EU-Schuldenaufnahme: Stell dir vor, dein Geld wird verschenkt und keiner sagt dir Bescheid

9. April 2021 – Am 25. März 2021 versuchten die Bundestagsabgeordneten binnen einer halben Stunde, den Bürgern des Landes still und leise eine neue Steuerlast von 750 Milliarden Euro aufzubürden. 

von Rainer Bieling

Rainer Bieling

[Der Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 22.4.2021]

Als die Bundeskanzlerin am Mittwoch, dem 24. März 2021, zu aller Verblüffung einen coronapolitischen Fehler einräumte, sich dafür entschuldigte und anschließend noch um Verzeihung bat, war ich baff: wofür das denn? Entschuldigung für einen Beschluss, der keine Rechtskraft erlangte? Etwas verzeihen, das gar nicht geschah? Ein Bluff, dachte ich erstaunt, aber wozu?

Am folgenden Donnerstag dann, dem 25. März 2021, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Alle Medien des Landes voll des Lobes oder voller Tadel, Merkel, Merkel über alles. Währenddessen tagte der Deutsche Bundestag, nahm sich gut 30 Minuten Zeit für die Aussprache über ein geplantes und anschließend verabschiedetes Gesetz, das kein Nachrichtenthema wurde und auch online nur marginal Widerhall fand: „Bundestag billigt EU-Schuldenaufnahme“ titelte lakonisch das Berliner Inforadio des rbb, des Rundfunks Berlin-Brandenburg, in seiner News-App und setzte an 10. Stelle (von 18) nach acht Coronameldungen genau 10 App-Zeilen ab:

„Der Bundestag hat mit großer Mehrheit die gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU für den Corona- Wiederaufbaufonds gebilligt. Union, SPD, Grüne und FDP hatten angekündigt, für den Gesetzentwurf zu stimmen, den sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss. Damit soll der EU- Kommission erlaubt werden, für den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Topf zum ersten Mal im großen Stil Schulden aufzunehmen. Der Regelung müssen alle EU-Länder zustimmen.“

Zwei Parlamentsparteien nennt die App-News nicht: Die Linke und die Alternative für Deutschland. Mittlerweile weiß ich es: Die Linke enthielt sich, weil die Alternative dagegen stimmte. Mit der AfD zu stimmen, das geht gar nicht. So blieb die Alternative für Deutschland weitgehend allein in ihrer Opposition: Nur insgesamt 95 Abgeordnete stimmten gegen die Erlaubnis zur Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission, für den Gesetzentwurf zur Einrichtung des Corona-Wiederaufbaufonds stimmten 478 Abgeordnete, also mehr als zwei Drittel des Parlaments, 72 Abgeordnete enthielten sich.

Wer mit so kleiner Minderheit gegen den sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss gestimmt hat, weiß ich von t-online, daher auch die Zahlen. Wer weiß es noch – nicht die Stimmzahlen der Abgeordneten, sondern was da an Zahlungsverpflichtungen auf Deutschlands Steuerzahler zukommt? Die Fernsehzuschauer wissen es jedenfalls nicht. In der heute-Sendung von 19 Uhr ging es am Abend des 25. März 11 Minuten um Corona, 2 Minuten um Afghanistan, 1 Minute um den Suezkanal, kurz um Kindesmissbrauch, 2 Minuten um Cum-Ex-Geschäfte, aufgepeppt mit der Bemerkung eines Experten, es handele sich hierbei um den „größten Steuerraub in der deutschen Geschichte“, gut 1 Minute um den Tod von Uta Ranke-Heinemann – und dann der Sport. Das arte Journal um 19.20 Uhr brachte nichts zum Thema EU-Aufbaufonds, und um 20 Uhr in der Tagesschau ging es 10 Minuten um Corona, kurz um Biden und China, 2 Minuten um Kindesmissbrauch, knapp 2 Minuten um den Tod von Uta Ranke-Heinemann – und dann der Sport.

