Die Theorie brachliegender Produktivkräfte

9.4.2014 – von Eduard Braun.

1. Expansive Geldpolitik unter der Bedingung der Arbeitslosigkeit

Eduard Braun

Die Österreichische Konjunkturtheorie sieht die Ursache für Wirtschaftskrisen in dem jeweils vorangehenden, künstlich erzeugten Aufschwung. Künstlich ist ein Aufschwung nach dieser Theorie dann, wenn das Bankensystem expansive Geldpolitik betreibt, die Zinsen senkt und damit die Kreditmenge über das Niveau anhebt, das mit den gesellschaftlichen Ersparnissen vereinbar wäre. Bei durch Kreditexpansion gesenkten Zinsen werden Unternehmer dazu angeregt, langfristige Investitionsprojekte zu beginnen, deren Finanzierung nicht gesichert ist. Der Mangel an Ersparnissen muß sich nämlich früher oder später in einem steigenden Zinssatz bemerkbar machen, der die Unternehmer dazu zwingt, einige ihrer Projekte als Fehlinvestitionen wieder aufzugeben. Da dies nie reibungslos gelingen kann, kommt es zu Arbeitslosigkeit und vorübergehendem wirtschaftlichen Niedergang. Auf Grundlage dieser Theorie kritisieren Anhänger der Österreichischen Schule regelmäßig die keynesianisch orientierte moderne Wirtschaftspolitik, die, um die Wirtschaft anzukurbeln, fast immer auch expansive Geldpolitik vorsieht. Gerade diese Ankurbelung, so die Kritik, sei aber die Ursache für spätere Wirtschaftskrisen und somit eine völlig ungeeignete Maßnahme.

Nun blieb dieser Angriff der Österreicher auf die moderne Geldpolitik natürlich nicht unbeantwortet. Ein zentrales, letztlich bereits auf John Maynard Keynes zurückgehendes Argument besteht darin, die Konjunkturtheorie der Österreicher nur für einen mehr oder weniger selten vorkommenden Sonderfall als zutreffend zu betrachten, nämlich für die Situation der Vollbeschäftigung. Wenn alle Produktionsfaktoren beschäftigt sind, sei es tatsächlich kontraproduktiv, die Unternehmertätigkeit durch Zinssenkungen weiter anregen zu wollen. Die Folge davon wäre Inflation, auf die früher oder später eine Reaktion des Bankensystems in Form von Zinserhöhungen erfolgen müsse, was dann höchstwahrscheinlich einen Einbruch der Konjunktur bedeuten würde. Insoweit hätten die Österreicher also recht, wenn sie vor expansiver Geldpolitik warnen. Völlig anders sieht es laut den Keynesianern jedoch in einer Situation aus, in der keine Vollbeschäftigung herrscht und in der Produktionsfaktoren ungenutzt brachliegen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei natürlich die Arbeitslosigkeit, weswegen sich die folgende Diskussion auf den Fall unbeschäftigter Arbeitnehmer konzentriert. In einer von Arbeitslosigkeit geplagten Volkswirtschaft, so das Argument, wird die Kritik der Österreicher an der wirtschaftsankurbelnden Maßnahme der Zinssenkung hinfällig. Künstlich gesenkte Zinsen würden unter dieser Voraussetzung nicht zu Fehlinvestitionen führen.

Der Grund hierfür soll darin bestehen, daß die niedrigen Zinsen die Unternehmer dazu veranlassen, zusätzliche Arbeiter einzustellen, da sich ihre Gewinnaussichten verbessern – mit den Zinsen sinken schließlich auch die Kosten. Man müsse sich daher nicht darum sorgen, wie es etwa die Österreichische Konjunkturtheorie tut, daß die gesellschaftlichen Ersparnisse nicht ausreichen, um die neuen Investitionen der Unternehmer zu finanzieren. Die ehemaligen Arbeitslosen würden nämlich einen Teil ihrer neu generierten Einkommen sparen, wodurch der Aufschwung sich die nötigen Ersparnisse selber verschaffe. Wenn man darauf achte, die künstliche Ankurbelung zurückzuschrauben, sobald man sich der Vollbeschäftigung nähert, sei demnach also kein Wirtschaftseinbruch als Reaktion zu erwarten. Die Schwierigkeit bestehe nur darin, den richtigen Zeitpunkt hierfür nicht zu verpassen, was allerdings ein praktisches, kein theoretisches Problem sei.

2. Die expansive Geldpolitik in der keynesianischen Theorie

Es ist nicht ganz leicht, dieses Argument zu widerlegen. Tatsächlich ist die Voraussetzung brachliegender Produktivkräfte (idle resources) eine grundlegende Annahme keynesianischer Theorie. Nur für diesen Fall sieht sie nämlich ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen, wie z.B. eine Zinssenkung, vor. Es muß hier auch erwähnt werden, daß selbst konservative Ökonomen wie Wilhelm Röpke dieses Argument akzeptieren. An sich sind sie zwar gegen expansive Geldpolitik, aber in Zeiten der Depression und der Arbeitslosigkeit halten sie es durchaus für sinnvoll, derartige kurzfristig ausgerichtete Maßnahmen zu ergreifen.

