du allein darfst von anderen Steuern verlangen und auch eintreiben. Oder: Du, niemand sonst, darfst Papiergeld drucken und als gesetzliches Zahlungsmittel deklarieren.
Hierbei handelt es sich ersichtlich nicht um Rechts-Maxime, sondern um Privilegien. Man kann diese Maximen gar nicht verallgemeinern derart, dass jede Person gleichermaßen Gesetze erlassen, Steuern erheben oder Geld drucken kann, ohne damit ein wirtschaftliches und soziales Chaos herbeizuführen. Nur als Sondergesetze oder Ausnahmegesetze, d.h. als Gesetze, die eine Person oder Personengruppe gegenüber einer anderen systematisch auszeichnen und bevorteilen, sind sie überhaupt praktisch durchführbar.
Man könnte hier einwenden, dass es so einfach nicht ist, dass sich diese Privilegierten nach Gutdünken bedienen…
Natürlich können diese privilegierten Personen oder Personengruppen sich dann selbst bestimmten Beschränkungen unterwerfen. Man kann sich z.B. eine Verfassung geben und Steuer- und Zentralbank-Gesetze verabschieden. Aber die Interpretation dieser Verfassung und Gesetze und die Entscheidung darüber, ob ein Verfassungs- oder Gesetzesbruch vorliegt und wie er gegebenenfalls zu behandeln ist, liegt immer und ausschließlich bei der von vornherein bestimmten privilegierten Personengruppe. Diese Art der Selbstbeschränkung ist also und bleibt immer nur Willkür. Sie ist im besten Fall nicht mehr als das nicht-einklagbare Versprechen der privilegierten Personen – der Herrscher-Klasse – an alle anderen, nicht-privilegierten Personen – der Untertanen-Klasse – es nicht zu schlimm zu treiben mit der Gesetzesmacherei, den Steuern, und dem Gelddrucken.
Die einzige wirkliche Beschränkung, der der natürliche Drang einer privilegierten Person oder Institution danach, ihr Privileg auch zum eigenen Vorteil auszunutzen (und immer neue Gesetze zu machen, immer höhere Steuern zu erheben und immer mehr Geld zu drucken) tatsächlich unterworfen ist, besteht in äußeren, außerhalb ihrer Kontrolle liegenden sozialen oder wirtschaftlichen Ereignissen. Jede Willkür ist begrenzt durch die Wirksamkeit wirtschaftlicher und sozialer Gesetzmäßigkeiten. Manches kann man nicht mit Aussicht auf Erfolg wollen. Zuviel Gesetze oder Gesetzesänderungen können zu Aufständen führen. Eine zu hohe Steuerrate kann zu verminderten Steuereinkünften führen. Eine zu große Geldvermehrung kann zur Hyperinflation führen. All das sollte man aus Gründen der “Staats-Raison,” d.h. zum Zweck des Privilegien-Erhalts, möglichst vermeiden.
Aber – und das ist der Punkt: All diese “Beschränkungen” haben nichts, aber auch gar nichts mit den universellen, allgemein-gültigen Handlungs-Beschränkungen zu tun, wie sie in der gerade zitierten Goldenen Regel zum Ausdruck kommen. Ob selbst-beschränkte Willkür oder natur-beschränkte Willkür, es handelt sich nicht um Recht, sondern immer um subjektive Willkür.
In dem jüngst erschienenen Buch „Mythos Anarchokapitalismus“ schreiben die Autoren, Liberalismus und Anarchismus seien grundsätzliche Gegensätze und könnten nicht für die gleichen Ziele kämpfen. Sie gehen soweit und bezeichnen die anarchistischen Terrorgruppen der 70er Jahre – gemeint ist hier wohl die RAF – als „Glaubensgenossen“ der Anarchokapitalisten. Was sagen Sie dazu?
Fangen wir mit dem zweiten Teil der Frage an. Während es, wie ich eingangs unter Hinweis auf das kommunistische Manifest angedeutet habe, tatsächlich gute Gründe dafür gibt, die ‚selbstverständlich’ steuerfinanzierten Funktionäre angeblich liberaler Parteien der Gegenwart, wie etwa der FDP, als Kommunisten zu bezeichnen, ist die Behauptung einer „Glaubensbrüderschaft“ von RAF (Baader-Meinhof-Ensslin) und Anarchokapitalismus (Rothbard) so abwegig, ja geradezu absurd, dass man den Autoren entweder totale Unkenntnis oder mangelnden Verstand zuschreiben muss.
Was nun das Verhältnis von Liberalismus und Anarchismus generell angeht, ist die Sachlage so: Es ist zunächst einmal auch falsch, wie behauptet, einen grundsätzlichen Gegensatz hinsichtlich der Zielsetzung beider Doktrinen feststellen zu wollen. Beide haben als Ziel die Rechts-Gleichheit, d.h. die gleiche Freiheit aller Personen. Beide wollen den Klassenunterschied von Herrschern und Beherrschten aufheben. Diese grundsätzliche Affinität beider Lehren ist in der Geistesgeschichte auch immer wieder festgestellt worden.
