„Der archimedische Punkt bei Anthony de Jasay ist die Freiheitsvermutung.“
1. Februar 2021 – Interview mit Burkhard Sievert, der jüngst die Bücher „Social Contract“ und „Against Politics“ des Philosophen Anthony de Jasay (1925 – 2019) übersetzt hat.
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Herr Sievert, Sie haben jüngst zwei Bücher des im Jahr 2019 verstorbenen Anthony de Jasay übersetzt. Wer war Anthony de Jasay?
Anthony de Jasay wurde 1925 in Ungarn geboren und floh 1948 aus dem Osten. Er ließ sich schließlich in Australien nieder und studierte Wirtschaftswissenschaften an der Western Australia University. 1950 führte sein Weg an die Universität von Oxford, dort lehrte er am Nuffield College. Seine Forschungen aus dieser Zeit bezogen sich auf Themen wie internationale Geldströme und Wechselkurse. Diese Forschung führte zu einer Karriere im Bankwesen und in der Wirtschaft. Nach seinem Umzug nach Frankreich wurde er Privatgelehrter. Sein Thema ist neben der Ökonomie die politische Philosophie. Gerne verwendet er dabei auch die Spieltheorie und greift immer wieder auf die Erkenntnisse von David Hume zurück. Er zeichnet sich durch seine Klarheit und sein Vertrauen auf logische Argumente aus. Er ist ein konsequenter Verteidiger der Idee der individuellen Freiheit. Anthony de Jasay verstarb am 23. Januar 2019 im hohen Alter von 93 Jahren.
Was waren Ihre Beweggründe für die Übersetzungen?
Ich bin über die Bücher von Roland Baader auf Anthony de Jasay aufmerksam geworden, der ihn als einen herausragenden freiheitlichen Philosophen hervorhob. Um es mit Gerhard Radnitzky zu sagen: „Im intellektuellen Bereich haben nur sehr wenige mehr für die Sache der Freiheit getan als Anthony de Jasay.“ Wie Ludwig von Mises immer wieder betont hat, kommt es auf die Ideen an. Ich habe für mich beschlossen, dass ich der Sache der Freiheit am effektivsten (die richtigen Dinge tun) und am effizientesten (die Dinge richtig tun) dienen kann, indem ich Bücher von herausragenden liberalen Denkern übersetze. Anthony de Jasay ist interessant und anspruchsvoll. Sein Argument der Freiheitsvermutung ist unwiderlegbar und hat die gleiche Qualität wie Ludwig von Mises Argument von Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus. So eine Übersetzung ist ein spannendes kleines Projekt, indem ich auch persönlich an dem Thema wachse, und am Ende steht ein Ergebnis in Form eines qualitativ hochwertigen Buches. Ohne Anthony de Jasay hätte ich mich beispielsweise niemals so eingehend mit Staatstheorie beschäftigt.
Anthony de Jasay hat sich intensiv mit dem „Staat“ beschäftigt. Zu welcher Haupterkenntnis kam er?
In seinem 1985 erschienen Buch The State, das 2018 von Hardy Bouillon als Der Staat in deutscher Übersetzung erschienen ist, bietet Anthony de Jasay eine umfassende dynamische Staatstheorie an. Das Buch ist geprägt von Ökonomie, politischer Philosophie und einem tiefen Sinn von Geschichte. Anthony de Jasay modelliert den Staat als einen einzigen Akteur mit eigenen Zielen. Man stelle sich die Übertragung des von Ludwig von Mises formulierten Handlungsaxioms auf das Modell des Staates vor.
