Der „neue“ Elysee-Vertrag hebelt regionales und nationales Recht aus

24.1.2018 – Interview mit dem Historiker und Journalisten Marco Gallina.

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Marco Gallina

Herr Gallina, viele Libertäre freuen sich darüber, dass wir „gegenwärtig keine Regierung haben“. Mit Blick auf die Situation in der EU … gibt es wirklich Grund zur Freude?

Auf den ersten Blick scheint die Situation verführerisch. Spanien und Belgien haben ähnliche Konstellationen erlebt. Deutschland befindet sich jedoch in einer gefährlichen Situation. Durch den „Brexit“ der Briten geht den Deutschen ein wichtiger Partner in fiskalischen Fragen verloren, während Frankreich ein europäisches Finanz- und Wirtschaftsministerium plant. Das größte Land des Kontinents ist gelähmt und gibt seine Führungsrolle an das Heimatland von Zentralismus und Etatismus ab. Eigentlich müssten bei den Libertären die Alarmglocken schellen.

Welche Rolle spielt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron dabei?

Macron ist der gefährlichste Mann Europas. Gefährlich deswegen, weil er einen Plan hat – ganz anders als Angela Merkel, die nur auf Sicht fährt. Seine Wahl wurde maßgeblich aus Brüssel unterstützt. Im letzten Jahrzehnt äußerten Experten die Vermutung, Deutschland könne in der Eurokrise Europa einen, wie Preußen vorher Deutschland geeint hatte – über finanzpolitische Mittel. Derzeit sieht aber alles danach aus, dass Macron vor hat, die EU unter französischer Führung zu „vollenden“. Macron wurde anfangs in den Auslandsmedien – besonders in Deutschland – belächelt, man denke an das Foto bei der Kanzlerin. Dabei hat Macron sein Studium mit einer Magisterarbeit über Machiavelli beendet und war mit Mitte 30 bereits Multimillionär. Aber Deutschland ist ja mittlerweile berüchtigt dafür, weltpolitische Ereignisse völlig falsch zu interpretieren.

Wenn Macron ein Macchiavellist ist, was bedeutet das? Für Deutschland, für Europa…

Merkel wird von Unwissenden oft als Machiavellistin bezeichnet; das ist aber im Grunde Unfug. Merkel häuft Macht der Macht wegen an, um ihre eigene Position zu halten. Nach Machiavelli ist Machterwerbung und Machterhalt aber nur Mittel zum Zweck. Das höhere Ziel ist der Staat beziehungsweise der Staatserhalt. Das Primat lässt sich bereits jetzt an einer Doppelstrategie bei Macron erkennen: einerseits spielt er den großen Europäer, andererseits fährt Frankreich unter ihm eine sehr protektionistische, pro-französische Politik. Macron ist vielleicht kein Verteidiger der Franzosen – seine Ausführungen zur französischen Kultur sind bekannt – aber er ist ein Verteidiger des französischen Staates. Ketzerisch gesprochen: Macron ist ein linksliberaler Trump, seine Devise lautet unverhohlen „France first“.

Die Verabschiedung der Resolution zur Erneuerung des Elysee-Vertrages gestern im Deutschen Bundestages ging letztlich auch auf eine Initiative Macrons zurück …

Und man kam Macron in vielen seiner Forderungen entgegen. Ähnlich wie beim Sondierungspapier von Union und SPD zum „Aufbruch“ für Europa. Wirtschaftliche und finanzielle Verflechtungen werden im Elysee-Vertrag von 1963 überhaupt nicht erwähnt. Es ging damals um Sicherheits- und Kulturpolitik, um ein europäisches Bewusstsein statt europäischem Zwang. Dass Charles de Gaulle gegen jede supranationale Organisation war, ist kein Geheimnis. Unabhängigkeit nach außen, nicht Gleichmacherei nach innen war die Devise. Der „neue“ Elysee-Vertrag soll dagegen Kompetenzen von Kommunen und Ländern auf Eurodistrikte übertragen, hebelt also regionales und nationales Recht aus; dazu ist von einem deutsch-französischen Wirtschaftsraum die Rede. Der „alte“ Vertrag umfasst gerade einmal drei übersichtlich zusammengefasste Punkte, der „neue“ Vertrag hat jetzt schon 21 Erwägungen, 26 Forderungen und 12 Resolutionsvorschläge. Mit diesem Monstrum hat der damalige deutsch-französische Freundschaftsvertrag nichts mehr gemein.