Und wo findet sich dann die Unterscheidung?
Ein Unterschied beider Geistesrichtungen besteht allein hinsichtlich der vorgeschlagenen Mittel zur Zielerreichung.
Über den diesbezüglichen Fehler des klassischen Liberalismus habe ich schon gesprochen: Es ist von vornherein abwegig, dieses Ziel durch die Einrichtung eines demokratischen Steuerstaats erreichen zu wollen.
Im Vergleich dazu hatte der klassische Anarchismus europäischer Provenienz (M. Bakunin, P. Kropotkin) mit seiner kategorischen Ablehnung der Institution eines Staates – und auch in seiner fulminanten Kritik des orthodoxen, marxistischen Sozialismus – zunächst einmal Recht. Aber auch der klassische Anarchismus war noch in zwei zentrale Irrtümer verstrickt, die eigentlich erst, in Anknüpfung an frühere amerikanische Anarchisten wie L. Spooner und B. Tucker, durch die Arbeiten Rothbards und der von ihm begründeten Denktradition des modernen Anarcho-Kapitalismus und Libertarismus grundlegend aufgeklärt und beseitigt wurden.
Zum einen verfügte der klassische Anarchismus über keine ausgearbeitete Rechtstheorie – eine Ethik der Freiheit –, die ihm erlaubt hätte, beim Versuch der Abschaffung des Staates zwischen legitimer bzw. rechtmäßiger (weil defensiver) und illegitimer bzw. unrechtmäßiger (weil aggressiver) Gewalt klar zu unterscheiden. Das Ergebnis dieses Mangels waren und sind die berühmt-berüchtigten Bombenleger-Brandstifter-Anarchisten – und der daraus resultierende schwerwiegende Schaden für das eigentliche Anliegen des Anarchismus im öffentlichen Bewusstsein.
Und zum anderen war der klassische Anarchismus durch den Irrglauben an eine weitgehende natürliche Gleichheit aller Personen und Harmonie menschlicher Interessen gekennzeichnet. Und dieser Irrglaube verleitete den Anarchismus dann wenn auch nicht zur Ablehnung allen Privateigentums so doch zumindest zur Ablehnung des Privateigentums an Grund und Boden. Zumindest Grund und Boden sollten Gemeineigentum sein. Aber Gemeineigentum funktioniert nur, solange es eine andauernde Interessenharmonie sämtlicher Eigentümer gibt. Und eine solche ist bekanntermaßen nicht einmal unter Eheleuten garantiert. Immer dann jedoch, wenn zwei oder mehr Personen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was mit ihrem Eigentum gemacht werden soll, muss es zum Konflikt kommen. Entweder zum Kampf oder zur Herrschaft einer Person über eine andere. Dann hat man also wieder das, was der Anarchismus vermeintlich gerade abschaffen will: eine Spaltung der Gesellschaft in zwei antagonistische Rechts-Klassen. Um dies zu vermeiden – und das ist die fundamentale Einsicht des Anarcho-Kapitalismus oder Privateigentums-Anarchismus – muss es also immer die Möglichkeit der Trennung des Gemeineigentums in separates Privateigentum geben. Auch im Fall der Ehe muss es, um Kampf und Herrschaft generell auszuschließen, die Möglichkeit der Scheidung und der Gütertrennung geben.
In „Liberalismus“ schreibt Mises, „Eine liberale Regierung ist eine contradictio in adjecto“, also ein Widerspruch in sich. Im gleichen Buch räumt Mises jedem Individuum ein Selbstbestimmungsrecht ein, aus dem Verbund eines Staates auszuscheiden. Er relativiert dieses Recht nur in der Hinsicht, dass er es nicht für durchführbar hält, dass Einzelne ausscheiden. Hatte Mises hier selbst Zweifel, dass ein Staat, eine Regierung sich nicht beschränken lässt? Nicht wenige lesen hier heraus, dass Mises im seinem tiefsten Inneren ein Anarchokapitalist war. Wie sehen Sie das?
Da sind wir gleich wieder beim Thema Trennung. Nur diesmal in Gestalt der Sezession. Und ja, mit seinem Zugeständnis eines prinzipiell uneingeschränkten Sezessionsrechts hat Mises im Grunde die Grenze vom klassisch liberalen Minimalstaatler zum Anarchokapitalisten überschritten. Das hat Rothbard so gesehen, und so sehe auch ich es. Denn ein Staat, der eine unbeschränkte Sezession zulässt, ist kein Staat mehr, sondern ein freiwilliger Verband, in den man ein- und eben auch austreten kann.
Leider, im Unterschied zu seinen früheren Werken – nicht nur in „Liberalismus“, sondern auch im noch früheren „Nation, Staat und Wirtschaft“ – hat Mises das Thema Sezession dann jedoch in seinen späteren großen Werken, insbesondere „Human Action,“ komplett ausgeblendet und damit, so muss man es wohl sagen, schlichtweg unterschlagen. Dort bekennt sich Mises stets, erkennbar bemüht und geradezu widerwillig aber dennoch eindeutig, zum Staat und Nicht-Anarchisten. (Merke: Nicht immer, durchgängig und in jeder Hinsicht, ist das spätere Werk eines Autors ein Fortschritt gegenüber seinem früheren Werk. Es besteht auch die Möglichkeit intellektueller Rückschritte. Im gegebenen Fall fällt der spätere Mises hinter den früheren Mises zurück.)
