Botschaft nach Davos: Wir brauchen mehr Kapitalismus
24. Januar 2020 – von Antony P. Mueller
Von allen Seiten gibt es derzeit Kritik am Kapitalismus. Es ist deshalb kein Wunder, dass – wie einer globalen Umfrage zu entnehmen ist – sich eine Mehrheit gegen den Kapitalismus ausspricht. In Deutschland sind 55 % der Befragten der Meinung, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form mehr schadet als hilft. Auf dem diesjährigen Davoser Wirtschaftsforum reichte die Prominenz, die nach einem neuen Wirtschaftssystem jenseits des Kapitalismus rief, von Greta bis Prinz Charles.
In diesem an Hysterie grenzenden Taumel haben es die Stimmen der Vernunft nicht leicht. Ein Plädoyer für einen radikalen Kapitalismus ist aber gerade deshalb sehr nötig.
Kapitalismus auf der Anklagebank
Wieder einmal steht der Kapitalismus vor Gericht. Die Ankläger sind zahlreich. Es sind nicht nur wie üblicherweise die Linksintellektuellen und Medienstars, nun stimmen auch Multimilliardäre in das Klagelied ein.
Offensichtlich tun sich viele Menschen schwer damit, das kapitalistische Wirtschaftssystem richtig einzuordnen und angemessen zu beurteilen. Man glaubt an den Staat und verkennt offenbar, dass die Marktwirtschaft den besseren Lösungsweg darstellt.
Man stelle sich vor, die Menschen wären in den 70er Jahren auf die Unheilprognosen des Club of Rome hereingefallen und man hätte auch im Westen eine Zentralverwaltungswirtschaft etabliert, um die als bevorstehend angekündigte Energiekrise und Hungersnot zu bewältigen. Die Folge wäre nicht der heutige Überfluss, sondern in der Tat wäre es genau dadurch zur Planwirtschaft und zum angekündigten Massenelend gekommen.
In den 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts hat die Stimme der Vernunft noch gesiegt. Angesichts des Meinungsterrors, der heute herrscht, könnte es diesmal jedoch anders kommen. Die Gefahr besteht, dass im Namen des Klimaschutzes der Kapitalismus immer mehr aufgelöst wird. Je mehr jedoch der Sozialismus überhand nimmt, desto geringer wird die Leistungskraft der Wirtschaft. Eine schwache Wirtschaft dient nun ihrerseits dazu, noch mehr Staatseingriffe zu fordern. Kommt diese Spirale einmal richtig in Gang, ist sie nicht mehr aufzuhalten. Aufklärung tut Not.
Besonders dringend ist die Aufgabe, Wesen und Funktion des modernen Kapitalismus richtig zu begreifen, und zu verstehen, wie Marktwirtschaft im Gegensatz zur Zentralverwaltungswirtschaft funktioniert.
Kapitalismus als monetäre Unternehmenswirtschaft
Der Begriff „Kapitalismus“ wurde im 19. Jahrhundert als politischer Kampfbegriff erfunden und wird auch heute noch so gebraucht. Kapitalismus ist aber so alt wie die Menschheit selbst, wenn man dieses Wirtschaften als den Gebrauch von Werkzeugen zur Güterherstellung versteht. Auch den Versuch, sozialistische Gemeinwirtschaften zu etablieren, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben – eine Beobachtung, die Igor Schafarewitsch dazu antrieb, den „Todestrieb in der Geschichte“ als Motiv des Sozialismus zu untersuchen.
Je mehr diese sozialistischen Gesellschaften die Akkumulation von Kapital einschränken, desto mehr geraten sie in Verfall. Indem der Sozialismus Kapital zerstört, geht auch der Kapitalismus zugrunde. Dabei kann man aber den kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten nicht entkommen und zum Beispiel erwarten, mit mehr Sozialismus käme auch mehr Wohlstand oder dieser ließe sich auch nur erhalten.
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist es dazu gekommen, dass der moderne Kapitalismus auf der Basis des Eigentums an Produktionsmitteln als unternehmerische Geldwirtschaft der Durchbruch gelang. Die industrielle Revolution erwies sich als die entscheidende Singularität der Wirtschaftsgeschichte. Bis dahin kannte die ganz große Mehrheit der Menschen nur Elend und Not.
