Die Anatomie des Staates – Teil II
4.1.2013 – Lesen Sie nachfolgend Teil II einer Zusammenfassung von Murray N. Rothbard’s Werk “Anatomy of the State”. Teil I der Zusammenfassung wurde am Freitag, 28. Dezember 2012, veröffentlicht.
Wie der Staat seine Grenzen überschreitet
Wie Bertrand de Jouvenel, ein französischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, richtig bemerkte, hat der Mensch über Jahrhunderte versucht, dem Staat Grenzen zu setzen und sein Handeln zu kontrollieren.[1] Und alle Konzepte, die dieses Ziel verfolgten, konnte der Staat mit Hilfe seiner verbündeten Intellektuellen weiten und zu seinen Gunsten bis zur Unkenntlichkeit verformen. In Westeuropa wurde das Konzept der heiligen Souveränität des Monarchen (von Gottes Gnaden), das dem Herrscher auferlegte, nur nach heiligem Recht zu handeln, zu einer Heiligsprechung allen königlichen Handelns verkehrt. Die parlamentarische Demokratie begann als ein Gegengewicht zur absoluten monarchischen Herrschaft, und führte letztlich dazu, dass das Parlament zum essentiellen Organ des Staates und zum totalen Souverän wurde.
Der ambitionierteste Versuch, dem Staat Grenzen zu setzen, war wohl die Bill of Rights und andere Teile der amerikanischen Verfassung. Sie bilden das von einer unabhängigen Judikative zu interpretierende Recht, nachdem staatliches Handeln erfolgen darf. Doch jeder Amerikaner ist vertraut mit dem Prozess, in dem die Grenzen der Verfassung stetig geweitet werden. Aber wenige gehen soweit wie Professor Charles Black. Er erkennt, dass in der Tat die richterliche Prüfung, die Judikative, von einem limitierenden zu einem ideologisch legitimierenden Element staatlicher Macht umgeformt wurde. So ist das Für-verfassungsmäßig-Erklären von nur leicht bis offensichtlich verfassungswidrigem Handeln eine mächtige Waffe, um Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit für immer größere staatliche Macht zu erlangen.
Staaten haben sich ausnahmslos als fähig erwiesen, ihre Macht über die ihnen auferlegten Grenzen zu erweitern. Da sie notwendigerweise von der gewaltsamen Enteignung und Aufzehrung privaten Kapitals leben, geht ihre Expansion mit einer immer größeren Bürde für den privaten Sektor einher. Der Staat ist von Natur aus antikapitalistisch. Dies ist in gewisser Weise die Umkehrung des marxistischen Diktums, nachdem der Staat das Exekutivkomitee der regierenden Klasse ist – den Kapitalisten. Das Gegenteil ist der Fall: Der Staat, als die Organisation und Systematisierung des politischen Mittels, ist das Werkzeug der politischen Klasse und im ständigen Konflikt mit privatem Kapital.
Rothbard schließt mit de Jouvenel ab. Er schrieb, dass nur ein Mensch, der von der Geschichte und Entwicklung staatlicher Strukturen nichts versteht, der von keiner Epoche außer seiner eigenen etwas weiß, die Veränderungen in unseren politischen Systemen als das Ergebnis zugrundeliegender Prinzipien sehen kann (Entwicklungen wie Nationalisierung, Einkommensteuern etc.). Sie sind nichts anderes als der Auswuchs von Macht und unterscheiden sich im Kern nicht von der Konfiszierung von Klöstern unter Heinrich VIII. Der treibende Faktor ist der Hunger nach Autorität und der Durst nach bedingungslosem, sicherem Wohlstand.
Was der Staat fürchtet
Was der Staat am meisten fürchtet ist eine fundamentale Bedrohung seiner eigenen Macht oder Existenz. Das Ende eines Staates kann nur auf zwei Wegen erfolgen: Eroberung von außen oder revolutionärer Umbruch von innen – Krieg oder Revolution. Diese beiden Aspekte erfordern daher die größte Propaganda des Staates. Diese muss dazu führen, dass die Bürger zur Verteidigung eines bedrohten Staates eilen, im Glauben sie verteidigten sich selbst.
In Kriegszeiten, unter dem Deckmantel der Verteidigung, kann der Staat seine Einflussnahme in einer Form erweitern, die in Friedenszeiten auf offenen Widerstand stoßen würde. Kriege können also in vielerlei Hinsicht von Vorteil für Staaten sein. Und tatsächlich hat jeder moderne Krieg dazu geführt, dass der Staat seine Einflussnahme auf die Gesellschaft erweitert hat. Außerdem kann im Krieg das Herrschaftsgebiet eines Staates erweitert werden. Randolph Bourne lag sicherlich richtig als er schrieb: „war is the health of the state“.
Man kann die Hypothese testen, dass der Staat eher daran interessiert ist, sich selbst zu schützen, als seine Subjekte. Dazu stelle man sich die Frage, welche Straftaten im Staatskatalog härter sanktioniert werden, jene gegen private Subjekte oder solche gegen den Staat selbst. Man denke an Komplotts, Verschwörungen, Subversion, Attentate auf Staatssubjekte oder ökonomische Straftaten wie Fälschung des staatlichen Fiatgeldes oder die Umgehung von Steuern. Ein interessanter Vergleich ist der Unterschied im Strafmaß für die Beleidigung einer beliebigen privaten Person oder eines Polizisten, eines Staatsdieners. Nur Wenigen erscheint die Priorität des Staates für sich selbst als widersprüchlich zu seiner mutmaßlichen Daseinsberechtigung.
