EU ermöglicht massive Online-Überwachung
22. November 2021 – von Rainer Fassnacht
Die EU hat (relativ geräuschlos) eine Verordnung für „eine vorübergehende Ausnahme von bestimmten Vorschriften der Richtlinie 2002/58/EG hinsichtlich der Verwendung von Technologien durch Anbieter nummernunabhängiger interpersoneller Kommunikationsdienste zur Verarbeitung personenbezogener und anderer Daten“ verabschiedet.
Klingt furchtbar – und ist es auch.
Die Richtlinie, welche durch die Verordnung „vorübergehend“ (bis zum 3. August 2024) ausgehebelt wird, regelt den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation. Und durch die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union wurde die Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich und gilt nun unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
Zugegeben, der Titel dieses Artikels scheint vor dem Hintergrund dieses eher harmlos wirkenden Verwaltungsvorgangs provokant zu sein. Betrachten wir das Thema jedoch genauer, relativiert sich diese Einschätzung. Von Jean Paul Sartre stammt ein dazu passendes Zitat „Wenn ihr eure Augen nicht gebraucht, um zu sehen, werdet ihr sie brauchen, um zu weinen“.
Es macht Sinn zunächst zu klären, was mit „Freiheit“ eigentlich gemeint ist. Zur Verdeutlichung kann eine Dreiteilung beitragen – Tun, Kommunizieren, Denken.
Wer Tun (oder Unterlassen) kann, was er möchte – sofern dabei nicht die Freiheit anderer eingeschränkt wird –, ist frei. Dazu passend schrieb Mises:
Das Verhalten und nicht die unausgeführte Absicht über ein Verhalten ist das, worauf es ankommt. … Auch das Nichtstun und das Nichtarbeiten, auch das Unterlassen und das Dulden sind Handeln.
Im Alltag sind wir bereits zahlreichen handlungseinschränkenden Zwängen ausgesetzt. Wir müssen Handlungen vollziehen, auf die wir gern verzichten würden, oder Handlungen unterlassen, die wir gern vollziehen würden. Staatliche Regelungen wie der Zwang zur Zahlung einer Rundfunkgebühr oder bestimmte Bauvorschriften sind dafür Beispiele.
Die Freiheit des Tuns ist demnach bereits eingeschränkt, aber das ist ja kein Grund zur Sorge, es gibt ja noch die uneingeschränkte Freiheit des Kommunizierens – oder etwa nicht?
Theoretisch können wir unsere Meinung in Wort und Text frei äußern. Nur dort wo die Freiheit anderer verletzt würde, muss dies unterbleiben. Einen Mordaufruf unter Strafe zu stellen, ist daher keine Freiheitseinschränkung.
Faktisch gibt es jedoch einige Entwicklungen, welche die Freiheit des Kommunizierens spürbar beeinträchtigen. Die Stichworte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, Genderdeutsch und politisierte Wissenschaft geben Hinweise auf diese Beschränkungen.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat dazu geführt, dass Löschungen, Sperrungen und das heimliche Ausblenden von Inhalten (Shadowbanning) an der Tagesordnung sind. Deutlich wird dies unter anderem durch jene Fälle, die von der Initiative Meinungsfreiheit im Netz aufgegriffen werden (wobei es sich hier nur um die Spitze des Eisbergs handeln dürfte).
Wie der Verein Deutsche Sprache und zahlreiche Umfragen zeigen, ist eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen das Gendern. Trotzdem belästigen „Sprachaktivisten“ in diversen Medien Leser, Hörer und Zuschauer mit konsequenter Missachtung und gendern was das Zeug hält. Wobei uns dies „nur passiv“ betrifft. Aber dort wo die öffentliche Verwaltung oder Unternehmen Sprachvorgaben machen, kann mit dem Abweichen vom Sprachkorsett der Verlust des Arbeitsplatzes einhergehen.
Dass auch politisierte Wissenschaft die Freiheit der Kommunikation einschränkt, zeigt sich unter anderem, wenn es Professoren unmöglich gemacht wird, ihre Vorlesung zu halten. Das nunmehr die erste anti-woke Universität gegründet wurde zeigt, wie verbreitet diese Unart inzwischen ist. Ursprünglich waren die Universitäten Orte des Austauschs kontroverser Positionen, inzwischen sind sie vielfach zu Minenfeldern mutiert.
Passend dazu schrieb Mises
Es gibt nahezu nur einen Faktor, der die Macht besitzt, die Menschen unfrei zu machen – tyrannische öffentliche Meinung.
Die Freiheit der Kommunikation ist demnach bereits eingeschränkt, aber das ist ja kein Grund zur Sorge, es gibt ja noch die uneingeschränkte Freiheit der vertraulichen Kommunikation unter Freunden und des Denkens bzw. des privaten Dokumentierens von Überlegungen, bevor diese nach außen kommuniziert werden – oder etwa nicht?
Nun kommen wir zur oben genannten EU-Verordnung, welche das Ende der Freiheit einläutet, weil diese zusätzlich zu den ohnehin bereits festzustellenden Einschränkungen des Tuns und Kommunizieren auch noch diese letzte Bastion der Freiheit schleifen möchte – für einen „guten Zweck“.
