Sophie Scholl zum Hundertsten – Erinnerung an ein Staatsverbrechen

26. Mai 2021 – Eine Nachlese mit Notizen zur asymmetrischen Beziehung zwischen Politikern und Privatpersonen 

von Rainer Bieling

Rainer Bieling

Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik sind zwei verschiedene Paar Schuhe. In das eine Paar passen nur die Füße von Privatpersonen, die außer den Mitteln der Kultur keine anderen Ausdrucksmöglichkeiten haben, Erinnerung festzuhalten und weiterzugeben, mündlich oder schriftlich, in Bildern, Fotografien, Musik- und Theaterstücken, analog oder digital, was immer Marktöffentlichkeit oder Publikumsinteresse findet. In das andere Paar passen nur die Füße von Politikern, die außer dem Mittel der Politik keine andere Ausdrucksmöglichkeit brauchen, Erinnerung festzulegen und durchzusetzen, durch Recht und Gesetz, mit Hochschulen, Stiftungen und Gedenkstätten, durch Mahn- oder Denkmale, was immer zum Narrativ oder zur Erzählung passt. Die Erinnerung an ein Staatsverbrechen, die Hinrichtung der Studentin Sophie Scholl, veranschaulicht den Unterschied am Beispiel eines Buches und einer Briefmarke.

Am 9. Mai 1943, einem Sonntag, hätte Sophie Scholl ihren 22. Geburtstag gefeiert, wenn sie nicht zehn Wochen zuvor, am 22. Februar 1943, mit einem Fallbeil geköpft worden wäre. Ein Todesurteil „im Namen des Deutschen Volkes“, verkündet im Schwurgerichtssaal des Justizpalasts in München vom eigens angereisten Präsidenten des Volksgerichtshofs, Dr. jur. Roland Freisler, vollstreckt im Strafgefängnis München-Stadelheim vom amtlich bestallten Scharfrichter des Bayerischen Justizministeriums, Johann Reichhart. Noch nie habe er jemanden so tapfer sterben gesehen wie Sophie Scholl, wird er Jahrzehnte später zitiert.

Am 9. Mai 2021, einem Sonntag, hätte Sophie Scholl ihren 100. Geburtstag gefeiert, wenn sie – statt mit 21 „ruhig und gefasst“ zu sterben – so alt geworden wäre wie ihre Schwester Elisabeth, die am 28. Februar 2020 starb, einen Tag nach ihrem 100. Geburtstag. Sophie und Elisabeth Scholl, beide nur ein Jahr auseinander, waren eng verbunden, wie die achtzehnjährige Sophie in einem Schulaufsatz über das Ritual des gemeinsamen Bades mit der Schwester am Samstagabend beschreibt: „Meine älteste Schwester durfte schon am Freitag baden, damit nicht all unser Dreck zusammenkam. Wir vier kleinen wurden dann, zwei und zwei, in die Badewanne gesteckt und unserem Schicksal überlassen. Denn unsere Mutter hatte uns die überaus wichtige Aufgabe gestellt, uns selbst zu waschen.“

Die anderen zwei Kleinen waren ihre Brüder Hans und Werner, die älteste Schwester war Inge. Unter den fünf Geschwistern standen sich neben den früh zur Selbständigkeit erzogenen Schwestern Sophie und Elisabeth auch Sophie und ihr Bruder Hans Scholl nahe. So nahe, dass sie gemeinsam Flugblätter verteilten und dafür gemeinsam mit dem Tode büßten. Am 22. Februar 1943, einem Montag, köpfte der Scharfrichter gegen 17 Uhr auch Hans Scholl mit einem Fallbeil. Vom gemeinsamen Bad mit der Schwester am Samstagabend und vom gemeinsamen Tod mit dem Bruder an diesem Montagnachmittag berichtet Simone Frieling in ihrem Buch Sophie Scholl. Aufstand des Gewissens, das im Januar 2021 – „Zum 100. Geburtstag der Heldin der Weißen Rose am 9. Mai 2021“, wie es in der Verkaufswerbung heißt – im Berliner Verlag ebersbach & simon erschien.