Das herausragende Kennzeichen des modernen Kapitalismus ist es, dass spezialisierte Firmen gewinnorientiert wirtschaften. Da auf Wettbewerbsmärkten der Gewinn von der Produktivität abhängt, zwingt das System die Firmen zu laufender Kostenkontrolle und zur Innovation. So ist es überall dort zu einer Erhöhung des Wohlstands gekommen, wo sich der moderne Kapitalismus möglichst frei entfalten konnte. Je weiter sich dieser Kapitalismus in der Welt ausbreitete, desto mehr ging der Anteil der extrem Armen an der Bevölkerung zurück (Abb. 1).
Der moderne Kapitalismus als monetäre Unternehmenswirtschaft zeichnet sich gegenüber den Wirtschaftsformen der Vergangenheit dadurch aus, dass er die Massenarmut lindert und schließlich zum Verschwinden bringt. Im Kapitalismus ist der Kunde König und so letztlich der Endverbraucher der Dreh-und-Angelpunkt des Systems.
Der Kapitalismus beruht auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln. „Kapital“ in diesem Sinne ist das Kernstück des Kapitalismus. Eigentumsrechte sind zwar eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des Kapitalismus, aber für sich allein genommen ist Eigentum nicht ausreichend. Erst wenn preisgesteuerte Wettbewerbsmärkte hinzukommen und wenn der Privatinitiative Raum eingeräumt wird, funktioniert das kapitalistische System.
Der Kapitalismus ist umso funktionsfähiger, je mehr das Eigentum an Produktionsmitteln gesichert ist, je mehr Wettbewerb und freie Preisbildung herrschen und je mehr Freiraum für die Privatinitiative besteht (Abb. 2).
Der Hauptunterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus besteht darin, dass im Kapitalismus der Konsument das Sagen hat und damit die Marktwirtschaft notwendigerweise dezentral gesteuert wird. Im Sozialismus hat die Staatsherrschaft das Wort. Das System wird von oben herab zentral gesteuert. Im Sozialismus ist der Endverbraucher das letzte Glied der Befehlskette. Im Unterschied zum Kapitalismus, bleiben in einer sozialistischen Wirtschaft die Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen notwendigerweise auf der Strecke. Wer Sozialismus wählt, entscheidet sich damit für Armut und Unfreiheit.
Markt und Staat
In einer Marktwirtschaft sind die tatsächlichen Besitzer eines Wirtschaftsunternehmens nicht die juristischen Eigentümer im formalen Sinn. Den Wert des Eigentums bestimmen die Kunden, je nachdem, ob sie Produkte dieses Unternehmens kaufen oder nicht. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem ist alles Wirtschaften auf den Konsumenten hin ausgerichtet. Diejenigen Firmen, die sich den Wünschen des Konsumenten widersetzen und an ihm vorbeiproduzieren, überleben nicht und werden durch andere Firmen ersetzt, welche die Kundenwünsche schneller, genauer und billiger erfassen als die Konkurrenz.
Friedrich A. von Hayek (1899-1992) hat das Wesen der Marktwirtschaft dadurch gekennzeichnet, dass in diese Ordnung „viel mehr Wissen von Tatsachen eingeht, als irgendein einzelner Mensch oder selbst irgendeine Organisation wissen kann“. Darin sieht Hayek den Grund, „weshalb die Marktwirtschaft mehr leistet als irgendeine andere Wirtschaftsform.” (Friedrich Hayek: Antrittsvorlesung am 18. Juni 1962 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg „Wirtschaft, Wissenschaft und Politik.“ Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 11)
Allerdings gibt es den Kapitalismus nicht in Reinform. Wir leben in Staatswesen und der staatliche Einfluss auf die Wirtschaft ist allenthalben sichtbar. Viele Probleme werden „dem Kapitalismus“ in die Schuhe geschoben, obwohl eben nicht der freie Kapitalismus die Ursache ist, sondern der Staatseingriff.
Dies wird heutzutage besonders deutlich, wenn man die Geldpolitik betrachtet. Unsere Geldordnung ist per Gesetz dem Staat in die Hand gegeben. Im Gegensatz zu den dezentral operierenden Märkten, wird das Geld zentral von der Notenbank reguliert, die zurecht auch „Zentralbank“ genannt wird.