William H. Hutt (1899-1988) war wohl derjenige Ökonom, der sich am intensivsten mit dem Argument der brachliegenden Produktivkräfte auseinandergesetzt hat. In mehreren, teils sehr umfangreichen Büchern versuchte er, das keynesianische System auseinanderzunehmen, wobei die Annahme der ungenutzten Ressourcen eine entscheidende Rolle spielte.[1] Seiner Meinung nach versuchte Keynes, das Problem der Arbeitslosigkeit auf eine Weise zu bekämpfen, die es ihm erlaubte, die eigentliche Ursache nicht ansprechen zu müssen. Diese bestünde nämlich, so Hutt, in der einfachen Tatsache, daß die Löhne zu hoch seien und sich dadurch kein Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt ergeben könne.

Um Hutts Argument in eigenen Worten darzustellen: Es handelt es sich bei Unterbeschäftigung nicht um ein konjunkturtheoretisches Problem. Die Ursache für Arbeitslosigkeit liegt nicht in zu niedriger Nachfrage durch die Konsumenten oder durch die Unternehmer. Vielmehr liegt ein einfaches preistheoretisches Problem vor. Aus unterschiedlichen Gründen – sei es die Politik der Gewerkschaften, sei es ein gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohn – liegt der Lohn über dem markträumenden Niveau. Zu den herrschenden Löhnen ist es für die Unternehmen nicht rentabel, die unbeschäftigten Arbeiter einzustellen. Keynes will es nun aber vermeiden, dieses Problem direkt anzugehen und eine Lohnsenkung zu fordern. Stattdessen fordert er expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen, d.h. insbesondere Erhöhungen der Ausgaben durch Private und den Staat. Die mit einer Zinssenkung verbundene Kreditexpansion ist unter eben diesem Aspekt zu betrachten. Sie soll insbesondere die Ausgaben der Unternehmer ankurbeln. Diese Ausgabenerhöhungen haben letztlich nur den Zweck, genau den Effekt zu erzielen, den Keynes nicht offen ansprechen will, nämlich die Löhne zu senken. Eine Erhöhung der Ausgaben wird die Preise ansteigen lassen, und bei zunächst gleichbleibenden Löhnen bedeutet das nichts anderes, als daß die Kaufkraft der Löhne gesenkt wird. Keynes möchte die Reallöhne also nicht direkt über das Senken der Nominallöhne reduzieren, sondern nur durch das Hintertürchen, indem er eine Preissteigerung fordert.

Für diese Interpretation durch Hutt spricht einiges. Keynes weist bisweilen selber darauf hin, daß es seiner Meinung nach politisch einfach unmöglich wäre, eine Lohnsenkung durchzusetzen. Er sieht die „Stabilität und den Frieden der Gesellschaft“ in Gefahr für den Fall, daß die Löhne systematisch gesenkt werden sollten. Für England während der Großen Depression gibt er freimütig zu, daß es „einfach unmöglich ist, viele Löhne stark zu senken, geschweige denn um dasselbe Maß schrumpfen zu lassen wie die Großhandelspreise.“[2]

3. Arbeitslosigkeit in der Österreichische Konjunkturtheorie

Wenn es sich bei expansiver Geldpolitik nun tatsächlich nur um den Versuch handelt, eine Unstimmigkeit der relativen Preise (= zu hohe Löhne) über den Umweg eines allgemeinen Preisanstiegs zu beheben, läßt sich das keynesianische Argument gegen die Österreichische Konjunkturtheorie leicht entkräften. Expansive Geldpolitik führt selbst dann zu Fehlinvestitionen und einer anschließenden Wirtschaftskrise, wenn zuvor Arbeitslosigkeit herrscht. Dies liegt daran, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit über Geldpolitik nur kurzfristiger Natur ist. Sie mag in der Lage sein, Reallöhne für eine kurze Zeitspanne zu senken. Die Ursache für die relativ zu hohen Löhne beseitigt sie allerdings nicht. Auf Dauer werden die Gewerkschaften oder die Politik nachziehen und entsprechende Lohnanpassungen oder eine Anhebung der Mindestlöhne an das neue Preisniveau durchsetzen. Wenn die hier wirksamen Mechanismen nicht aufgehoben werden, werden die Reallöhne bald wieder auf dem alten Niveau und die Arbeitslosigkeit ähnlich hoch sein wie zuvor. Das bedeutet nun aber, daß sich der von den Keynesianern behauptete ersparnisbildende Effekt der zusätzlich eingestellten Arbeiter nicht dauerhaft einstellt. Es handelt sich bei der kurzfristig erreichten Mehrbeschäftigung und den dabei fließenden zusätzlichen Einkommen nur um einen Sturm im Wasserglas, und dementsprechend sind auch die dabei entstehenden Ersparnisse nicht dauerhaft. Die im künstlichen Aufschwung vorgenommenen Projekte sind also auch im Falle brachliegender Produktivkräfte vorzugsweise Fehlinvestitionen. Sie beruhen auf unzureichender Finanzierung und werden früher oder später eine Wirtschaftskrise verursachen, so wie es die Österreichische Konjunkturtheorie postuliert.