Man muss freilich hinzufügen, wie schon in der Frage angedeutet, dass auch der frühere Mises den vollen Durchbruch zum Anarchokapitalismus nicht ganz geschafft hat und damit ein großes Schlupfloch für eine durchgehend etatistische Mises-Deutung gelassen hat. Denn Mises schränkt das prinzipiell unbeschränkte Sezessionsrecht insofern ein, als er jedenfalls die denkbar weitestgehende Sezession von Einzel-Haushalten (im Unterschied zur Sezession ganzer Gemeinden) für praktisch undurchführbar erklärt. Mises begründet diese Behauptung nicht systematisch. Ein paar Schlagwörter genügen. Die Aussage erscheint ihm offensichtlich. Aber warum?
Tatsächlich entpuppt sich diese Aussage bei näherem Hinsehen regelmäßig als Irrtum und Täuschung.
Um nur kurz den scheinbar schwerwiegendsten Einwand gegen die Durchführbarkeit einer Sezession von Einzelhaushalten zu betrachten: den Einwand, dass diese Haushalte ja dann vom umliegenden Gemeinde- oder Staatsgebiet eingeschlossen und umzingelt seien. Zur Erledigung dieses Einwands muss man sich nur klar machen, dass mit jedem Grundeigentumserwerb praktisch zeitgleich auch immer Wegerechte, Grunddienstbarkeiten, etc. erworben werden und diese Zu- und Ausgangs-Rechte natürlich auch nach einer Sezession, von ihr gänzlich unberührt fortdauern. Eine Untersuchung aus libertärer Sicht zur Entwicklung und der privatrechtlichen Regelung und Behandlung von Wegerechten wäre übrigens einmal ein lohnendes Dissertationsthema!
Noch eine abschließende Frage, ich weiß, das ist etwas spekulativ, aber glauben Sie, Mises würde heute anders denken, wenn er sehen könnte, zu welch monströsen Gebilden sich Staaten und Regierungen entwickelt haben?
Mit Sicherheit. Nicht, was die Wirksamkeit der von ihm mit unübertrefflicher Klarheit dargelegten und erklärten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten angeht natürlich. Aber Mises wäre sicher überrascht über das tatsächliche Ausmaß, in dem die politischen Eliten der „westlichen Welt“ meinen, sich über diese Gesetze hinwegsetzen zu können. Kurz: Über das Wachstum und das schiere Ausmaß an politischer Dummheit und Fahrlässigkeit. Und sicher wäre seine Einschätzung der Demokratie darum heute eine ganz andere und sehr viel skeptischere als seinerzeit.
Ob Mises angesichts der gegenwärtigen Zustände zum bekennenden Anarchokapitalisten geworden wäre? Das hängt wohl davon ab, ob man sich den wiedererweckten Mises als jüngeren oder älteren Mann vorstellt. Ältere, in sich gesetzte Menschen sind eher selten bereit, etwas Neues auf- und anzunehmen. Für jüngere, anderen und neuen Ideen gegenüber noch offener stehende Menschen dagegen ist der Übergang vom Minimalstaatler zum Anarchokapitalisten oft nicht mehr als das Ergebnis einer halben Stunde intensiven, vorurteilsfreien Nachdenkens.
Vielen Dank, Herr Hoppe.
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Das Interview wurde im Januar 2016 per e-mail geführt und ursprünglich im Februar 2016 auf Mises Deutschland veröffentlicht. Die Fragen stellte Andreas Marquart.
Prof. Dr. Hans-Hermann Hoppe, Philosoph und Volkswirt, ist einer der führenden Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomie und zählt zu den bedeutendsten Sozialwissenschaftlern der Gegenwart. Er lehrte von 1986 bis zu seiner Emeritierung 2008 an der University of Nevada, Las Vegas, USA. Er ist Distinguished Fellow des Ludwig von Mises Institute in Auburn, Alabama, USA, und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Hoppe lehrt und hält Vorträge weltweit. Seine Schriften sind in 30 Sprachen übersetzt worden. Er ist Gründer und Präsident der Property and Freedom Society und lebt heute als Privatgelehrter in Istanbul. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Die Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung“, „Eigentum, Anarchie und Staat“, „A Theory of Socialism and Capitalism“, „The Economics and Ethics of Private Property“, „The Myth of National Defense“, „Demokratie. Der Gott, der keiner ist.“, „Der Wettbewerb der Gauner“, „The Great Fiction: Property, Economy, Society, and the Politics of Decline“, „From Aristocracy to Monarchy to Democracy“ und „A Short History of Man: Progress and Decline“.
Weitere Informationen auf www.hanshoppe.com und www.propertyandfreedom.org.
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