Tja, Heldin. Simone Frieling findet auf den 139 Textseiten ihres Buches einen ganz eigenen Zugang zu Sophie Scholl, der in der  Erinnerungsliteratur einmalig sein dürfte; denn die Autorin ist zugleich bildende Künstlerin, die ihre eigenen Texte gleich selbst mit eigenen Grafiken illustriert. Aber nicht im Sinne eines arbeitsteiligen Nacheinanders, sondern eher umgekehrt im Sinne eines integralen Schaffens- und Schöpfungsprozesses. Am Anfang steht das vorgefundene Bild, das eine Person hinterlassen hat, genauer sind es die Bilder, meist Schwarzweißfotografien, die eine Person zeigen, die es in Wort und Bild zu porträtieren gilt. Oft sind es markante, mitunter ikonische Fotos, die bleiben; auf dem Buchumschlag von Sophie Scholl ist das Foto einer Sophie Scholl mit burschikosem, fast jungenhaft anmutendem Haarschnitt zu sehen.

Erinnerungskultur: eine sehr persönliche Annäherung an Sophie Scholl mit einem markanten Foto der Porträtierten auf dem Buchumschlag.

Die überlieferten Fotos bilden den Ausgangspunkt für die Annäherung an eine zu beschreibende Person. Das Studium von Gesicht und Ausdruck, von Kopf und Haarschnitt, von Kleidung und Umgebung dient dem Herantasten und Begreifen und mündet in Scherenschnitten, mit denen Simone Frieling die Persönlichkeit der Abgebildeten für sich zu verstehen und für andere darzustellen versucht. Der Text wiederum lässt die grafisch dargestellte Person viel von sich selbst sprechen – lange Passagen, oft aus Briefen, aber auch wie oben zitiert aus einem Schulaufsatz, lassen das Ich der Person lebendig werden, um deren Biografie es geht. Dieses Verfahren hat Simone Frieling schon an Rosa Luxemburg und Hannah Arendt erprobt, um nur zwei ihrer Heldinnen zu nennen.

Eine Abbildung von Sophie Scholl nach ihrem Passfoto von 1942 als Scherenschnitt von © Simone Frieling.

Tja, Heldinnen. War Sophie Scholl eine Heldin? Im Angesicht des Todes, ja. Das bezeugt nicht nur ihr Henker, auch der Priester, der sie zum Schafott begleitet, tut es: „ruhig und gefasst“ sei sie gewesen. Aber im Leben konnte sie keine Heldin sein, sie konnte es nur verlieren. Zu groß die Asymmetrie zwischen ihr, der trotz einer Handvoll Gleichgestimmter vereinzelten Privatperson, und jener verschworenen Gemeinschaft von Parteipolitikern, die längst über einen allmächtigen Staatsapparat gebot, der Tausend Augen hatte sie zu beobachten und Tausend Arme sie zu ergreifen – und sie von einem Niemand zu rein gar nichts mehr zu machen: einer kopflosen Leiche.

Diese Asymmetrie zwischen Machthabern und Machtlosen arbeitet Simone Frieling gleich eingangs heraus. Es ist Donnerstag, der 18. Februar 1943, und keine drei Wochen her, dass die 6. Armee der Wehrmacht in Stalingrad kapituliert hat. In München sitzt Sophie Scholl im Wittelsbacher Palais mutterseelenallein dem Kriminalobersekretär Robert Mohr gegenüber, dem Leiter der Gestapo-Sonderkommission, der die Herkunft der Flugblätter aufklären soll. Sie muss sich für das Verteilen eines Flugblatts rechtfertigen, des berühmten 6. der Weißen Rose, das angesichts des Desasters von Stalingrad zum Regime Change aufruft, wie es heute kurz und bündig hieße. In den Folgetagen wird Sophie Scholl deswegen ihr Leben verlieren. In Berlin steht zur gleichen Abendstunde Joseph Goebbels im Sportpalast Tausenden handverlesener Anhänger gegenüber. Er wird sie zu Komplizen der Begeisterung für den totalen Krieg machen, mit dem die noch von der Biskaya bis zur Wolga regierenden Politiker das Heft in der Hand behalten wollen. Im Folgejahr 1944 wird die deutsche Rüstungsproduktion ihren Höchsttand erreichen und ebenso die Vernichtung der innenpolitischen Gegner mittels Fallbeil und Strang.

