Ludwig von Mises im Interview: “Jeden gleich behandeln, nicht gleich machen”
15.04.2012 – Die Zukunft des Liberalismus – Der innere, seelische Reichtum des Menschen kann sich nur entfalten, wenn die äußeren, materiellen Rahmenbedingungen stimmen, sagt Ludwig von Mises.
Das folgende Interview hat nie stattgefunden. Ludwig von Mises, der als einer der größten Ökonomen und Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts gilt, ist 1973 im Alter von 92 Jahren in New York gestorben. Der unvergessene Roland Baader, der im Januar diesen Jahres verstorben ist, hat das Gespräch im Jahr 1994 aus Zitaten zusammengestellt, die er den Werken von Ludwig von Mises’ entnahm, zumeist aus „Liberalismus“ (1927, neu aufgelegt 1993 von der Friedrich-Naumann-Stiftung im Academia-Verlag).
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Herr Professor von Mises, Sie gelten als einer der entschiedensten Vertreter des Liberalismus in unserem Jahrhundert. Unter amerikanischen Ökonomen genießen Sie höchstes Ansehen, aber in Ihrem Heimatland Österreich und überhaupt im deutschsprachigen Raum sind Sie viel weniger bekannt. Wie erklärt sich das?
Vielleicht liegt es daran, dass ich mich nie darüber getäuscht habe, dass meine Theorien zwar den Niedergang der großen europäischen Kultur erklären, ihn aber nicht aufhalten. Ich wollte Reformer werden, doch ich bin der Geschichtsschreiber des Niedergangs geworden. Auch spielt eine Rolle, dass der Liberalismus, für den ich eintrete, nie eine besondere Chance bei den Massen gehabt hat.
Der Liberalismus ist keine Religion, keine Weltanschauung und keine Partei der Sonderinteressen. Er ist keine Religion, weil nichts Mystisches um ihn webt und weil er keine Dogmen hat. Er ist keine Weltanschauung, weil er nicht den Kosmos erklären will und weil er uns nichts sagt und nichts sagen will über Sinn und Zweck des Menschendaseins. Er ist keine Partei der Interessen, weil er keinem einzelnen und keiner Gruppe irgendeinen Sondervorteil verspricht, verschaffen will oder verschafft. Er will den Menschen nur eines geben: friedliche, ungestörte Entwicklung des materiellen Wohlstands für alle, um so von ihnen wenigstens die äußeren Ursachen von Schmerz und Leid fernzuhalten, soweit das überhaupt in der Macht gesellschaftlicher Einrichtungen steht.
Scheint hierbei nicht gerade das auf, was man dem Liberalismus am häufigsten vorwirft, nämlich dass er nur nach äußerer Befriedigung strebe?
Diese rein äußerliche und materialistische Einstellung auf Irdisches und Vergängliches ist dem Liberalismus vielfach zum Vorwurf gemacht worden. Das Leben der Menschen, meint man, gehe nicht in Essen und Trinken auf. Auch der größte irdische Reichtum könne dem Menschen kein Glück geben, lasse sein Inneres, seine Seele unbefriedigt und leer. Es sei der schwerste Fehler des Liberalismus, dass er dem tieferen und edleren Streben des Menschen nichts zu bieten habe.
Mit den Mitteln, die der menschlichen Politik zur Verfügung stehen, kann man wohl die Menschen reich oder arm machen, aber man kann nie dazu gelangen, sie glücklich zu machen und ihr innerstes und tiefstes Sehnen zu befriedigen. Alles, was die Politik machen kann, ist, die äußeren Ursachen von Schmerz und Leid beheben. Sie kann ein System fördern, das die hungernden sättigt, die Nackten kleidet und die Obdachlosen behaust.
