„Wenn man sich nur mit Politik beschäftigt, bekommt man schlechte Laune.“

15. Januar 2021 – Interview mit Rainer Zitelmann zur Neuauflage seines Buches Wohin treibt unsere Republik? Wie Deutschland links und grün wurde. Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.

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Herr Zitelmann, was hat Sie dazu bewegt, Ihr Buch ‘Wohin treibt unsere Republik? Wie Deutschland links und grün wurde’ – ursprünglich 1994 erschienen – nun neu aufzulegen?

Rainer Zitelmann

Das Buch enthält eine historische Analyse von der Gründung der Bundesrepublik bis in die 90er Jahre. Wer diese Entwicklung nicht kennt und versteht, insbesondere die Auflösung des anti-totalitären Konsenses, der kann auch nicht verstehen, wie es geschehen konnte, dass Deutschland links und grün wurde. Mir haben immer wieder Leser gesagt, dass sie erst durch die Lektüre dieses Buches verstanden haben, wie es dazu kommen konnte. Besonders für jüngere Leser, die diese Entwicklung nicht selbst miterlebt haben, ist das wichtig. Das Buch räumt mit einigen Legenden auf, z.B. über die sogenannte 68er-Bewegung. Zudem enthielt es damals einige Prognosen, von denen die meisten leider eingetreten sind. Ich hätte lieber Unrecht behalten… 

‚Auflösung des anti-totalitären Konsenses‘ … das müssen Sie erklären bitte …

Nach den Schrecken der NS-Diktatur einerseits und unter dem Eindruck der Errichtung von kommunistischen Diktaturen in Ostdeutschland sowie in Mittel- und Osteuropa andererseits gab es damals einen sehr breiten „antitotalitären“ Konsens in Deutschland. Der von mir sehr geschätzte FDP-Gründer Thomas Dehler sagte 1952: „Der Kommunismus ist der anders gefärbte Zwillingsbruder des Nationalsozialismus, er bedeutet wie dieser Zwang und Furcht… Der Kommunismus ist der Todfeind jeder Demokratie.“ Das sahen die Vertreter der CDU, aber auch der SPD genauso. Kurt Schumacher bezeichnete die Kommunisten als „rotlackierte Nazis“. Dieser Konsens, den ich ausführlich im 1. Kapitel beschreibe, ging jedoch in den 60er und 70er-Jahren verloren. Im 3. Kapitel beschreibe ich die Erosion der Abgrenzung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Antikommunismus wurde jetzt auf einmal zu einem Schmähbegriff, modisch wurde ein Anti-Antikommunismus. Die „Gleichsetzung“ von roter und brauner Diktatur, wie sie in den 50er Jahren von allen Parteien betrieben wurde, ist seitdem verpönt. Ohne diese langfristige Erosion der Abgrenzung wäre es nie denkbar gewesen, dass die SPD schon wenige Jahre nach dem Ende der „DDR“ mit der ehemaligen SED zusammenarbeitete. Ich habe auch dies in dem Buch vorhergesagt, obwohl die erste Koalition zwischen PDS (so nannte sich die ehemalige SED damals, die sich heute Die Linke nennt) erst vier Jahre nach Erscheinen meines Buches (1998 in Mecklenburg-Vorpommern) zustande kam.

Ihre Prognosen 1994 waren beinahe hellseherisch. So prognostizierten Sie, dass die Grünen die politische Debatte dominieren, obwohl sie ja 1990 aus dem Bundestag geflogen waren und erst 1994 mit 7,3 Prozent  wieder einzogen. Woran machten Sie diese Prognose damals fest?

Ja, u.a. hatte ich damals geschrieben: „Die Einwirkungen der grünen Partei gehen weit über ihre Beteiligung an Landesregierungen und die in Wahlen dokumentierten Erfolge hinaus. Entscheidender ist, dass es den Grünen immer wieder gelang, politische Themen zu besetzen und die Meinungsführerschaft in der öffentlichen Diskussion zu übernehmen. Dies konnte jedoch nur geschehen, weil sie überdurchschnittlich viele Sympathisanten in den Medien hatten und haben und weil die Reihen ihrer natürlichen Widersacher, also parteipolitisch gesehen die CDU, bereits innerlich aufgeweicht waren und maßgebende Politiker der Union entscheidende Positionen der Grünen schon übernommen hatten.“ In der Tat waren damals die Grünen lange nicht so stark wie heute, aber man konnte eben schon erkennen, dass sie die Debatten immer stärker dominieren. Und die CDU wurde, als ich diese Zeilen schrieb, nicht etwa von Angela Merkel geleitet – die kam ja erst sechs Jahre später-, sondern von Helmut Kohl. Ich bin kein Hellseher, aber ich habe in verschiedenen Bereichen immer drei Dinge kombiniert: Eine analytische Fähigkeit, wobei die Kenntnis der historischen Entwicklung hilft (ich bin ja Historiker), verbunden mit einer genauen Kenntnis von demoskopischen Daten und zuletzt einem gewissen Gefühl für Entwicklungen. Viele Menschen betrügen sich, weil sie die Dinge so sehen, wie sie sie sehen möchten. Das habe ich nie getan.