Ja, was kommt denn da an Zahlungsverpflichtungen auf Deutschlands Steuerzahler zu? Und warum? Soll nicht, gerade erst am 22. März 2021 verkündet, die geplante Neuverschuldung des Bundes für das Haushaltsjahr 2021 coronapolitisch bedingt auf astronomische 240 Milliarden Euro steigen? Im vergangenen ersten Coronajahr 2020 waren es 130,5 Milliarden Euro Neuverschuldung. Und nun, drei Tage später, Beschlussfassung über einen 750 Milliarden Euro schweren Corona-Topf – und niemand in den Hauptabendnachrichten verliert auch nur ein Wort darüber, obwohl es die Hälfte der heute-Sendung lang nur um Corona geht – in der Tagesschau sind es sogar zwei Drittel der Zeit. Wie passt das zusammen?

Worum es bei dem sogenannten EU-Eigenmittelbeschluss geht, hat Roland Tichy bereits im Vorfeld am Sonntag, dem 21. März 2021, in einem am Entscheidungstag aktualisierten Beitrag klargemacht – den Lesern von Tichys Einblick. Die öffentlich-rechtlichen Abendnachrichten verwehren ihren Zuschauern am 25. März 2021 jeden Einblick; das Merkel’sche Staatstheater vom Vortag entfaltet seine beabsichtigte Wirkung: Corona, Corona und bloß nicht ans Bezahlen denken.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]

anmelden2021

Dabei haben die 750 Milliarden mit dem Schaden, den die Coronapolitik den Bürgern zufügt, gar nichts zu tun: Die Einführung eines EU-Aufbaufonds in Höhe von rund 750 Milliarden Euro ist ganz im Gegenteil einer der Gründe, warum die Coronapolitik gerade zu ihrer dritten Welle auflaufen muss. Corona kann gar nicht lange genug dauern, um endlich, endlich all die langgehegten Vorhaben zur Optimierung der Euro-Rettungspolitik – und das sind nur die außenpolitischen Vorhaben – zu verwirklichen, die seit 2011 Jahr um Jahr versucht immer an einigen EU-Nordstaaten scheiterten: die Umwandlung der EU in eine ESU – die Europäische Schulden-Union.

Stell dir vor, du machst Schulden, und dein bester Freund bezahlt sie. Der beste Freund, den EU-Politiker bald haben werden, ist der deutsche Michel. Nicht der Michel, der die Abendnachrichten um 19 Uhr oder um 20 Uhr schaut. Der ist Ü67 und zahlt keine Steuern, jedenfalls keine, die nicht selbst aus Steuern oder Sozialabgaben stammen. Auch nicht der Michel, der die Abendnachrichten macht. Der ist U62 und zahlt ebenfalls keine Steuern, jedenfalls keine, die nicht selbst aus einer Zwangsabgabe stammen, dem Rundfunkbeitrag, für den rein netto nur solche Erwerbstätige aufkommen, die nicht im Staatsdienst tätig sind und also Steuern nicht aus steuerfinanziertem Einkommen bezahlen.

Das ist der deutsche Michel, der Nettosteuerzahler, der mehr Steuern zahlt, als er einnimmt, etwa durch Kindergeld. Er ist der beste Freund, den EU-Politiker bald haben sollen – und es ist die Kollusion deutscher und ausländischer EU-Berufspolitiker, die ihn dazu macht. Kollusion ist das Zusammenwirken zweier zum Schaden eines Dritten. Deutsche Berufspolitiker lassen ausländische EU-Berufspolitiker teilhaben am Abschöpfen jener deutschen Bürger, die als Steuerzahler mehr Steuern erwirtschaften als kassieren. Das ist der Handel. Das geschieht deutscherseits keineswegs aus Altruismus.

Das erste Jahrzehnt der Eurorettung begann im März 2011 und bedeutet bis heute, dass der deutsche Michel für die Schuldenaufnahme in anderen EU-Ländern bürgt. Das zweite Jahrzehnt der Eurorettung begann am Donnerstag, dem 25. März 2021, und es konnte beginnen, weil seit Samstag, dem 13. Februar 2021, auch das Empfängerland Italien einen neuen Ministerpräsidenten hat, den schlauesten Fuchs des Südens: Mario Draghi. Niemand in der EU kann das Geld aus dem Nichts, das zu schaffen sein Job bei der EZB war, so gut umverteilen wie er. Damit war das magische Quartett komplett: für Frankreich Christine Lagarde an der Spitze der Europäischen Zentralbank, für Italien Mario Draghi an der Spitze der Regierung, für Deutschland Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission und für Deutschland zuhause Angela Merkel an der Spitze der Bundesregierung. Das doppelte Deutschland gibt das Geld, und Frankreich und Italien geben ihrerseits – endlich Ruhe. Win-Win.

