Zeitpräferenz

4.3.2013 – Zeitpräferenz bedeutet, vereinfachend gesprochen, dass das gegenwärtig verfügbare Gut höher wertgeschätzt wird als das Gut, das erst künftig verfügbar ist. Ludwig von Mises (1881 – 1973) hat die Zeitpräferenz als eine nicht wegzudenkende Kategorie des menschlichen Handelns erkannt. Es gelang ihm, den (Ur-)Zins, wie er sich auf dem Markt durch Angebot von und Nachfragen nach Ersparnissen bildet, allein durch die gesellschaftliche Zeitpräferenz theoretisch zu erklären. – Die Zeitpräferenz spielt eine zentrale Rolle für materiellen und kulturellen Fortschritt der Gesellschaften, eine Erkenntnis, die Hans-Hermann Hoppe in „On Time Preference, Government, and the Process of Decivilization“ (2006) eingehend herausgearbeitet und diskutiert hat. Nachstehend drucken wir einen Auszug aus Hoppes Aufsatz, in dem die Zeitpräferenz erklärt wird (und der gewissermaßen die Grundlage legt, um nachfolgend die schädlichen Wirkungen des Staates für die produktive und friedvolle Kooperation in der Gesellschaft zu verstehen).

Thorsten Polleit

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Hans-Hermann Hoppe

Indem er handelt, zielt ein Handelnder immer darauf ab, einen weniger zufriedenstellenden Zustand durch einen zufriedenstellenderen zu ersetzen. Er zeigt dadurch eine Präferenz für mehr statt weniger Güter. Darüber hinaus zieht er immer auch in Betracht, sowohl wann in der Zukunft er seine Ziele erreicht haben wird, d. h. die zur Erreichung der Ziele notwendige Zeit, als auch die Haltbarkeit eines Gutes. Damit zeigt er außerdem eine universelle Präferenz für frühere statt spätere und für mehr statt weniger haltbare Güter. Dies letztere ist das Phänomen der Zeitpräferenz.[1]

Jeder Handelnde benötigt eine gewisse Zeit, um sein Ziel zu erreichen, und da der Mensch immer etwas kon­sumieren muss und während seines Lebens nie gänzlich aufhören kann zu konsumieren, ist Zeit immer knapp. Daher werden, ceteris paribus, gegenwärtige oder früher erreichte Güter höher bewertet und müssen unweigerlich höher bewertet werden als zukünftige oder später erreichte. Wenn der Mensch nicht durch Zeitpräferenz eingegrenzt wäre und einzig der Begrenzung unterläge, mehr gegenüber weniger zu präferieren, dann würde er immer solche Produktionsprozesse auswählen, welche die größte Ausbringungs- pro Einbringungsmenge erzielten, unabhängig davon, wieviel Zeit benötigt wird, bevor diese Methoden Früchte tragen. Er würde immer sparen und niemals konsumieren. Zum Beispiel hätte Crusoe, statt zunächst ein Fischernetz zu basteln, damit begonnen, einen Fischdampfer zu konstruieren – da dies die (angenommenermaßen) ökonomisch effizienteste Methode ist, Fische zu fangen. Dass niemand, inklusive Crusoe, auf diese Weise handeln kann, macht klar, dass der Mensch nicht anders kann, als »Zeitabschnitte derselben Länge unterschiedlich zu bewerten, je nach­dem ob sie näher oder weiter vom Zeitpunkt der Ent­scheidung des Handelnden entfernt sind.« »Die Menge an Ersparnis und Investition wird durch Zeitpräferenz begrenzt.«[2]

Durch Zeitpräferenz begrenzt, wird der Mensch ein gegenwärtiges Gut nur dann gegen ein zukünftiges tau­schen, wenn er annimmt, dadurch seine Menge an zukünf­tigen Gütern zu vergrößern. Die Zeitpräferenzrate, welche von Person zu Person unterschiedlich ist (und sein kann) und sich von einem Zeitpunkt zum nächsten verändern kann, welche aber für jedermann nie anders als positiv sein kann, bestimmt gleichzeitig sowohl die Höhe der Prämie, die gegenwärtige Güter über zukünftige verlangen, als auch die Menge an Ersparnissen und Investitionen. Der Marktzinssatz ist die aggregierte Summe aller individuellen Zeitpräferenzraten. Er reflektiert die gesellschaftliche Zeit­präferenzrate und gleicht die gesellschaftlichen Ersparnisse (d. h. das Angebot gegenwärtiger Güter für den Austausch mit zukünftigen Gütern) und gesellschaftlichen Investi­tionen (d. h. die Nachfrage nach gegenwärtigen Gütern, welche für fähig erachtet werden, zukünftiges Einkommen zu erwirtschaften) aus.

Es kann kein Angebot verleihbaren Kapitals geben ohne vorherige Ersparnisse, d. h., ohne von einem mög­lichen Konsum gegenwärtiger Güter Abstand zu nehmen (ohne Überschuss gegenwärtiger Produktion über gegen­wärtigen Konsum). Und es würde keine Nachfrage nach verleihbarem Kapital geben, wenn niemand eine Gele­genheit erkennen würde, gegenwärtige Güter produktiv­ einzusetzen, d. h., sie so zu investieren, dass die zukünf­tige Ausbringungsmenge die gegenwärtige Einbrin­gungsmenge übersteigt. In der Tat, wenn alle gegen­wärtigen Güter konsumiert und keine in zeitaufwendigen Produktionsmethoden investiert würden, wäre der Zinssatz unendlich hoch, was überall jenseits des Gartens Eden darauf hinausliefe, eine rein animalische Existenz zu führen, d. h., sich im Leben mit primitiver Subsistenz durchzuschlagen, indem man der Realität mit nichts anderem als seinen bloßen Händen und dem Bedürfnis nach sofortiger Befriedigung entgegentritt.

