Das Coronavirus und die Blasenökonomie
20. März 2020 – Die Börsen stürzen ab. Dafür allein die Coronaepidemie verantwortlich zu machen, ist zu einfach.
von Olivier Kessler
Die Chancen stehen gut, dass das aktuelle Börsendrama als «Corona-Crash» in die Geschichtsbücher eingehen wird. Mit dieser Fokussierung auf den Trigger würde jedoch etwas Wesentliches übersehen. Rückblickend werden die vielschichtigen und undurchsichtigen Entwicklungen in der Geschichte oftmals auf einige wenige spezifische Ereignisse reduziert. Dies entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion und Einordnung: Man versucht den Wald trotz lauter Bäumen zu sehen. Manchmal jedoch birgt diese Simplifizierung die Gefahr voreiliger Schlüsse.
So wie der Immobiliencrash von 2008 vereinfachend den «gierigen Spekulanten» und die Eurokrise dem «überschuldeten Griechenland» angelastet wurde, droht nun das Coronavirus zum Sündenbock für den gegenwärtigen Börsenkrach zu mutieren.
Selektive Wahrnehmung
Darauf deuten bereits Aussagen diverser Regierungen hin: Man tut so, als sei lediglich das Virus das Problem der Wirtschaft, während die über viele Jahre aufgebauten strukturellen Ungleichgewichte in Form von staatlich am Leben erhaltenen Zombie-Unternehmen und rekordhoher Verschuldung an allen Fronten ausgeblendet werden. Das wäre etwa so, als ob man nur denjenigen für eine Explosion verantwortlich machen würde, der ein brennendes Zündholz fallen lässt, nachdem zuvor andere mutwillig und breitflächig Benzin ausgeschüttet haben.
Diese Interpretation würde einmal mehr den entscheidenden Komplizen unerkannt entwischen lassen: die Zentralbanken. Genauso wie die Spekulanten und die Probleme in Griechenland lediglich eine der vielen möglichen Nadeln waren, an denen frühere Blasen hätten platzen können, ist auch das Coronavirus nur einer von vielen möglichen Katalysatoren, die den längst von realen Werten abgekoppelten Märkten die Luft ablassen könnten – wie stark, muss sich in den kommenden Wochen und Monaten erst noch weisen.
Eine weltweite Pandemie diesen Ausmasses – erst noch in Kombination mit einem Ölpreisschock – hätte bestimmt auch unter geldpolitisch «normalen» Umständen eine Marktkorrektur zur Folge, jedoch dürften die Konsequenzen in der heutigen Blasenökonomie um ein Vielfaches gravierender sein.
Genauso wie das Coronavirus vor allem für Patienten mit diversen Vorerkrankungen wirklich gefährlich ist, so ist das Virus auch für diejenigen Volkswirtschaften besonders bedrohlich, die seit einiger Zeit an geldpolitischem Grössenwahnsinn kränkeln – wo also das Sparen für schwierige Zeiten durch Niedrigstzinsen bestraft sowie die Überschuldung und das Spekulieren mit Leverage belohnt wurden. Eine solche Geldpolitik hatte auch die historisch Grosse Depression 1929 verursacht, obwohl dies in diversen Lehrbüchern anders dargestellt wird.
In einer der profundesten Analysen dieser Periode – in «America’s Great Depression» – hat Murray Rothbard entgegen weit verbreiteten Klischees gezeigt, dass die Grosse Depression von der expansiven Geldpolitik der US-Zentralbank verursacht wurde. Die Geldmenge wurde zwischen 1921 und 1929 um 62% ausgeweitet, was zwar keine Konsumentenpreisinflation, dafür aber eine Blase auf den Finanzmärkten schuf. Parallelen zu heute sind unübersehbar.
Das Federal Reserve (Fed) selbst gab zu, dass seine Geldpolitik die Weltwirtschaftskrise verschuldet hatte. Nobelpreisträger Milton Friedman vertrat in seiner umfangreichsten Studie zusammen mit Anna Schwartz die Ansicht, dass es ohne Federal Reserve auch keine Grosse Depression gegeben hätte. Unter dem früheren wettbewerblichen Geldsystem hätte die Clearingstelle der Privatbanken die Lage schnell entschärft.
Der ehemalige Fed-Chef Ben Bernanke stellte 2002 in einer Rede zur Ehrung Milton Friedmans anlässlich seines neunzigsten Geburtstags fest, dass die Grosse Depression tatsächlich geldpolitische Ursachen hatte. Bernanke entschuldigte sich sogar im Namen der Zentralbank: «I would like to say to Milton and Anna: Regarding the Great Depression. You’re right, we did it. We’re very sorry. But thanks to you, we won’t do it again.»
Dieses Versprechen war jedoch heisse Luft. Nicht nur hatte die amerikanische Zentralbank mit ihrer expansiven Geldpolitik zwischen 2002 und 2007 – als die Geldmenge M2 um 39% von 5,4 auf 7,5 Bio. $ erhöht wurde – die Immobilienblase heraufbeschworen, deren Platzen die Finanzkrise von 2008 einleitete. Auch hat sie seither unbeirrt an ihrer problematischen ultraexpansiven Geldpolitik und der Heruntermanipulierung der Zinsen festgehalten: Von 2008 bis 2019 hat sie die Geldmenge M2 sogar noch stärker ausgeweitet, nämlich um 103%, von 7,5 auf 15,2 Bio. $. Der Dow Jones avancierte im selben Zeitraum 128% (wohlgemerkt: gemessen von Anfang 2008, als die Märkte noch nicht dramatisch eingebrochen waren), wobei nicht eindeutig ist, welcher Anteil auf zusätzliche Wertschöpfung und welcher auf zusätzliche Geldschöpfung zurückzuführen ist.
Die Schweizerische Nationalbank SNB übertrumpft das Fed sogar noch: Sie hat ihre Zentralbankgeldmenge von rund 50 Mrd. Fr. 2008 auf 584 Mrd. Fr. 2019 vergrössert, also um über 1000%.
Die Notenbanken konnten sich damit zwar vordergründig als Feuerlöscher in den von ihnen verursachten Krisen in Szene setzen, gleichzeitig haben sie damit aber auch zuverlässig das Benzin für einen noch grösseren Flächenbrand ausgeschüttet, der irgendwann nicht mehr in den Griff zu kriegen sein wird.
Grosse geldpolitische Risiken
Die neusten Reaktionen der wichtigen Zentralbanken lassen vermuten, dass man nicht gewillt ist, den bedrohlichen Trend umzukehren. So hat etwa das Fed die Zinsen am Sonntagabend panisch auf 0% gesenkt und pumpt in den nächsten Tagen gigantische 700 Mrd. $ in die Märkte.
Die Risiken einer solchen expansiven Geldpolitik dürfen angesichts der gleichzeitig schrumpfenden Produktion aufgrund der Unterbrechungen in den weltweiten Wertschöpfungsketten nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Übereifrige Massnahmen der Zentralbanken könnten unter solchen Umständen rasch in eine Hyperinflation umschlagen – ein Horrorszenario, das um ein Vielfaches schlimmer wäre als ein zugelassener konjunktureller Abschwung. Es ist höchste Zeit für ein Umdenken und für eine geordnete Abkehr von der Blasenökonomie.
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Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf der website der Finanz und Wirtschaft.
Olivier Kessler ist Vizedirektor des Liberalen Instituts in Zürich und Mitherausgeber des Buchs «Explosive Geldpolitik. Wie Zentralbanken wiederkehrende Krisen verursachen».
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