Eine Analogie aus der Ökonomie hilft das Modell des „adversen Staates“ zu verstehen. Ein Unternehmen ist eine hierarchische Organisation, die ebenso wie der Staat auf Befehl und Gehorsam funktioniert. Der endgültige Befehl liegt bei den Eigentümern und fällt durch Delegation nach unten. Produktion, Einkauf, Design, Wartung, Marketing, Personal und Finanzen, um nur die wichtigsten Unternehmensbereiche zu nennen, haben zwar einen gewissen Spielraum für eigene Entscheidungen, insgesamt müssen sie sich aber die strategischen Vorgaben des Gesamtunternehmens halten. Das Verhalten von Unternehmen im Allgemeinen lässt sich am besten vorhersagen, wenn man modellhaft davon ausgeht, dass ihr Maximand die Gewinnmaximierung ist. Analog lässt sich modellhaft das Verhalten von Staaten am besten verstehen und vorhersagen, wenn man ihnen einen einzigen Maximand zugesteht. In dem Staatsmodell von Anthony de Jasay ist Macht der Maximand, der souveräne Befehl, die nach Belieben eingesetzt werden kann. Sobald der Staat, oder genauer gesagt die Regierung, als ein autonomer, eigennütziger Akteur modelliert wird, müssen alle möglichen vorhersehbaren und unglücklichen Folgen gegensätzlich zu denen von vertragstheoretischen Ansätzen zur Regierung sein. Es entsteht das hobbessche Nach-Vertragsdilemma: Wie kann der Staat, der seine eigenen Interessen verfolgt und mit Handlungsvollmacht ausgestattet ist, daran gehindert werden, so zu handeln, wie es seine Interessen vorschreiben?
Und, kann er nach Anthony de Jasay daran gehindert werden?
Nein, es ist das Wesen des Staates. Laut Anthony de Jasay deutet nichts darauf hin, dass Individuen in einem Naturzustand ein einstimmiges Interesse an der Schaffung des Staates zeigen würden. Es ist im Allgemeinen der Staat, nicht private Interaktionen, der Trittbrettfahrer schafft. Außerdem hätten Menschen im Zustand der Natur keine Möglichkeit zu wissen, dass sie eine staatlich gelenkte Gesellschaft bevorzugen würden. Und warum sollten Einzelpersonen dem Staat vertrauen, dass er sein Wort hält und seine Freiheit und sein Eigentum respektiert, sobald er entwaffnet ist? Geschichte und Theorie (auch die Zwischenräume der marxistischen Theorie) legen nahe, dass der Staat ein autonomer Akteur und kein Instrument seiner Bürger ist.
Der dynamische Prozess des Staates besteht in der Initiierung von umverteilenden Transfers in Form von Geld oder Sachleistungen an potenzielle unterstützende Gruppen. Durch die Etablierung einer Tradition der erforderlichen Zustimmung entsteht ein Teilnehmerwettbewerb und die als Staat agierenden sehen sich der Bedrohung durch neue Marktteilnehmer gegenüber. In dem daraus resultierenden demokratischen Wahlkampf bieten Konkurrenten um die Staatsmacht alternative, aber sehr ähnliche Pakete (zur Trennung und/oder Überschneidung von Gruppen) an, um die minimal erforderliche Zustimmung (50 Prozent plus eine Stimme) zu erhalten. Der Kauf der Zustimmung ist für das Überleben notwendig. In diesem demokratischen Gleichgewicht, bemüht sich der Staat umverteilende Transfers zwischen potenziellen Zustimmungslieferanten zu implementieren, ein Prozess, der zum Umrühren führt. Die Analogie entspricht der Null-Profit-Position der Unternehmen im vollen Wettbewerbsgleichgewicht.
Der Staat wird natürlich weiterhin ein Interesse daran haben, aus diesem Null-Rendite Gleichgewicht auszubrechen, und er kann dies nur tun, indem er sich wieder in Richtung Repression und weg von der Zustimmung bewegt. Dabei eliminiert der Staat meist auch die effektive Ausstiegsmöglichkeit, die Personen in der Einstellung des Minimalstaates zur Verfügung steht. Der adverse Staat, gefangen im Null-Rendite Gleichgewicht des Konsenskaufs, wendet sich dem Staatskapitalismus zu. Im eigenen dynamischen Entwicklungsprozess geht die Tendenz zu einer verstärkten Kontrolle der wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen, die im Plantagenstaat gipfelt, in dem die Menschen buchstäblich zu Sklaven der allumfassenden Kollektivität werden.