Ein Angebot an und eine Nachfrage nach verleihbarem Kapital kann nur entstehen – und dies ist die Situation des Menschen -, wenn zunächst erkannt wird, dass indirekte (komplexere, länger andauernde) Produktions­prozesse eine größere oder bessere Ausbringungs- pro Einbringungsmenge hervorbringen als direkte oder kürzere.[3] Zweitens muss es möglich sein, durch Ersparnisse diejenige Menge gegenwärtiger (Konsum-)Güter zu akkumulieren, die gebraucht wird, um all jene Wünsche zu erfüllen, deren Befriedigung während der verlän­gerten Wartezeit als wichtiger betrachtet wird als jener Zuwachs an künftigem Wohlbefinden, welcher durch die Anwendung eines zeitkonsumierenderen Produktions­prozesses erwartet wird.

Solange diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird Kapitalbildung und -akkumulation einsetzen und sich fortsetzen. Boden und Arbeit (die originären Produk­tionsfaktoren), statt durch unmittelbar befriedigende Produktionsprozesse unterstützt und beschäftigt zu werden, werden durch einen Überschuss an Produktion über Konsum unterstützt und in der Produktion von Kapitalgütern eingesetzt. Kapitalgüter haben keinen Wert außer als Zwischenprodukt im Prozess der späteren Ausbringung finaler (Konsum-)Güter und insofern als die Produktion finaler Güter mit ihnen produktiver ist als ohne sie, oder, was auf dasselbe hinauskommt, insofern als derjenige, der Kapitalgüter besitzt und mit ihrer Hilfe produzieren kann, näher an der Erreichung seines Endziels ist als derjenige, der ohne sie auskommen muss. Der Wert-(Preis-)Überschuss eines Kapitalgutes über die Summe der Ausgaben für die zusammengehörigen, für dessen Produktion notwendigen originären Faktoren geht auf diesen Zeitunterschied und auf die universelle Tatsache der Zeitpräferenz zurück. Er ist der Preis für den Kauf von Zeit, den man zahlen muss, um näher an der Erreichung eines Endziels zu sein, statt ganz von vorne anfangen zu müssen. Aus demselben Grund muss der Wert des Endproduktes die Summe übersteigen, die für seine Produktionsfaktoren ausgegeben wurde (den Preis aller Kapitalgüter und aller komplementären Arbeitsleistungen).

Je niedriger die Zeitpräferenzrate, desto früher beginnt der Prozess der Kapitalbildung und desto schneller wird die Produktionsstruktur verlängert. Jede Erhöhung der Akkumulation von Kapitalgütern und der Verlängerung der Produktionsstruktur erhöht wiederum die Grenz­produktivität der Arbeit. Dies führt entweder zu höherer Beschäftigung oder höheren Löhnen, und in jedem Fall, selbst wenn das Arbeitskräfteangebot mit steigenden Lohnquoten fallen sollte, zu einer höheren Lohngesamt­summe. Ausgestattet mit einer größeren Menge an Kapi­talgütern wird eine besser bezahlte Bevölkerung von Lohnempfängern ein insgesamt höheres – zukünftiges – Sozialprodukt produzieren und auf diese Weise schließ­lich auch das reale Einkommen der Kapital- und Grund­besitzer erhöhen.

 

[1] Siehe zum folgenden insbesondere Ludwig von Mises, Human Action: A Treatise on Economics, Scholar’s Edition (Auburn, Ala.: Ludwig von Mises Institute, 1998), Kap. 18 und 19; auch William Stanley Jevons, Theory of Political Economy (New York: Augustus M. Kelley, 1965); Eugen von Böhm-Bawerk, Capital and Interest, 3 Bde. (South Holland, 111.: Libertarian Press, 1959); Richard von Strigl, Capital and Production (Auburn, Ala.: Ludwig von Mises Institute, 2001); Frank Fetter, Capital, Interest, and Rent (Kansas City: Sheed Andrews and McMeel, 1977); Murray Newton Rothbard, Man, Economy, and State, 2 Bde. (Los Angeles: Nash, 1970).

[2] Mises, Human Action, S. 483 und 491.

[3] Natürlich sind nicht alle längeren Produktionsprozesse produk­tiver als kürzere, jedoch unter der Annahme, dass der Mensch, begrenzt durch Zeitpräferenz, immer (und zu allen Zeiten) die kürzest denkbare Produktionsmethode einer gegebenen Ausbrin­gungsmenge auswählen wird, kann jede Vergrößerung der Aus­bringungsmenge – praxeologisch – nur erreicht werden, wenn bei gleichbleibender Technologie der Produktionsprozess in die Länge gezogen wird.

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Prof. Dr. Hans-Hermann Hoppe ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des “Ludwig von Mises Institut Deutschland”. Er ist Distinguished Fellow des Ludwig von Mises Institute in Auburn, Alabama sowie Gründer und Präsident der Property and Freedom Society. Er ist ein prominenter Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomie und libertärer Philosoph. Zu seinen Werken gehören: Demokratie. Der Gott, der keiner ist (Verlag Manuscriptum), Der Wettbewerb der Gauner: Über das Unwesen der Demokratie und den Ausweg in die Privatrechtsgesellschaft (Holzinger-Verlag). Zuletzt erschienen: The Great Fiction: Property, Economy, Society, and the Politics of Decline (Laissez Faire Books)

Weitere Informationen zu und von Prof. Dr. Hans-Hermann Hoppe auf “HansHoppe.com” und “The Property and Freedom Society“.

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