Es soll hier noch darauf verwiesen werden, daß Keynes an anderer Stelle auch einen Versuch unternommen hat, sich gegen das Argument zu immunisieren, es handelte sich bei Arbeitslosigkeit einfach um ein Problem zu hoher Löhne. In diesem Falle würde die von ihm unerwünschte Lösung des Problems durch eine Lohnsenkung ja auf der Hand liegen. Daher entwickelte er in seiner Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes zusätzlich zu dem praktischen Einwand, daß Lohnsenkungen nicht durchsetzbar seien, noch ein theoretisches Argument. Er behauptet dort nämlich, daß eine Senkung der Reallöhne über eine Senkung der Nominallöhne gar nicht möglich sei.  Wenn die Arbeiter ein geringeres Nominaleinkommen erhalten, so Keynes, werden sie weniger für Konsum ausgeben. Dies wird eine Preissenkung hervorrufen, weswegen sich im Verhältnis zwischen Löhnen und Preisen nichts ändern wird. Im Wortlaut:

Wenn sich Nominallöhne ändern, hätte man doch von der klassischen Schule das Argument erwartet, daß sich die Preise fast im selben Verhältnis ändern würden, wodurch die Reallöhne und die Arbeitslosigkeit praktisch auf demselben Niveau verharren.[3]

Keynes behauptet also, daß die „klassische“ Lösung – eine Senkung der Nominallöhne – scheitern werde, weswegen sein Vorschlag der expansiven Wirtschaftspolitik die einzige Lösung für das Problem der Arbeitslosigkeit sei.

Auch dieses Argument hält keiner eingehenden Analyse stand. Keynes nimmt ohne weiteres an, daß eine Lohnsenkung die Nachfrage verringert. Der Betrag, um den die Einkommen der Arbeiter sinken, verschwindet bei ihm einfach im Nichts. Er kommt nicht auf den Gedanken, daß die Kaufkraft, den die bisher schon angestellten Arbeiter verlieren, nun jemand anderem zur Verfügung stehen muß. Dies könnten die Arbeiter sein, die nun zusätzlich eingestellt werden, oder die Unternehmer selber. Die Nachfrage reduziert sich nicht automatisch, wie Keynes annimmt, sondern verlagert sich nur auf diejenigen Produkte, welche die neuen Besitzer der Kaufkraft bevorzugen. Laut Hutt

sehen die Keynesianer nicht, daß Preissenkungen jeglicher Art einfach gleichbedeutend sind mit der Schaffung von zusätzlicher Nachfrage für Güter auf anderen Märkten, weil Kaufkraft für andere Zwecke freigesetzt wird.[4]

Auch das zweite Argument für eine expansive Wirtschaftspolitik im Falle brachliegender Produktivkräfte zieht nicht. Weder ist es möglich, mit derartigen Maßnahmen die Reallöhne dauerhaft zu senken, noch ist es nötig, die Nominallöhne aufrecht zu erhalten, um keine Kaufkraft verschwinden zu lassen. Die Kritik, wonach die Österreichische Konjunkturtheorie unter der Bedingung brachliegender Produktivkräfte nicht zutreffe, erweist sich damit als unbegründet.

[1] Vgl. insbesondere William H. Hutt: The Theory of Idle Resources, 2. Aufl., Indianapolis: Liberty Press 1977 und The Keynesian Episode. A Reassessment, Indianapolis: Liberty Press 1979.

[2] John Maynard Keynes: An Economic Analysis of Unemployment, in: Collected Writings of John Maynard Keynes Band XIII, London: Macmillan 1973, S. 343-367, beide Zitate auf S. 360.

[3] John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest, and Money, London et al.: Macmillan 1936,  S. 12.

[4] William H. Hutt: The Keynesian Episode. A Reassessment, Indianapolis: Liberty Press 1979, S. 153.

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Dr. Eduard Braun hat im Jahr 2011 bei Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann an der Universität Angers (Frankreich) promoviert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Dr. Mathias Erlei, Abteilung für Volkswirtschaftslehre, an der Universität Clausthal-Zellerfeld, (http://www.wiwi.tu-clausthal.de/index.php?id=430).

Demnächst erscheint von ihm das Buch „Finance Behind the Veil of Money“. Hier ist es bereits als Ebook erhältlich.

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