Die Bundestagsentscheidung für einen Europäischen Wiederaufbaufonds schafft im ersten Schritt das, was Ernst Fraenkel 1941 in anderem Zusammenhang einen Doppelstaat nannte: zwei parallele staatliche Strukturen, 2021 nach Art des doppelten Lottchens – die Bürger wissen nie, mit wem sie es gerade zu tun haben: werden sie nach deutschem Recht abgeschöpft oder nach EU-Recht. Allerdings ist der Doppelstaat von 2021 nur ein Übergangsstadium: auf dass der eine Staat sich verliere und der andere über sich hinauswachse. Der eine ist die Bundesrepublik Deutschland, der andere die Europäische Union. Der Doppelstaat ist der Weg, die Umwandlung des Staatenbundes EU in einen föderalen Bundesstaat EU ist das Ziel; denn am Ende ist es wie beim Highlander: Es kann nur einen geben. Der Bundestagsbeschluss vom 25. März 2021 ist ein Meilenstein auf diesem Weg: Er soll die EU stillschweigend in eine ESU umwandeln, eine Europäische Schulden-Union. Das angestrebte neue Eigenmittelsystem der Europäischen Union, so die amtliche Bezeichnung, schafft eine EU mit Länderfinanzausgleich, der ja auch im deutschen Föderalismus, der eines Tages nur noch ein Binnenföderalismus sein wird, als Geschenk funktioniert.

Das ist raffiniert, Hut ab: Ohne dass die EU schon jetzt in einen Bundesstaat umgewandelt werden müsste, funktioniert sie fiskalisch wie einer: Die EU-Kommission wird nicht länger nur von den Mitgliedsstaaten alimentiert, das wird sie weiterhin, sondern sie darf künftig zusätzlich eigene Schulden aufnehmen, nominell die besagten 750 Milliarden Euro, darf diese dann als Eigenmittel behandeln und sie nicht nur an bedürftige EU-Staatseliten verleihen, sondern sie ihnen sogar schenken: 360 Milliarden Euro stehen als Darlehen zur Verfügung, aber 390 Milliarden Euro als Finanzhilfen, sprich: als Geschenk, das die entsprechenden EU-Länder, an erster Stelle – wer hätte es gedacht – Italien, wie die Empfängerländer des bundesdeutschen Länderfinanzausgleichs nicht zurückzahlen, sondern behalten und nach Belieben ihrer Berufspolitiker verteilen dürfen.

Und wer zahlt für das Geschenk? Nicht nur, aber eben als betuchtester Zahler in besonderem Maße der deutsche Michel, jener besagte Nettosteuerzahler. Und der sagt nichts dazu? Nun, in der Regel weiß er nicht, dass er des EU-Berufspolitikers bester Freund ist. Allerdings hat der deutsche Michel einige Abgeordnete in den Deutschen Bundestag entsandt, die dort tatsächlich Widerworte wagen: ein kleines galliges Dorf, rechterhand sitzend, ist nicht einverstanden – aus ihm stammen die meisten der erwähnten 95 Abgeordneten, die gegen die Erlaubnis zur Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission stimmten. Einer von ihnen schritt am Vormittag des 25. März 2021 beherzt zum Pult, sprach von „Helikoptergeld“ und zitierte eine „markante professorale Stimme“ zum Eigenmittelbeschluss: „Wir stehen vor der größten Weichenstellung in der Geschichte der Europäischen Union seit Einführung des Euro. Es ist gleichzeitig auch die teuerste Veränderung und auch der größte Bruch vertraglicher Verpflichtungen.“