Während Sophie Scholl verhört wird, entsteht am 20. Februar 1943 eine erkennungsdienstliche Aufnahme der Geheimen Staatspolizei, hier als Scherenschnitt von © Simone Frieling.

Goebbels’ folgenreiche Inszenierung wird mehr Bürger das Leben kosten als im gesamten bisherigen Krieg ihr Leben ließen. Sophie Scholls Flugblattverteilung wird folgenlos bleiben und sie selbst das Leben kosten. Diese Tragik wird umso deutlicher, je mehr Simone Frieling die Persönlichkeit ihrer Heldin heranreifen lässt und zeigt, wie erfolgreich die wirksamste nichtletale Waffe von Politikern, die Ideologie, in der Lage ist, jede einzelne angepeilte Privatperson zu entwaffnen, indem sie sie als erstes ihrer Identität beraubt und die Leerstelle anschließend mit einer kollektiven Identität füllt. Auch der Teenager Sophie Scholl will, 1933 gerade 12-jährig, Teil der arischen Volksgemeinschaft werden, sehr zum Entsetzen der Eltern, die vom samstäglichen Bad angefangen bis hin zu einer umfassenden Bildung alles getan hatten, selbständig denkende souveräne Sprösslinge heranzuziehen. Und jetzt das: Alle Kinder, eins nach dem anderen, wollen zur Hitlerjugend! Sophie zieht es zum BDM, dem Bund Deutscher Mädel, dem weiblichen Zweig der Hitlerjugend. „Im Januar 1934 tritt sie den Ulmer Jungmädeln bei und übernimmt bald Führungsaufgaben.“ Das berichtet die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem umfangreichen Dossier Sophie Scholl und die „Weiße Rose“.

Sophie Scholls Lieblingsbruder Hans. Er, der Ältere, macht 1940 erste Kriegserfahrungen. Hier eine Abbildung von Hans Scholl als Scherenschnitt von © Simone Frieling.

Simone Frieling konzentriert sich darauf zu ermitteln, wie sich die Geschwister Scholl, eins nach dem anderen, von der Hitlerjugend lösen. Dabei fokussiert sie auf Sophie, aber ohne dabei deren Lieblingsbruder Hans aus den Augen zu verlieren, auch weil er, der Ältere, erste Kriegserfahrungen macht. So wird bei den Geschwistern aus Zuneigung zur Volksgemeinschaft allmählich Abneigung, bald folgen Ablehnung und Widerspruch. Doch inzwischen schreiben wir das Jahr 1942, und da ist mit Flugblättern schon lange keine Regierung mehr zu stürzen. Die Redlichkeit der jungen, friedliebenden Bürger und die Ruchlosigkeit der gewieften, gewaltbereiten Berufspolitiker und ihrer willigen Helfer in Polizei und Justiz, da passt nichts mehr zusammen, die Volksgemeinschaft ist aufgekündigt. Diese Passagen des Buchs verdeutlichen implizit den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie: Demokratie legt Politikern Zügel an, Diktatur ist genau umgekehrt – da legen Politikern ihren Bürgern Zügel an und spannen sie vor ihren Karren. Aber eben nicht alle, nur die Guten. Die Widerspenstigen, für die sie immer neue Namen erfinden, lassen sie umbringen. Für die Bürger eines Landes ist der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ein Unterschied von Leben oder Tod.