Sehen die deutschen Medien diese Entwicklung nicht oder wollen sie das nicht sehen?

Die deutschen Medien tragen ihre Weltoffenheit und ihr Weltbürgertum wie eine Monstranz vor sich her, sind aber im Grunde sehr provinziell. Nachrichten aus dem Ausland werden immer unter dem Gesichtspunkt der eigenen Ideologie beurteilt – das sehen Sie zum Beispiel besonders dann, wenn es um die Visegradstaaten geht. Im Frühling standen Macron und Le Pen im Mittelpunkt der Berichterstattung, aber kaum jemand erklärt die Hintergründe. Trotz wuchtigen Gebührenapparats haben die regelmäßigen Zuschauer von ARD und ZDF keinerlei Ahnung, wie etwa ein Land wie Italien funktioniert – stattdessen werden Diskussionen um Dieselverbote, Glyphosat und minimale Änderungen bei Sozialversicherungen als Hauptthemen breitgetreten. Schon Peter Scholl-Latour lästerte, dass er beim „Heimatbesuch“ lieber CNN und BBC schaue, ansonsten bliebe man über Entwicklungen im Ausland uninformiert.

Ja, lassen Sie uns über Italien sprechen, über das Land, wo die Zitronen blühen. Was gibt es von dort zu berichten im Hinblick auf die EU?

Als am 24. September um 18 Uhr die Hochrechnungen der Bundestagswahl im italienischen Radio verkündet wurden, war der erste Kommentar: Katastrophe für Merkel und Ende ihrer Führungsmacht in Europa. Politisch gesehen orientiert sich Italien bereits seit einigen Jahren an Frankreich, weil man bei der Finanzpolitik ähnliche Ziele verfolgt. Auch die Migrationskrise hat dazu geführt, dass Italien sich von Deutschland abwendet. Vereinfacht ausgedrückt: Südlich der Alpen ist man der Meinung, dass Frau Merkel die Armen dieser Welt einlädt, aber die Italiener die Suppe auslöffeln dürfen. Stichwort Mittelmeer. Das pro-europäische Italien hat sich seitdem zu einem Land gewandelt, in dem eurokritische und EU-kritische Parteien verstärkt Zulauf erhalten. Bereits 2013 hat Beppe Grillos 5-Sterne-Bewegung fast zwanzig Prozent bei den Parlamentswahlen geschafft – aus dem Stand! Die Nationalwahlen im Frühjahr könnte die EU vor eine bis dahin unbekannte Herausforderung stellen.

Das lässt Martin Schulz‘ Forderung der Vereinigten Staaten von Europa in einem noch surrealeren Licht erscheinen…

Die Frage bleibt: Wer will diese Vereinigten Staaten von Europa? Luxemburg, vielleicht Belgien, womöglich die derzeitigen Regierungen in Paris und Brüssel. Aber ist Osteuropa bereit, seine historisch erst vor kurzem zurückeroberte Unabhängigkeit gleich wieder an die nächste Zentralregierung abzugeben? Den Polen werden in mittelalterlicher Manier die Folterwerkzeuge gezeigt, mit denen man das Land auf Linie bringen will, Ungarn ist als Quasi-Diktatur in den Medien verschrien, in Tschechien kommt ein Trump-Bewunderer an die Macht. Selbst das verschlafene Dänemark dürfte revoltieren, wenn man den Dänen den Euro aufoktroyieren will.

Der Zusammenhalt in der EU bröckelt jedenfalls. Fällt die Entscheidung über die Zukunft der EU bei den Parlamentswahlen in Italien in wenigen Wochen?

Auf den ersten Blick könnte der Sieg euroskeptischer Parteien ein Signal sein, dass sich nun etwas im europäischen Haus ändert. Die Lega Nord von Matteo Salvini, die Nationalisten unter Giorgia Meloni und die Fünf-Sterne-Bewegung um Beppe Grillo gehen allesamt auf Konfrontationskurs gegen die europäische Integration – so verschieden auch ihre Programme sind. Zusammen erreichen diese von den Medien gescholtenen „Populisten“ in den Umfragen 45 %. Nach der Wahl könnte jedoch eine Hängepartie drohen und selbst diese Parteien wissen, dass die italienische Finanzpolitik ohne Schützenhilfe aus der EU kaum tragfähig ist. Brüssel wird Rom – wer auch immer dann in der Regierung sitzt – mit Weichgeld becircen. Konditionen zu den Bedingungen der Schuldenmacher, um den Frieden in Europa zu wahren. Die Sondierungsgespräche in Berlin lassen ebenfalls aufhorchen: man will mehr Geld für den EU-Haushalt vorstrecken, ohne genau zu sagen, wofür diese Ausgaben gemacht werden sollen.