Die professorale Stimme ist die von Matthias Herdegen, Professor für öffentliches Recht und Europarecht an der Universität Bonn. Er ließ sie am Vortag in der FAZ erklingen – und auch in der NZZ war sie zu hören. Dort resümiert Herdegen gleich im ersten Satz: „An den bestehenden Verträgen vorbei nimmt die Europäische Union gerade eine neue Gestalt als Schulden- und Transfergemeinschaft an.“

Um bekannt zu machen, dass sie es bei ihrem parlamentarischen Nein zur EU-Verschuldung nicht bewenden lassen wolle, hatte die AfD-Bundestagsfraktion zu einer Pressekonferenz geladen. Sie begann um 11 Uhr, noch während der Bundestagsdebatte, im dritten Geschoss des Reichstags, der Fraktionsebene, einen Katzensprung vom Plenarsaal des Bundestags entfernt, in dem Fernsehteams, Print- und Onlinejournalisten die Reden der Abgeordneten verfolgten. Zur Pressekonferenz kam – ein Journalist, in Ziffern: 1. Dabei hatte die Einladung deutlich gemacht, worum es gehen sollte. „Thema: AfD-Fraktion klagt gegen EU-Verschuldung (Next Generation EU) und stellt Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht.“ Klugerweise hatte die Pressestelle aber hinzugefügt: „Die Pressekonferenz kann auch als Stream im Internet verfolgt werden.“

Genau das hatte ich gemacht und mindestens noch eine weitere Journalistin, Corinna Budras, die Wirtschaftskorrespondentin der FAZ in Berlin, die noch selben Tags online berichtete, dass die AfD im Eilverfahren eine Organklage auf den Weg bringen werde, damit das Bundesverfassungsgericht mit einstweiliger Verfügung eine Unterschrift des Bundespräsidenten unter das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG, wie es offiziell in Kurzform heißt, untersage.

Im Livestream sah ich jenen einen Journalisten und die drei Protagonisten auf dem Podium, neben dem AfD-Pressesprecher die beiden Abgeordneten Peter Boehringer und Albrecht Glaser, für die wirtschaftliche Seite der Organklage zuständig der eine, für die juristische der andere. Im Maximum zeigte der Livestream 754 Zuschauer an, das war in Minute 37, nach 38 Minuten endete die Pressekonferenz, nicht ohne, dass zwei online bei der Pressestelle gestellte Fragen ihre Antwort gefunden hatten. Falls keine der beiden Fragen von der FAZ-Kollegin stammte, waren also mindestens 4 der 754 Zuschauer Journalisten, plus einer persönlich anwesend, macht summa summarum 5.

Muss sich der deutsche Michel da wundern, dass er nicht nur nichts von dem Bundestagsbeschluss erfährt, in dessen Folge ihm tief in die Taschen gegriffen werden soll? Stell dir vor, dein Geld wird verschenkt und keiner sagt dir Bescheid – wie das geht, konnte ich am 25. März 2021 von 11 Uhr, Beginn der Pressekonferenz, bis 20.15 Uhr, Ende der Tagesschau, an meinem Rechner und später vor dem Fernseher in Echtzeit lernen. Und musste nicht länger über einen Bluff der Bundeskanzlerin staunen – außer, wie gut er funktionierte.

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Update vom Freitag, dem 26. März 2021, nach den Abendnachrichten:

Den obigen Text hatte ich kaum fertig gestellt und der Redaktion von Tichys Einblick gemailt (die ihn am folgenden Tag, Samstag, dem 27. März 2021, ergänzend zu ihrer aktuellen Berichterstattung als Hintergrundbeitrag veröffentlichte) und mich anderen Dingen gewidmet, da begannen auch schon die Abendnachrichten mit der ZDF-heute-Sendung. Die üblichen 10 Minuten Corona – und dann unter „weitere Nachrichten des Tages“ als erste Nachricht diese: „Gesetz zum EU-Hilfspaket gestoppt“. Dazu eingeblendet ein Foto des Bundesverfassungsgerichts. Nanu? Plötzlich ist – „zur Bekämpfung der Pandemiefolgen“ – von „Mammutkrediten“ in Höhe von 750 Milliarden Euro die Rede, die die EU aufnehmen wolle, und von einem „Veto“ des Bundesverfassungsgerichts, das dem Bundespräsidenten die Unterzeichnung eines Gesetzes untersage, mit dem die EU-Kommission zu dieser Schuldenaufnahme autorisiert werden würde.