Anthony de Jasay hat Friedrich A. von Hayek einmal als „erstaunlich naiv“ bezeichnet. Damit macht er sich unter Liberalen nicht unbedingt Freunde. Was meinte er damit?
Um diese Frage beantworten zu können, müsste zuerst einmal formuliert werden, was „liberal“ überhaupt ist. Liberal hat etwas mit „Freiheit“ zu tun. Um genau zu sein, mit individueller Freiheit. Die individuelle Freiheit ist der zu maximierende Wert im Liberalismus. Nun muss diese Freiheit durch irgendeinen Wert begrenzt werden. Anthony de Jasay bezeichnet es als „naiv“, diese Freiheit durch eine Verfassung begrenzen zu wollen, in einer Verfassung zu formulieren, was erlaubt ist und was nicht, denn im Zweifelsfall wird die Verfassung einfach geändert oder neu interpretiert. Friedrich August von Hayek meinte das Problem mit einer „Verfassung der Freiheit“ lösen zu können. Diese Art von Argumentation wurde unter Missachtung der lebendigen Kräfte der Politik der realen Welt vorgebracht, die mit einer Verfassung unvereinbar sind. Diese Kräfte werden die Verfassung so lange verdrehen und verändern und in wesentlichen Teilen umgestalten, bis sie in Bezug auf die Kontrolle über so wichtige kollektive Entscheidungen wie Steuern, Produktion öffentlicher Güter und Einkommensverteilung zur Bedeutungslosigkeit reduziert wird. Eine „Verfassung der Freiheit“ muss auf Logik beruhen, in sich konsistent und jenseits von Politik sein.
Eines der beiden Bücher, das Sie übersetzt haben, trägt den Titel „Der Gesellschaftsvertrag und die Trittbrettfahrer“. Worum geht es darin?
In dem Buch geht es um öffentliche Güter. Die Behauptung ist, dass, wenn Menschen in der Lage sind, sich einstimmig auf einen Gesellschaftsvertrag zu einigen, sie auch in der Lage sind, sich vertraglich auf die Produktion der öffentlichen Güter zu einigen, die angeblich den Gesellschaftsvertrag rechtfertigen. Anthony de Jasay widerlegt die allgemeine Ansicht, dass Zwangsmaßnahmen des Staates unabdingbar sind, um öffentliche Güter in optimalen Mengen (oder überhaupt) zu produzieren. Das berühmt-berüchtigte „Problem der öffentlichen Güter“, ein angebliches Marktversagen, hat selbst unter den Bedingungen des allgemeinen „Egoismus“ mögliche freiwillige Lösungen. Es dient lediglich der Legitimation von Staatsaktivitäten.
Nach dem Motto „Wer baut die Straßen, wenn nicht der Staat“?
Es handelt sich hier um den bekannten Sein-Sollen-Fehlschluss. Straßen könnten auch durch freiwillige Übereinkunft gebaut werden, denn es ist nicht offensichtlich, warum Zwangsmaßnahmen, die die Aufrechterhaltung eines Staates erfordern, insgesamt weniger kostspielig und effizienter sein dürften als freiwillige Übereinkommen. Tatsächlich wurden in der Industriellen Revolution und werden auch heute Straßen durch private Initiative gebaut. Der Zustand der Straßen und Brücken spricht auch nicht gerade dafür, dass der Staat ein großes Interesse an der Infrastruktur hat. Das Modell, das Anthony de Jasay vorschwebt, hat große Ähnlichkeit mit dem Stammkapital einer Aktiengesellschaft. Wenn der Plan der Bau einer neuen Brücke ist, dann zahlen die zukünftigen Anteilseigner ihren Betrag ein. Nur wenn im Vorfeld genügend Kapital eingesammelt wird, dann wird die Brücke gebaut.
Lassen Sie uns abschließend noch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Anthony de Jasay und Ludwig von Mises sprechen. Wo sehen Sie Unterschiede? Und worin stimmen beide überein?