Die Beziehungen zwischen Staaten
Da die Fläche unserer Erde aufgeteilt ist auf unterschiedliche Staaten, nehmen interstaatliche Beziehungen einen großen Teil der Zeit und Energie einer jeden Regierung in Anspruch. Der natürliche Reflex eines Staates, zu expandieren und seine Macht zu erweitern, mündet in interstaatliche Konflikte. Nur eine Entität kann auf einem gegebenen Gebiet das Gewaltmonopol innehaben. Krieg spielt eine immerwährende Komponente in den Beziehungen zwischen Staaten, mit Zwischenperioden des Friedens und wechselnden Allianzen.
Recht auf internationaler Ebene entwickelte sich zunächst aus dem privaten Sektor, aus der Notwendigkeit für Händler ihr Eigentum zu schützen und Konflikte zu regeln. Aber auch das Kriegsrecht entwickelte sich freiwillig, ohne das Aufbürden durch einen übergeordneten Superstaat. Es diente dem Schutz der unschuldigen Zivilbevölkerung, also der den Staat nährenden Produktionsquelle und damit dem Staat selbst. Es schützt die Zivilbevölkerung der neutralen aber auch der kriegführenden Staaten. Es gab im 18. und 19. Jahrhundert eine regelrechte Abkopplung des militärischen Sektors vom zivilen Sektor. Handel wurde auch unter Kriegführenden Staaten getrieben. Zivile Subjekte kriegführender Staaten konnten durchaus, trotz der gewaltsamen Konflikte ihrer Regierungen, in friedlicher Weise kooperieren. Reisepässe wurden ursprünglich geschaffen, um eine sichere Durchreise durch Kriegsgebiet zu gewähren.[2]
Inwieweit Staaten die Regeln des „kultivierten“ Krieges entwickelt haben, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Aber es ist klar, dass in unseren modernen Zeiten des absoluten Krieges und der Technologie der totalen Zerstörung, die Idee des auf den Staatsapparat beschränkten Krieges gerade noch unglaublicher und abstruser klingt.[3]
Geschichte – Ein Rennen zwischen Staatlicher und Sozialer Macht
So wie die menschliche Interaktion entweder auf Freiwilligkeit oder auf Zwang beruht, so kann die gesamte Menschheitsgeschichte in diese beiden Konzepte eingeteilt werden. Rothbard bedient sich hier der Terminologie Albert J. Nocks und benennt die beiden treibenden Kräfte der Menschheit als die „Soziale Macht“ und die „Staatliche Macht“ (Social power and State power).[4] Die Soziale Macht ist die Macht über die Natur, die Fähigkeit des Menschen durch Fortschritt, Technologie, Kooperation und Handel die natürlichen Grenzen seiner Existenz zu erweitern und den Wohlstand aller beteiligten Individuen zu mehren. Die Staatliche Macht ist die Macht über Menschen, die Ausbeutung der Früchte friedlicher Kooperation.
Die Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert war in den meisten westlichen Ländern gekennzeichnet durch einen Anstieg der Sozialen Macht, einhergehend mit Frieden und einer nie dagewesenen Steigerung des materiellen Wohlstands. Im 20. Jahrhundert jedoch erfolgte eine Aufholjagd der Staatlichen Macht, einhergehend mit Krieg, Ausbeutung und Zerstörung.[5] Heute stellt sich uns weiterhin und wieder verstärkt das Problem eines überbordenden Staatsapparats.
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Karl-Friedrich Israel, 24, hat Volkswirtschaft an der Humboldt-Universität in Berlin studiert. Zur Zeit absolviert er in England an der Universität Oxford sein Masterstudium.
[1] Siehe dazu Bertrand de Jouvenel Du Pouvoir – Histoire naturelle de sa croissance, Genève, éditions du cheval ailé, 1945 (dt.: Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums)
[2] Vergleiche John U. Nef, War and Human Progress, Harvard University Press 1950, S.162
[3] Inwiefern die Entwicklung vom „kultivierten“ Krieg zum Vernichtungskrieg zurückzuführen ist auf den Übergang von Monarchie zu Demokratie ist eine interessante Frage. In einer Monarchie, in der der Monarch sein Land im Wesentlichen als sein Eigentum betrachtet, wird ein Anreiz gesetzt, dessen Wert zu erhalten. In der Demokratie, in der Regierungen nur temporäre Platzhalter sind, fehlt jener Anreiz, was zu einem strukturellen Unterschied führt. Siehe hierzu Hans-Hermann Hoppe, Demokratie – Der Gott, der keiner ist.
[4] Zu dieser Einteilung siehe Albert J. Nock, Our Enemy the State (Caldwell, Idaho: Caxton Printers, 1946).
[5] Die parasitäre Aufholjagd wurde indirekt in der Marxistischen Ideologie wiedergespiegelt, nach der sich der Sozialismus erheben kann durch die Beschlagnahmung des im Kapitalismus akkumulierten materiellen Wohlstands.