„Darüber müssen wir noch einmal reden“, sagt der Moderator – und fragt beim ZDF-Rechtsexperten nach. Der ist eigens ins Studio gekommen und erläutert die einstweilige Anordnung des Gerichts. Tatsächlich nimmt sich die heute-Sendung fast 3 Minuten Zeit, den präzedenzlosen Vorgang zu beleuchten – voller Sorge, die Coronahilfen könnten monatelang blockiert werden und die Hilfsbedürftigen leiden. Der gleiche Vorgang wiederholt sich um 20 Uhr in der Tagesschau, und wieder ist der Rechtsexperte des Senders im Studio, dieses Mal der des Ersten Deutschen Fernsehens, um sich seinerseits besorgt zu zeigen. Zum zweiten Mal innert dreier Tage war ich baff. Nicht wegen der ZDF-und-ARD-Sorgen, die den Bundestagsbeschluss vom 25. März 2021 mit eintägiger Verspätung nachrichtentauglich gemacht hatten, sondern wegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2021, die für mich völlig unerwartet kam. Was war geschehen?

Zweierlei, von dem ich nichts wusste. (Ich bin nämlich, sobald ich nicht berufsbedingt wie ein Luchs aufpasse, auch nur ein deutscher Michel.) Erstens: Kurz nach der Verkündung des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung im Bundestag setzte noch am Nachmittag des 25. März 2021 der Bundesrat das EU-Eigenmittelgesetz unverhofft als TOP 86 auf die Tagesordnung seiner 1002. Sitzung am Freitag, dem 26. März 2021. Die Länderkammer muss dem Gesetz mit Mehrheit zustimmen, bevor der Bundespräsident es durch seine Unterschrift in Kraft treten lassen und völkerrechtlich verbindlich machen kann. Das hätte er nach der Verkündung des Ergebnisses der Abstimmung im Bundesrat noch selben tags, an diesem Freitag also, dem 26. März 2021, tun können; denn das Ergebnis fiel laut Bundesrats-Website klar und deutlich aus: „Einstimmig hat der Bundesrat am 26. März 2021 der Ratifizierung des EU-Eigenmittelsystems zugestimmt – nur wenige Stunden nach dem Bundestag.“

Zweitens: Weil aber andere etwas wussten, nämlich dass der Bundesrat keine 24 Stunden nach dem Bundestag dem Gesetz zustimmen und damit den Weg zu dessen Ratifizierung durch den Bundespräsidenten noch am selben Tag ebenen würde, reagierten sie umgehend und reichten schon während der Sitzung des Bundesrats gleich nach dessen einstimmiger Zustimmung am Vormittag des 26. März 2021 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einen Antrag auf einstweilige Anordnung der Untersagung der Unterschrift des Bundespräsidenten ein. Dem vorausgegangen war am vorhergegangenen Montag, dem 22. März 2021, die Ankündigung einer Verfassungsbeschwerde und eines Antrags auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe war also am Freitag darauf vorbereitet, dass da etwas kommen würde, und sprach sein Verbot der präsidialen Unterschrift unter das frisch vom Bundesrat verabschiedete Gesetz schon in den Mittagsstunden des 26. März 2021 aus.

Diese anderen, die wie ein Luchs aufgepasst und sofort, unverzüglich gehandelt hatten, waren aber nicht die Bundestagsabgeordneten der Alternative für Deutschland, sondern eine Handvoll aufmerksamer Bundesbürger, die sich in dem Anfang 2012 gegründeten Verein Bündnis Bürgerwille zusammengeschlossen hatten. Der gemeinnützige Verein hat seinen Sitz in Bad Neuenahr-Ahrweiler in der Nähe von Bonn; einer seiner ersten Sprecher gleich im Februar 2012 wurde Bernd Lucke, damals wie heute Professor für Makroökonomie an der Universität Hamburg. Ein Jahr später, im Februar 2013, gründeten Lucke und andere die Alternative für Deutschland, um der Eurorettungspolitik auch parlamentarisch entgegenzutreten.