Um die Gefahr deutlich zu machen, nutzen wir eine Analogie, den Brief bzw. das Briefgeheimnis. Um einen Artikel vorzubereiten, den Sie später vielleicht veröffentlichen möchten, berichten Sie einem vertrauten Freund in einem Brief einige noch nicht ausgereifte und vielleicht sogar provokative Überlegungen dazu.
Sie tun dies im Vertrauen darauf, dass der Brief nur vom angeschriebenen Empfänger gelesen wird und dessen Inhalt nicht in andere Hände gelangt, schließlich ist der Brief verschlossen und unterliegt dem Briefgeheimnis.
Aber entgegen Ihrer Erwartung hat eine vom Staat beauftragte Stelle den Inhalt ihres Briefes durch den verschlossenen Umschlag ausgelesen oder ihre Schreibmaschine so manipuliert, dass er bereits beim Verfassen „mitgelesen“ wurde. Da einige ihrer Gedanken nicht dem politisch erwünschten entsprechen, steht bald darauf die Polizei vor ihrer Tür.
Genau dies wird mit der eingangs verlinkten EU-Verordnung in der digitalen Welt möglich!
Vermutlich würde ein solches Vorhaben bei entsprechender Aufmerksamkeit einen Sturm der Entrüstung auslösen. Doch wenn es dazu dienen soll, verabscheuungswürdiges und strafbares Verhalten zu verhindern, ist allenfalls mit einem lauen Lüftchen – vielleicht sogar mit Rückenwind zu rechnen. Genau dies passierte, die öffentliche Kritik hielt sich in Grenzen.
Um die Strafverfolgung von Kinderpornographie zu erleichtern, „ermöglicht“ es die EU Chat- und Messenger-Providern, private Chats, Nachrichten und E-Mails massenhaft, anlass- und unterschiedslos auf verdächtige Inhalte zu durchsuchen. Durch eine solche Massenüberwachung und vollautomatisierte Echtzeit-Chatkontrolle erfolgt die Abschaffung des „digitalen Briefgeheimnisses“.
In kaum zu fassender Weise hat auch eine Mehrheit der Abgeordneten im EU-Ausschuss für bürgerliche Freiheiten diesem Vorhaben im Kern zugestimmt.
Alles kein Problem, weil es ja nur dazu dient, böse Jungs bei bösen Taten zu erwischen? Keineswegs! Sind solche technischen Möglichkeiten einmal installiert, werden sich andere Umstände finden, die deren Einsatz erforderlich machen. Auch dies gehört zum Teufelskreis des Interventionismus.
Wie sollte man den Einsatz solcher „Folterwerkzeuge“ verhindern, wenn zum Beispiel eine neo-sozialistische Regierung die Macht errungen hat und das Eintreten für die Freiheit oder die Befürwortung der Marktwirtschaft als gefährliche Bedrohung empfindet?
Schon die ersten Gedankennotizen zum vorliegenden Artikel, der Ideenaustausch dazu mit Vertrauten, die Weiterleitung zum Editor oder die letzten Vorbereitungen vor der Veröffentlichung, bei jedem dieser Schritte wären die vom Staat ermächtigten Zensoren unbemerkt mit dabei. Sie könnten bei jedem dieser Schritte einen Prozess in Gang setzen, an dessen Ende der Autor, andere Mitwirkende und die Leser, Besuch von Vertretern der Polizei oder der Geheimdienste bekäme.
Ohne massiven Widerstand konnte die EU mit dieser Maßnahme der ohnehin angeschlagenen Freiheit den Todesstoß versetzen. Mit dieser Verordnung hat die EU den „Rückstand“ zu den Überwachungsmöglichkeiten in China deutlich verringert.
Die Geschichte zeigt, dass uns das Wort „vorübergehend“ nicht in Sicherheit wiegen sollte. Als Nixon 1971 verkündete, dass der US-Dollar von nun an nicht mehr in Gold einlösbar sei, war auch dies mit dem Adjektiv „vorübergehend“ verknüpft.
Lassen wir erneut Mises zu Wort kommen
Der schwerste politische Irrtum unserer Zeit ist die Verkennung der Wurzeln der modernen Freiheitsrechte. Man glaubt, daß Rede-, Gedanken- und Pressefreiheit, Freiheit der Religionsausübung, Versammlungsfreiheit und alle anderen unter der Bezeichnung Menschen- und Bürgerrechte zusammengefassten Freiheiten ihren Ursprung und Bestand Staatsgesetzen verdanken.
Kaum etwas macht diesen schweren Irrtum so deutlich, wie das geplante Vorhaben der EU.
Rainer Fassnacht ist ausgebildeter Kaufmann und studierter Diplom-Ökonom. Er lebt in Berlin und ist Autor des Buchs „Unglaubliche Welt: Etatismus und individuelle Freiheit im Dialog“. Auch in seinen sonstigen, unter anderem vom Austrian Economics Center in Wien veröffentlichten Texten, setzt er sich für die Bewahrung der individuellen Freiheit ein.
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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Instituts Deutschland wieder.
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