Viele geben so völlig zu Unrecht dem „Kapitalismus“ die Schuld an der wachsenden Vermögenungleichheit; sie verkennen, dass die wahre Ursache in der Geldordnung liegt. Der Zins dient als Herrschaftsinstrument und wenn die Zentralbanken, so wie seit einiger Zeit, den Zinssatz auf Null und sogar darunter ansetzen, steigen die Preise der Sachwerte, vor allem bei Immobilien und Aktien. Wer hat, dem wird gegeben. Der Kleinsparer bekommt immer weniger oder fast gar nichts für sein Sparkonto, während gleichzeitig zum Beispiel die Immobilie, die er erwerben will, immer teurer wird.
Dies ist kein wahrer Kapitalismus, wenn der Staat die Geldordnung bestimmt, den Leitzins festsetzt und darüber hinaus sich über Steuern und Abgaben über die Hälfte des Sozialprodukts direkt aneignet. Die heute praktizierte Geld- und Steuerpolitik dient nicht dem Volkswohlstand, sondern sind Instrumente, um einen globalen Zentralstaat zu errichten. Der so genannte „Klimanotstand“ ist dafür das passende Alibi.
Echter Kapitalismus wäre herrschaftsfreier Kapitalismus. Dieser Kapitalismus ist ein Projekt der Zukunft. Gegenwärtig ist es noch so, dass einige Länder dem kapitalistischen Ideal näherkommen und andere weniger. Kein Land kann aber das Ideal erfüllen.
Je intensiver der Wettbewerb auf preisgesteuerten Märkten, je mehr unternehmerische Freiheit und je mehr die Rechtsansprüche auf Privateigentum an Produktionsmitteln geachtet werden, desto begüterter sind die Menschen in solch einem Land. Das zeigt die geschichtliche Erfahrung. Was bis jetzt galt, wird in Zukunft noch mehr gelten: je mehr ein Land sich dem reinen Kapitalismus annähert, desto wohlhabender wird es. Umgekehrt gilt, dass die Gesellschaften, die den sozialistischen Weg gehen, nicht nur verarmen, sondern auch die Freiheit verlieren werden.
Fazit
Die Forderung nach einem globalen Klimaschutz dient dazu, die freie Konsumentenwahl einzuschränken und die Märkte zu regulieren. Der Zentralismus nimmt damit zwangsläufig zu. Nicht nur die individuelle Freiheit geht verloren, auch der allgemeine Wohlstand sinkt.
Die Mehrheitsmeinung irrt, wenn sie glaubt, mehr Sozialismus würde mit den Herausforderungen unserer Zeit besser zurechtkommen als der Kapitalismus. Man erkennt zwar richtigerweise, dass das gegenwärtige System defizitär ist, aber das Problem mit unserem Wirtschaftssystem ist nicht, dass es zu kapitalistisch ist, sondern dass es zu wenig kapitalistisch ist.
Mehr Sozialismus hieße mehr Staat, und damit würden die schon vorhandenen Probleme noch weiter zunehmen. Die Lösung der Probleme verlangt nicht mehr Staat, sondern weniger Staat und damit mehr Kapitalismus.
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Antony P. Mueller hat jüngst bei Amazon die Taschenbücher „Kapitalismus ohne Wenn und Aber“ und „Feinde des Wohlstands“ veröffentlicht. Im Juli dieses Jahres ist eine erweiterte Ausgabe seines Traktats „Principles of Anarcho-Capitalism and Demarchy“ erschienen.
Hier können Sie den Vortrag „Revolution auf Samtpfoten: Wie der Marxismus seinen Herrschaftsanspruch durchsetzt“ von Antony P. Mueller sehen, gehalten auf der 7. Jahreskonferenz des Ludwig von Mises Institut Deutschland am 19. Oktober 2019. Das Thema der Konferenz lautete: „Logik versus Emotion. Warum die Welt so ist, wie sie ist“.
Dr. Antony P. Mueller (antonymueller@gmail.com) ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br), wo er am Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung und an deren Konjunkturbericht mitarbeitet und im Doktoratsprogramm für Wirtschaftssoziologie mitwirkt. Er ist Mitglied des Ludwig von Mises Institut USA, des Mises Institut Brasilien und Senior Fellow des American Institute of Economic Research (AIER). Außerdem leitet er das Webportal Continental Economics (www.continentaleconomics.com).
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