Bei den Gemeinsamkeiten fällt auf, dass sie beide vor den Sozialisten aus ihrer Heimat fliehen mussten, sie beide von der Hauptstromwissenschaft ignorierte vielsprachige Außenseiter und brillante Stylisten sind. Letztendlich kommt es auf die Ideen an. Durch ihre feste Verwurzelung in der Aufklärung verfügen beide über eine solide philosophische Basis. Der eine steht durch seinen Subjektivismus Immanuel Kant nahe und der andere durch seinen Bezug auf Konventionen David Hume. Beide stehen der Institution der Regierung äußerst skeptisch gegenüber, man ist fast geneigt zu sagen: realistisch! Beide sind konsequente liberale Denker, der archimedische Punkt ist jeweils der handelnde Mensch. Eine Handlung ist gekennzeichnet durch drei Phasen: der Idee, der Handlung selber und die Folge der Handlung. Ludwig von Mises drückt es wie folgt aus: „Die Ideen und Werturteile, die die individuellen Handlungen leiten, können nicht auf ihre Gründe zurückgeführt werden und sind in diesem Sinn endgültige Daten.“ (Theorie und Geschichte, S. 121) Der Mensch handelt. Dieser Satz ist widerspruchsfrei, der Einwender müsste selber handeln, um zu widersprechen. Meines Erachtens ist Ludwig von Mises nicht der „letzte liberale Ritter“, sondern Liberalismus beginnt mit Ludwig von Mises.
Der archimedische Punkt bei Anthony de Jasay ist die Freiheitsvermutung. Die logische Begründung der Freiheitsvermutung leitet Anthony de Jasay nach Karl Poppers Methode für erfahrungsabhängige Urteile durch Falsifikation und Verifikation her. Eine Handlung gilt als frei und darf nicht verhindert werden, bis der Einwand gegen sie bewiesen (verifiziert) ist. Die Beweislast, die Falsifizierung, obliegt dem Einsprechenden. Die Frage, welche Seite die Beweislast tragen soll, ist eine Frage der Effizienz. Je länger die Liste der Einwände, desto kostspieliger ist es für den Handelnden, die Legitimität seiner Handlung zu beweisen, d. h. die Behauptung des Einsprechenden zu widerlegen. Die Liste der Einwände gegen eine Handlung geht logisch gegen unendlich, denn es gibt eine unbestimmbar große Anzahl von möglichen Bedenkenträgern, die eine potentiell unendlich große Anzahl von Einwänden haben könnten. Dem Handelnden die Beweislast für die Zulässigkeit der Handlung aufzuerlegen, würde gegen die schon im römischen Recht bekannte Regel „Sollen impliziert Können“ verstoßen, denn die Beweislast würde von ihm das logisch Unmögliche verlangen. Im Gegensatz dazu kann der potentielle Einsprechende über einen konkreten Einwand gegen die Handlung verfügen. Daher sind für ihn die Kosten für den Beweis seiner Behauptung vernachlässigbar gering. Entsprechend der Unschuldsvermutung muss der Einsprechende die Unzulässigkeit einer Handlung beweisen. Die Beweislast obliegt folglich dem Einsprechenden. Die Freiheitsvermutung ist somit Basis einer objektiven Ethik, d. h. der Einsprechende muss für die Unzulässigkeit einer Handlung einen objektiv überprüfbaren Beweis vorzeigen können. Das Argument ist reine Logik und frei von jeglicher Subjektivität. Die Freiheitsvermutung ist unwiderlegbar und deshalb ein starkes Argument. Das Argument findet sich übrigens in Kapitel 8 „Auftauchende Lösungen“ in seinem Buch Gegen Politik.
Meines Erachtens gibt es zwischen Ludwig von Mises und Anthony de Jasay mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Obwohl es natürlich eine reine Vermutung ist, könnte ich mir vorstellen, dass Ludwig von Mises einverstanden gewesen wäre mit dem, was Anthony de Jasay geschrieben hat.
Vielen Dank, Herr Sievert.
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Das Interview wurde per email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.
Burkhard Sievert ist freiberuflicher IT-Berater.
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