Das haben zuletzt Bürger der DDR erfahren: Deren regierende Politiker ließen sie erschießen, wenn sie ihnen entfliehen wollten. Dem Deutschen Reich konnte seit Herbst 1941 niemand mehr entfliehen. Die Abstimmung mit den Füßen, von der Hunderttausende parteipolitisch und vor allem rassenpolitisch unerwünschte Bürger seit dem Februar 1933 Gebrauch gemacht hatten, war am 15. Oktober 1941 durch einen Erlass des Reichssicherheitshauptamtes endgültig unterbunden worden. Er verfügte nun auch ein generelles Auswanderungsverbot für jüdische Deutsche aus dem Deutschen Reich. Hans und Sophie Scholl hatten aber nicht Sezession als Ausweg im Auge, sondern Konfrontation als Hinweg zum Regime Change – „dem deutschen Volk seine nationalsozialistische Lebensart und also auch Regierung zu nehmen“, wie Dr. Freisler die todeswürdigen Absichten der Weißen Rose in seinem Urteil beschrieb.

Dem deutschen Volk seine Regierung zu nehmen – wer war die Weiße Rose, dieses Vorhaben zu bewerkstelligen? Der Dritte im Bunde, der am 22. Februar 1943 vor dem Richter steht, ist Christoph Probst. Auch ihn wird der Scharfrichter noch am Nachmittag dieses Montags mit dem Fallbeil köpfen. Probst, ein Studienfreund der Geschwister Scholl an der Münchener Universität, hatte Ende Januar 1943 das Manuskript für das 5. Flugblatt geschrieben, des ersten, das Sophie Scholl herstellen und verbreiten half – und des ersten, das in der Kopfzeile nicht mehr die Urheberschaft „Flugblätter der Weißen Rose“ bekannte, sondern „Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland“. War da etwas Kleines zu einem Großen herangewachsen, das dem deutschen Volk seine Regierung hätte nehmen können?

Tatsächlich sind in einem zweiten Prozess am 19. April 1943 zwei weitere Studenten, Alexander Schmorell und Willi Graf, und ein Hochschullehrer, Kurt Huber, der Verfasser des 6. Flugblatts, zum Tode verurteilt worden, auch sie starben durch das Fallbeil. Zehn weitere Angeklagte erhielten als Freunde und Unterstützer der Weißen Rose Freiheitsstrafen, eine Anklage endete mit Freispruch. Mehr als ein loser Freundeskreis Gleichgestimmter war die – ausgerechnet in München, der „Hauptstadt der Bewegung“ – im Januar 1943 zur „Widerstandsbewegung in Deutschland“ mutierte Weiße Rose nie. Die Asymmetrie zwischen Machthabern und Machtlosen ist nicht nur die der puren Zahl, sie spiegelt sich ebenso in den Urteilen: Tod denen, die nie und nimmer auch nur den Tod eines einzigen relevanten Politikers hätten bewerkstelligen können, um dem deutschen Volk seine Regierung zu nehmen. Das ist nicht einmal den gut organisierten Offizieren gelungen, die genau dies über ein Jahr später am 20. Juli 1944 mit einem gezielten Attentat versuchten.

Vorlage für diese Abbildung ist ein Foto von 1942, das Sophie Scholl in der Mitte zwischen ihrem Bruder Hans Scholl und dem gemeinsamen Freund Christoph Probst in München zeigt. Alle drei starben am 22. Februar 1943 durch das Fallbeil. Scherenschnitt von © Simone Frieling.

Wie sehr der Gedanke eines Anschlags seit Georg Elsers vergeblichem Versuch gleich zu Beginn des Krieges am 8. November 1939 in der Luft gelegen haben muss, lässt eine Äußerung Sophie Scholls erkennen, von der Simone Frieling berichtet. Für die Freundin Susanne Hirzel, die damals in Stuttgart Musik studierte, sei die „Verwandlung Sophies“ bei einem letzten Besuch unübersehbar gewesen. „Andeutungen von Flugblattaktionen“ habe sie bei einem gemeinsamen Spaziergang gemacht und unvermittelt bekundet: „Wenn Hitler mir entgegenkäme und ich eine Pistole hätte, würde ich ihn erschießen. Wenn es die Männer nicht machen, muss es eben eine Frau tun.“ So gibt Susanne Hirzel die Worte ihrer Freundin Sophie Scholl wieder, die sie wenig später aktiv, aber genauso gewaltlos wie diese, unterstützen wird, indem sie Anfang 1943 die ihr zugesandten Exemplare des 5. Flugblatts kuvertiert in Stuttgarter Briefkästen warf. Dafür wurde sie als Angeklagte des zweiten Prozesses am 19. April 1943 zu sechs Monaten Haft verurteilt – weil ihr die Kenntnis des Inhalts der ausgetragenen Flugblätter nicht nachgewiesen werden konnte.