Eine Verschiebung des politischen Spektrums nach links festzustellen ist die eine Seite, die Gründe dafür herauszuarbeiten die andere. Wo liegen aus Ihrer Sicht die Hauptursachen, dass Deutschland ‘links und grün’ wurde?

Linke und Grüne konnten nur so stark werden, weil ihre Antipoden, also Liberale und Konservative, so schwach sind. Sie agierten und agieren defensiv, ängstlich, so als müssten sie sich dafür entschuldigen, dass sie nicht selbst grün und links sind. Schauen Sie doch mal in einer Talkshow, wenn sich ein Unternehmer oder ein Bürgerlicher beschwichtigend rüberbeugt zu dem Linken oder Grünen, um ihm beflissen zu versichern, dass man gar nicht so weit auseinanderliege… Sowas werden Sie bei einem Linken und Grünen nie sehen. Insofern, auch das hatte ich in meinem Buch geschrieben, könnten die bürgerlichen Kräfte einiges von den Linken und Grünen lernen. 

Laut einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr würden mehr als 57 Prozent der Volontärinnen und Volontäre der ARD bei der nächsten Bundestagswahl die Grünen wählen. Welche Rolle spielen die Medien? 

Ja, um das zu ergänzen: Und 23 Prozent der Befragten würden die Linke wählen; die CDU würde es nicht mal über die 5-Prozent-Hürde schaffen. Da das Thema so wichtig ist, habe ich den Medien ein ganzes Kapitel in dem Buch gewidmet. Auch hier nannte ich schon Zahlen, die belegten, dass die Grünen weit überproportional unter den Journalisten vertreten sind. Die 68er, so schrieb ich, waren „in kaum einem gesellschaftlichen Bereich so erfolgreich wie bei den Medien“. Nur wenn man diese Entwicklung versteht, kann man auch die Entwicklung der Parteien verstehen. Denn, so mein Argument: „Zwar entscheiden die Wähler alle vier Jahre über die Wiederwahl eines Politikers bzw. einer Partei, aber die Medien können praktisch täglich darüber entscheiden, ob Verfehlungen eines Politikers zum ‚Skandal’ werden oder nicht.“

Als Beispiel führte ich eine bislang beispiellose Kampagne im Juli 1993 nach einem Anti-Terroreinsatz der Spezialeinheit GSG 9 in Bad Kleinen an. Der „Spiegel“ und das Fernsehmagazin „Monitor“ hatten, wie ich in dem Buch zeige, „unseriös gearbeitet, sich auf offenkundig unglaubwürdige Zeugenaussagen eingelassen oder diese sogar absichtlich manipuliert, um die absurde These einer ‚Hinrichtung’ des RAF-Terroristen Wolfgang Grams zu ‚beweisen’“. Damals mussten der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, der Vizepräsident des BKA Gerhard Köhler, Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) und weitere Personen zurücktreten. Erst 26 Jahre, nachdem ich dies geschrieben hatte, gab der „Spiegel“ öffentlich diesen schweren Fehler zu, bei dem ideologische Vorurteile stärker gewesen waren als seriöse Recherche.

Nur deshalb, weil Politiker sich oftmals mehr an Medien als an ihren Wählern orientieren, so argumentierte ich schon damals, „ist es zu erklären, dass sich Politiker beispielsweise in der Asyl- und Ausländerpolitik über viele Jahre lieber in Widerspruch zur Mehrheitsmeinung ihrer Wähler gesetzt haben, als sich in einen Gegensatz zum Medientenor zu begeben“. Mit nur wenigen Ausnahmen „bemühten sich fast alle Printmedien – und erst recht die elektronischen Medien – darum, die Probleme der massenhaften Einwanderung herunterzuspielen oder durch appellative ‚Ausländerfreundlichkeits’-Kampagnen zu überdecken“. Also man sieht auch hier: Manche scheinbar neueren Entwicklungen reichen in Wahrheit sehr viel länger zurück.

Die Medien als die vierte Gewalt im Staat treiben also gleichwie die Politik vor sich her? 