Längst hat Bernd Lucke die AfD verlassen, dem Verein Bündnis Bürgerwille und seinem Widerspruch zur Politik der Eurorettung durch Vergemeinschaftung der Schulden ist er treu geblieben. Nunmehr in seiner Funktion als Sprecher der Klägergruppe des Bündnis’ Bürgerwille hat Lucke rund 40 Professoren gewonnen, viele davon Ökonomen, darunter mit Philipp Bagus auch ein bekannter Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, die als Führungsgruppe der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das EU-Eigenmittelgesetz vorgehen. So konnte das Bündnis am Freitag, dem 26. März 2021, in einer Presseerklärung mitteilen:

„Der vom gemeinnützigen Verein Bündnis Bürgerwille beauftragte Marburger Staatsrechtsprofessor Hans-Detlef Horn reichte die Klageschrift heute zusammen mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Ziel der einstweiligen Anordnung ist es, den Bundespräsidenten an der Ausfertigung des Gesetzes zu hindern, bis über die Verfassungsbeschwerde entschieden ist.“

Und schon um die Mittagszeit des Freitags teilte das Bundesverfassungsgericht am 26. März 2021 seinerseits und unter vollständiger Namensnennung des Gesetzes in einer Presseerklärung mit:

„Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts angeordnet, dass das Gesetz zum Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom (Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz – ERatG) bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht durch den Bundespräsidenten ausgefertigt werden darf (Hängebeschluss).“

Erst durch diesen seltenen und deshalb ungewöhnlichen Hängebeschluss fand das EU-Eigenmittelgesetz vom 25. März 2021 mit eintägiger Verspätung am 26. März 2021 doch noch seinen Weg in die Abendnachrichten der Öffentlich-Rechtlichen – aus Sorge, dass die „zur Bekämpfung der Pandemiefolgen“ vorgesehene Aufnahme von „Mammutkrediten“ in Höhe von 750 Milliarden Euro möglicherweise monatelang blockiert sein würde.

Mit dieser durch den Karlsruher Bescheid abrupt ausgebremsten Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens hatte die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland offensichtlich nicht gerechnet. Ihre Ankündigung auf der Pressekonferenz am Vormittag des 25. März 2021, sie werde eine Organklage auf den Weg bringen, damit das Bundesverfassungsgericht mit einstweiliger Verfügung eine Unterschrift des Bundespräsidenten unter das Eigenmittelbeschluss-Ratifizierungsgesetz untersage, wollte sie erst in der Folgewoche verwirklichen.

Unter den 754 Zuschauern der Onlineübertragung der Pressekonferenz müssen einige höhere Regierungsbeamte und Bundespolitiker gewesen sein, die sich daraufhin sagten: Denen werden wir es zeigen! Und dann drückten sie aufs Tempo. Doch die Beschleuniger hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht, die außerparlamentarische Opposition. Am Nachmittag des 26. März 2021 kann das Bündnis Bürgerwille auf seiner Website bereits ein Fazit ziehen:

„Der Verdacht liegt nahe, dass die Bundesregierung das Gesetz gerne handstreichartig heute vom Bundesrat hätte beschließen und vom Bundespräsidenten ausfertigen lassen wollen, damit niemand mehr rechtzeitig das Verfassungsgericht anrufen kann. […] Bündnis Bürgerwille hatte mit derartigen Planungen der Regierung gerechnet und frühzeitig alle Weichen für rechtzeitige  juristischer Schritte vorbereitet. Mutmaßlich ließ sich nur so die Unterschrift des Bundespräsidenten verhindern, die das Gesetz in Kraft gesetzt hätte.“

Das EU-Eigenmittelgesetz ist damit nicht vom Tisch, aber das Bündnis hat verhindert, dass es völkerrechtlich verbindlich wird, bevor das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit überhaupt prüfen und bejahen oder verneinen kann. „Das ist ein guter und vielversprechender Anfang“, resümiert das Bündnis Bürgerwille diesen denkwürdigen Freitag, den 26. März 2021.