Am Ende waren es weder die eigenhändig verteilten Flugblätter der Weißen Rose noch die selbst gebastelten Bomben von Georg Elser und Claus Schenk Graf von Stauffenberg, sondern die professionellen Bomben der Alliierten Flieger und der koordinierte Vormarsch ihrer Armeen, die Deutschlands Berufspolitiker zum Aufgeben und ihre Berufsoffiziere zur bedingungslosen Kapitulation zwangen. Erst jetzt war der Weg nach Nürnberg geebnet, an dessen Ende für knapp zwei Dutzend Verantwortliche aus Politik, Militär, Polizei, Justiz und Verwaltung der Galgen stand. Deren Gewaltherrschaft hatte sich nur mit vereinter Gewaltanwendung, für die es Millionen alliierter Soldaten brauchte, brechen lassen – der imaginierte Schuss einer Privatperson mit der Pistolen hätte da wenig bewirkt, selbst wenn er den Spitzenpolitiker getroffen hätte.

Tja, die Heldin der Weißen Rose. War es ein sinnloser Tod mit 21? In ihrer Biografie Sophie Scholl gelingt es Simone Frieling, eine Sophie Scholl zu verlebendigen, die einem beim Lesen ans Herz wächst. Der man wünscht, sie würde 100 werden, wie es ihrer Schwester Elisabeth vergönnt war; dann hätte Sophie Scholl sogar den 9. Mai 2021 noch erlebt. Wenn diese Biografie eines veranschaulicht, so ist es dieses: Kein Bürger kann seines Lebens froh werden, wenn es Politiker gibt, die ihm nach dem Leben trachten, sobald er gegen ihren Allmächtigen aufmuckt, sei es Gott oder der Staat. Ist es Regierenden erst einmal gelungen, sich der Zügel der Demokratie zu entledigen und sie umgekehrt den Bürgern anzulegen, ist es zu spät.

Widerstand hat nur in der Demokratie Aussicht auf Erfolg, unter Umständen. Denn gelingende Demokratie ist gelingende Einhegung derer, die im Besitz der Staatsmacht sind. Gelingende Demokratie ist anstrengend, sie bedeutet permanenten Widerstand – von Privatpersonen, die sich in dem einen Leben, das sie haben, nichts sehnlicher wünschen als von Politikern in Ruhe gelassen zu werden, statt sich beständig deren Bestreben nach Expansion des Staates erwehren zu müssen. In der Diktatur ist es eine gewalttätige Expansion in der Fläche, horizontal, von den Pyrenäen bis zum Kaukasus erstreckte sich der Geltungsbereich des Gesetzes der Stärkeren, die damals in Berlin das Sagen hatten und Sophie Scholl zum Schweigen brachten. In der Demokratie ist es die gewaltlose Expansion in den Privatraum, vertikal, vom Kindergarten bis zum Krankenhaus erstreckt sich der Geltungsbereich des Gesetzes der Fürsorglichen, die heute in Berlin das Sagen haben und immer noch gern die Unsolidarischen zum Schweigen bringen, aber eben nicht mehr mit dem Fallbeil.

Die Ohnmachtserfahrung, die Sophie Scholl machen musste, erleben junge Frauen heute anderswo, in Belarus, in Russland, in der Türkei, im Iran, in China, um nur fünf Staaten zu nennen, deren regierende Politiker widerspenstige Bürger hemmungslos töten lassen. Erst seit 1990 sind Ohnmachtserfahrungen in Deutschland nicht mehr letal, nur noch frustrierend. Oder bloß desillusionierend wie die Ohnmacht mit ansehen zu müssen, wie ein Politiker von heute das „Schicksal“ Sophie Scholls – als sei das Fallbeil vom Himmel gefallen – instrumentalisiert. So eröffnete der Bundesfinanzminister am 6. Mai 2021 anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl eine zehntägige Pop-up-Ausstellung unter dem Titel „durch unser Handeln …“ in Berlin am Zaun der Niedersächsischen Landesvertretung in der Hannah-Arendt-Straße gegenüber dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

Sophie Scholl zum Hundertsten: Pop-up-Ausstellung vom 6. bis 16. Mai 2021 am Zaun der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin. Aufgenommen am 9. Mai 2021 von © Rainer Bieling.