Unabhängige und kritische Medien sind wichtig in einer freiheitlichen Gesellschaft. Es gibt zum Glück in Deutschland Journalisten, die diese Funktion wahrnehmen, aber es sind zu wenige. In der Corona-Krise sind mir beispielsweise Jan Fleischhauer im FOCUS, Julian Reichelt in BILD und Johannes Boie in der WELT AM SONNTAG aufgefallen, die Probleme beim Namen genannt haben. Und natürlich ist die Neue Zürcher Zeitung zu nennen, die immer wichtiger wird, auch für deutsche Leser. Aber es gibt zwei Probleme: Erstens: Im deutschen Fernsehen sind die allermeisten Journalisten links und grün eingestellt. Ich meine durchaus nicht nur die Öffentlich-Rechtlichen – in den privaten Sendern ist es auch nicht besser. Wenn man mal auf die Talkshows schaut: Die meisten, wie etwa Anne Will, sind doch sehr linkslastig. Eine Talkshow wie Hangar7 bei ServusTV (Österreich) fehlt in Deutschland. Was ich bei den „bürgerlichen“ Medien wie WELT oder FAZ nicht verstehe: neben guten und lesenswerten Beiträgen drucken die immer wieder dezidiert linke und antikapitalistische Autoren. Sie fühlen sich damit sehr „liberal“, aber ich frage mich: Haben denn diese linken Autoren nicht mehr als genug Möglichkeiten, ihre Thesen in der Zeit, der Süddeutschen, der Frankfurter Rundschau, der taz usw. zu verbreiten? Wäre es nicht sinnvoller, den wertvollen Platz dezidiert libertären, nationalliberalen oder konservativen Autoren zur Verfügung zu stellen? Als ich das Ressort „Geistige Welt“ bei der WELT leitete, habe ich genau das gemacht – wie das ausgegangen ist, können Sie in meiner Autobiografie nachlesen: Letztlich bin ich damals damit gescheitert. Und als wir damals intern bei der Welt Wahlen abhielten, gab es eine klare Mehrheit für SPD und Grüne. Auch hier gilt wieder: Das Problem in Deutschland sind nicht die Linksgrünen, sondern das Problem ist das Verhalten der Bürgerlichen, ihre Schwäche, die sie sich selbst als „Toleranz“ verkaufen. Auch diese Probleme sind nicht neu. In meinem Buch zeige ich auf, wie sie entstanden sind. Ich wende mich gegen die These, dass die linken Journalisten ganz bewusst manipulieren oder gar irgendwie ferngesteuert wären. Von solchen Verschwörungsspinnereien halte ich nichts. Nein, es ist das Problem des Konformismus, der übergroßen Anpassungsbereitschaft an den „Zeitgeist“. Die Leute müssen nicht von außen „gleichgeschaltet“ werden, weil sie sehr gleichförmig im Denken sind.

Lassen Sie uns Politik bitte im Allgemeinen betrachten. Das Leben der Menschen ist durch und durch politisiert. In den täglichen Nachrichtensendungen geht es nahezu um nichts anderes, vielleicht noch ein bisschen Sport, ja, und das Wetter. Sind die Erwartungen der Menschen nicht zu hoch, die sie an die Politik richten? 

Die Erwartungen sind einerseits viel zu hoch und andererseits viel zu niedrig. Zu niedrig sind sie, weil sich viele Bürger an das Staatsversagen in zentralen Lebensbereichen gewöhnt haben. Man kann das Staatsversagen ja derzeit in der Corona-Krise beobachten. Wenn ich mir Deutschland anschaue: Die Grenzen Europas werden nicht gesichert, die Infrastruktur zerfällt, in der Digitalisierung sind wir eines der Schlusslichter, in der Bildung müssen wir uns verstecken vor Ländern wie Südkorea, die Bundeswehr ist in einem katastrophalen Zustand, das Problem der Clankriminalität wurde über Jahre geleugnet und ignoriert usw. Also da könnten und sollten die Bürger sehr viel mehr von der Politik erwarten. Anderseits, da haben Sie Recht, erwarten sie zu viel vom Staat: der Staat soll für „Gleichheit“ sorgen, der Staat soll alle Lebensrisiken absichern, der Staat soll mich im Alter versorgen usw. Meine zentrale These lautet: Der Staat ist viel zu stark, wo er schwach sein sollte, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Und der Staat ist zu schwach, wo der stark sein sollte, also im Bereich innerer und äußerer Sicherheit. Die Berliner Verwaltung bringt es fertig, einen detaillierten Leitfaden mit über 40 Seiten Vorschriften für gendergerechtes Sprechen zu erarbeiten, aber die Berliner Polizei konnte nicht verhindern, dass im vergangenen Jahr über 700 Autos (also zwei am Tag) „abgefackelt“ wurden und das Teile der Stadt von kriminellen Clans „regiert“ werden. Und das geht ja bis auf die europäische Ebene: EU-Kommissarin von der Leyen zeigt uns in einem Video, wie man sich richtig die Hände wäscht und dabei die Europahymne summt, aber versagt komplett bei der Impfstoffbeschaffung.

Ja, ich glaube auch, Politik ist nicht alles. Und wenn man sich nur mit Politik beschäftigt, bekommt man zudem schlechte Laune. Daher schreibe ich immer wieder Bücher über Zielsetzung und Erfolg, so etwa mein Buch „Setze dir größere Ziele“, das jetzt schon in elf Sprachen erschienen ist und vielen Menschen geholfen hat. Meine Botschaft: Sei kein Opfer und nimm‘ dein Schicksal selbst in die Hände!

Vielen Dank, Herr Zitelmann.

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Das Interview wurde per email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

Rainer Zitelmann hat in Geschichte und Soziologie promoviert und hat 24 Bücher geschrieben und herausgegeben. Regelmäßig schreibt er für Medien wie Neue Zürcher Zeitung, Focus, Welt, Washington Examiner, National Interest, Le Point, Linkiesta u.a. Mehr zu seinem Buch „Wohin treibt unsere Republik?“ finden Sie hier.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

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