Der deutsche Michel, der bis zum Abend dieses Freitags gar nichts von dem Bundestagsbeschluss wusste, in dessen Folge ihm tief in die Taschen gegriffen werden sollte, ist für den Augenblick glimpflich davongekommen. Stell dir vor, dein Geld wird verschenkt und keiner sagt dir Bescheid – gut, wenn dann wenigstens einer Bescheid weiß und sofort, unverzüglich handelt. Wie das geht, musste ich am 26. März 2021 nach dem Ende der Tagesschau an meinem Rechner erst online ermitteln und im Nachhinein lernen. Um dann spät in der Nacht nicht länger baff zu sein über die unerwartete Anrufung des Bundesverfassungsgerichts – außer, wie gut sie funktionierte.

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Nachtrag vom Mittwoch, dem 21. April 2021: Das Bündnis Bürgerwille gibt die folgende Erklärung ab.

“Zu unserem großen Bedauern hat das Bundesverfassungsgericht heute entschieden, den von 2281 Beschwerdeführern eingebrachten Antrag auf einstweilige Anordnung gegen die Ratifizierung des ERatG abzulehnen. Der Antrag hätte es dem Bundespräsidenten untersagt, das Eigenmittelratifizierungsgesetz auszufertigen, bevor das Bundesverfassungsgericht über die von derselben Klägergruppe vorgelegte Verfassungsbeschwerde entschieden hat.

Auch wenn die Entscheidung in der Hauptsache damit noch aussteht: Die EU kann jetzt nicht mehr daran gehindert werden, Eurobonds zu emittieren und sich mit 750 Mrd Euro (in Preisen von 2018) bis zum Jahr 2058 zu verschulden. Denn Bundespräsident Steinmeier wird das Gesetz jetzt ausfertigen und damit ist Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, notfalls nicht nur für den eigenen Schuldenanteil, sondern auch für eventuelle Zahlungsausfälle anderer Mitgliedsstaaten zu haften. […]

Faktisch stellt sich die Sachlage jetzt so dar, dass das Bundesverfassungsgericht zwar nicht bereit ist, die gemeinschaftliche Verschuldung für das Corona-Wiederaufbaupaket zu untersagen, gleichzeitig sich aber vorbehält, zu einem späteren Zeitpunkt seine Rechtswidrigkeit festzustellen. Dies hätte dann, weil Deutschland inzwischen durch einen internationalen Vertrag gebunden ist, wohl keine praktischen Auswirkungen auf die jetzt aufzunehmenden EU-Schulden mehr, würde aber späteren Versuchen der EU, dasselbe in der nächsten Krise wieder in Szene zu setzen, einen Riegel vorschieben.”

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Nachsatz: Neben den 78 Abgeordneten der Alternative für Deutschland haben am 25. März 2021 weitere 17 Abgeordnete anderer Parteien im Bundestag in dritter, namentlicher Abstimmung über das EU-Eigenmittelgesetz mit Nein gestimmt:
4 Abgeordnete der FDP, darunter Frank Schäffler,
5 fraktionslose Abgeordnete,
8 Abgeordnete der CDU, darunter Klaus-Peter Willsch.
Frank Schäffler und Klaus-Peter Willsch sind zwei der wenigen Abgeordneten, die sich bereits im ersten Jahrzehnt der Eurorettungspolitik aller Umverteilung der Schulden von EU-Berufspolitikern auf die Bürger beharrlich widersetzt haben – an dieser Stelle zu guter Letzt dafür Dank und Anerkennung!

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Die Bundestagsdebatte vom 25. März 2021 finden Sie hier mit dem Wortlaut der Redebeiträge.

Die Dokumente zur Bundestagsabstimmung über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union finden Sie hier, darunter auch der in der Pressekonferenz vorgestellte Antrag 19/27210 der AfD-Fraktion.

 

Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief. Dort publizierten namhafte Vertreter der Österreichischen Schule in den Jahren 2012 bis 2018 regelmäßig Beiträge zur Geld- und Wirtschaftspolitik.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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