Warum ausgerechnet der Bundesfinanzminister? „Der Bundesminister der Finanzen entscheidet, welche Themen in Briefmarken-Motive umgesetzt werden. Er wird dabei von einem Expertengremium unterstützt, dem Programmbeirat, der derzeit aus 13 Personen besteht“, erläutert das Ministerium auf seiner Website. Und tatsächlich veröffentlicht die Open-Air-Ausstellung gleich auf dem dritten Schaubild in groß das Motiv der neuen 80-Cent-Marke, der vielgenutzten mit dem Porto für den Standardbrief. Sie zeigt das Foto von Sophie Scholl mit dem burschikosen Haarschnitt, das auch den Umschlag von Simone Frielings Sophie-Scholl-Buch ziert. Auf der Briefmarke macht sich das Foto klein, um Platz für den Text zu lassen: „22.02.1943: So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich soll gehen. Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden. Sophie Scholl 1921–1943.“

Schaubild der Pop-up-Ausstellung mit Sophie-Scholl-Motiv auf der neuen 80-Cent-Briefmarke. Foto von © Rainer Bieling.

Der Text basiert auf einem Brief von 1945, in dem Else Gebel die selbstermutigenden Worte ihrer Zellenkameradin Sophie Scholl an die Eltern der Geschwister Scholl weitergibt. Else Gebel, selbst seit Februar 1943 als politischer Häftling in der Münchener Gestapo-Leitstelle im Wittelsbacher Palais einsitzend, war dort zusammen mit Sophie Scholl in einer Zelle untergebracht und berichtet in dem Brief von deren letzten fünf Tagen – von der Einlieferung nach dem Ertappen auf frischer Tat am Donnerstagmittag, dem 18. Februar, bis zur Überführung in den Schwurgerichtssaal des Münchner Justizpalastes früh am Montagmorgen, dem 22. Februar 1943.

Schaubild der Pop-up-Ausstellung mit der wohl letzten Aufnahme von Sophie Scholl, erstellt vom Erkennungsdienst der Geheimen Staatspolizei während der Verhöre am 20. Februar 1943. Foto von © Rainer Bieling.

Der herrliche, sonnige Tag, von dem in dem Brief von Else Gebel die Rede ist, ist der 21. Februar 1943, der Sonntag vor dem kurzen Prozess und der Hinrichtung am Montag. Dass die Briefmarke den 21. Februar auf den 22.02.1943 vordatiert und die überlieferten Worte damit als letzte Worte etikettiert, wird künstlerischer Freiheit des amtlich bestallten Briefmarkendesigners zuzurechnen sein. Dass sich der Programmbeirat des Bundesministers der Finanzen für den 80-Cent-Wert der Marke für einen Standardbrief entschieden hat, wird kein Zufall sein. Nicht, um auf staatlich induzierte Preisinflation aufmerksam zu machen – für den Standardbrief von 1943 reichte die 8-Pfennig-Marke –, sondern weil die Weiße Rose zahllose Flugblätter im frankierten Umschlag verschickt hatte, und so war der Gestapo aufgefallen, dass „beim Postamt 23 (an der Ludwigstraße) von ein und derselben Person ungewöhnlich viele Briefmarken zu 8 Pfennig gekauft wurden“, wie der Vernehmungsbeamte Robert Mohr 1951 in seinem Bericht an Sophies Vater Robert Scholl schreiben wird.

Erinnerungspolitik: die staatliche Vereinnahmung von Sophie Scholl mit dem markanten Foto der Porträtierten auf der Briefmarke. Scholz meets Scholl, verbreitet auf Facebook. Bildschirmaufnahme von © Rainer Bieling.