Neben den Bemühungen in Paris und Brüssel, die EU zu festigen, sind auch Tendenzen hin zu mehr Regionalisierung unübersehbar, Katalonien, Lombardei, Venetien. Auch wenn sich die beiden Letzteren nicht abspalten wollen, welche Chancen räumen Sie Sezessionsbestrebungen generell ein in Europa?

Obwohl solche Bewegungen immer stärker werden, und ihre Unterdrückung diese nur noch mehr radikalisieren – Stichwort: Wahl in Katalonien –, klammern sich die Eliten am Status quo. Wir hören jetzt vermehrt von einer „Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen“, ursprünglich eine Wendung aus dem Kalten Krieg, um die Interessensphären der USA und der Sowjetunion zu zementieren. Unausgesprochen war damit natürlich der Verzicht auf kriegerische Mittel gemeint; mittlerweile werden solche Ordnungen wie die KSZE-Akte von 1973 auf jedwede Grenzänderung in Europa angewendet – und das, obwohl die (west)europäischen Staaten nicht ganz unschuldig an der Aufspaltung Jugoslawiens waren. Von der (friedlichen) Einigung zweier deutscher Staaten und der Auflösung der Tschechoslowakei ganz zu schweigen. Kurz: selbst eine friedliche Option soll es nach Ansicht vieler Politiker und Experten nicht mehr geben. Neben dieser polittheoretischen Perspektive gibt es die realpolitische: Spanien hat der ganzen Welt gezeigt, dass auch ein moderner, demokratischer Rechtsstaat sein Gewaltmonopol schützt. Selbst bei einer schottischen Unabhängigkeit nach dem Referendum von 2014 hätten einige Organisationen wirtschaftliche Sanktionen verhängt; die Möglichkeiten des IWF, der EZB, der EU und anderer sind enorm, um „neue Staaten“ in die Knie zu zwingen und wieder zur Raison zu bringen. Diese Folterinstrumente dürften den Rebellen bereits vor der Unabhängigkeit gezeigt werden. Das einzige Land, wo eine Sezession glimpflich ablaufen könnte, wäre vermutlich Belgien.

Sie sind Historiker. Was entgegnen Sie dem Standardargument von EU-Politikern, ein kleines Land könne in der heutigen Welt nicht mehr bestehen?

Die Schweiz ist ein kleines Land, Island ist ein kleines Land, Norwegen ist ein kleines Land – aber diesen Ländern geht es weder wirtschaftlich noch politisch schlecht. Ganz Island hat mit seiner Bevölkerung von gerade einmal 340.000 Isländern nur ein paar Einwohner mehr als mein Wohnsitz Bonn. Natürlich haben diese Länder Verträge mit größeren Mächten und Organisationen geschlossen, aber Existenz und Überleben hängt oftmals an der konkreten Politik eines Staates, nicht immer an seinen Voraussetzungen. Denn: Geschichte ist ein Wechselspiel, keine gerade Linie. Der klassischen griechischen Antike der Stadtstaaten folgte das Imperium Romanum, im Frühmittelalter beherrschten die Franken mit Karl dem Großen Westeuropa, im Spätmittelalter sehen wir einen Flickenteppich aus freien Städten und Handelsrepubliken in Deutschland und Italien. Wenn Sie sich die Welt im Kalten Krieg ansehen, tut sich da nicht sehr viel. Heutige Politiker sind in dieser Welt der stabilen Blöcke aufgewachsen und beurteilen aus dieser Erfahrung heraus. Die Fakten sprechen jedoch dagegen: 1990 gab es 34 Staaten in Europa, heute sind es 50; im gleichen Zeitraum stieg die Zahl weltweiter Staaten von 168 auf ca. 200 Staaten. Alle sprechen von Globalisierung und Zusammenwachsen der Welt, tatsächlich geht dieser Prozess aber mit einer Partikularisierung einher.

Vielen Dank, Herr Gallina.

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Das Interview wurde per Email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

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Marco Gallina studierte Geschichte und Politikwissenschaften, Schwerpunkt europäische Diplomatiegeschichte, und schloss mit einer Arbeit über Machiavelli das Masterstudium ab.

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