Auf Facebook zeigt die Gedenkstätte Deutscher Widerstand als Mitveranstalter der Freiluftausstellung am 6. Mai 2021 ein Foto des maskierten Finanzministers neben seiner plakatierten 80-Cent-Briefmarke. Deren Botschaft will der Bundesminister mit der Briefpost verbreitet sehen, wohl wissend, dass durch das Handeln von Sophie Scholl keineswegs „Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt“ worden sind. Nicht einmal Eingeweihte in Berlin wussten in den Tagen nach dem 22. Februar 1943, dass ihre Münchener Freunde festgenommen und bereits tot waren. Das ist ja gerade die Tragik, dass niemand „aufgerüttelt und geweckt“ worden ist; denn außer rund um die Ludwig-Maximilians-Universität, wo die Exekutionen zur Abschreckung der Kommilitonen plakatiert waren, erfuhr kein Mensch etwas von der Hinrichtung der Drei mit dem Fallbeil. Die Regierenden in Berlin hatten entschieden, dass Goebbels’ Mobilisierung für den totalen Krieg keinesfalls durch die Bekanntmachung hochverräterischer, wie es in dem Urteil hieß, die innere Front und die Wehrkraft zersetzender studentischer Aktivitäten ausgebremst werden dürfe.

Schaubild der Pop-up-Ausstellung mit dem Passfoto von Sophie Scholl von 1942, das Simone Frieling als Vorlage für einen ihrer Scherenschnitte diente. Foto von © Rainer Bieling.

Ein Staatsverbrechen „im Namen des Deutschen Volkes“, von dem das deutsche Volk nichts erfuhr. Niemand hatte die Absicht, Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt zu sehen. Vielleicht wird so ein Paar Schuhe daraus, das junge Leute in der Nachlese von Sophie Scholls Hundertstem als Erinnerung mitnehmen können: Bedenkt, dass ihr Bürger werdet. Behaltet eure Politiker im Auge. Wehret den Anfängen, wenn euch das Leben lieb ist. Denn ohne Freiheiten und Rechte wird Demokratie Diktatur und Widerstand tödlich. Wenn ihr diese Erkenntnis in euer künftiges Leben mitnehmt und als Bürger die Zügel nie aus der Hand gebt, dann wird es doch nicht folgenlos geblieben sein, dass Sophie Scholl mit einem Fallbeil geköpft worden ist, um sie mundtot zu machen. Dann wird sie doch noch zu dem, was ihr im Leben nicht vergönnt war: zur Heldin der Weißen Rose, durch deren Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.

Schaubild der Pop-up-Ausstellung mit dem markanten Foto von Sophie Scholl, dessen sich beide bedienen: das Buch und die Briefmarke, die Erinnerungskultur und die Erinnerungspolitik. Duo cum faciunt idem, non est idem. Wenn zwei das Gleiche tun, ist das noch lange nicht dasselbe. Foto von © Rainer Bieling.

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Zum Weiterlesen

Simone Frieling: Sophie Scholl. Aufstand des Gewissens. Reihe blue notes. Verlag ebersbach & simon, Berlin Januar 2021. 144 Seiten, gebunden, 18 Euro.
Dazu: Fragen von literaturkritik.de mit Antworten von Simone Frieling auf der Website von Literaturkritik – https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27894

Bundeszentrale für politische Bildung: Sophie Scholl und die „Weiße Rose“. Online-Dossier mit allen 6 Flugblättern im Wortlaut auf der bpb-Website – https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/

Sophie Scholl. Dokumente der letzten Tage in ihrem Leben. Online-Dossier von Peter Koblank mit dem Wortlaut des Todesurteils Im Namen des Deutschen Volkes, der Vernehmungsprotokolle und des Berichts von Robert Mohr sowie des Briefs von Else Gebel an die Eltern der Geschwister Scholl auf der Website Mythos Elser – http://www.mythoselser.de/scholl.htm

Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor in Berlin. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Fotos: Simone Frieling / Rainer Bieling

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