Nicht aus Geringschätzung der seelischen Güter richtet der Liberalismus sein Augenmerk ausschließlich auf das Materielle, sondern weil er der Überzeugung ist, dass das Höchste und Tiefste im Menschen durch äußere Regelung nicht berührt werden kann. Er sucht nur äußeren Wohlstand zu schaffen, weil er weiß, dass der innere, der seelische Reichtum dem Menschen nicht von außen kommen kann, sondern nur aus der eigenen Brust. Er will nichts anderes schaffen als die äußerer Voraussetzungen für die Entfaltung des inneren Lebens.
Und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der in verhältnismäßigem Wohlstand lebende Bürger des 20. Jahrhunderts leichter seine seelischen Bedürfnisse befriedigen kann als etwa der Bürger des 10. Jahrhunderts, den sie Sorge um notdürftige Fristung des Daseins und die Gefahren, die ihm vom Feinde drohten, nicht zur Ruhe kommen ließen.
Ein weiterer Vorwurf lautet, der Liberalismus appelliere ausschließlich an die Vernunft, er sehe alle Lebensbelange nur rationalistisch.
Der Liberalismus sagt nicht, dass der Mensch immer klug und vernünftig sei, sondern gerade weil das nicht so ist, appelliert er an die Menschen, in der Politik die Vernunft zur Geltung zu bringen.
Unser Fassungsvermögen ist sehr beschränkt. Wir dürfen nicht hoffen, jemals die letzten und tiefsten Weltgeheimnisse zu entschleiern. Doch der Umstand, dass wir über Sinn und Zweck unseres Daseins nie ins klare kommen können, hindert uns nicht, Vorkehrungen zu treffen, um ansteckende Krankheiten auszuweichen und uns zweckmäßig zu kleiden und zu ernähren, und er soll uns nicht hindern, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die irdischen Ziele, die wir anstreben, am zweckmäßigsten erreicht werden können.
Aber ist der konsequente Liberalismus – anders gesagt der Kapitalismus – nicht ein System, das mehr den Reichen als den Armen dient?
Geschichtlich war der Liberalismus die erste politische Richtung, die dem Wohle aller, nicht dem besonderer Schichten, dienen wollte. Vom Sozialismus, der ebenfalls vorgibt, das Wohl aller anzustreben, unterscheidet sich der Liberalismus nicht durch das Ziel, sondern nur durch die Mittel, die er Wählt, um dieses Ziel zu erreichen.
Nur dem, was man von den liberalen Ideen und vom Kapitalismus noch übriggelassen hat, verdanken wir den Umstand, dass die große Masse der Menschen in den Industrieländern eine Lebenshaltung führen kann, die weit höher ist als jene, die noch vor wenigen Menschenaltern nur den wenigen Reichen möglich war. Die Antiliberalen sprechen nie von Kapitalismus, wenn es um den erreichten Massenwohlstand geht, aber immer dann, wenn es um eine Erscheinung geht, die nur möglich wurde, weil der Liberalismus zurückgedrängt wurde.
Gerade in der derzeitigen Krise der Bundesrepublik und der Weltwirtschaft, die auch eine Krise der Sozialsysteme ist, melden sich wieder liberale Stimmen zu Wort, welche die staatlichen Sozialleistungen nicht nur zurückführen, sondern weitgehend auf die Ebene privater Vorsorge verlegen wollen. Zeugt das nicht von einer „sozialen Kälte“ des Liberalismus?
Die antiliberale Politik – und das ist auch die herkömmliche Sozialpolitik – ist Kapitalaufzehrungspolitik. Sie empfiehlt, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft reichlicher zu versorgen. Aber einem reichlichen Genuss im Augenblick steht schwerer Nachteil in der Zukunft gegenüber. Wenn man angesichts dieses Dilemmas davon spricht, dass Hartherzigkeit gegen Philanthropie steht, dann ist man unehrlich und verlogen.
Das vernünftige Handeln unterscheidet sich vom unvernünftigen Handeln dadurch, dass es vorläufige Opfer bringt. Diese vorläufigen Opfer sind nur Scheinopfer, da sie durch den Erfolg, der später eintritt, aufgewogen werden. Doch um so zu handeln, braucht es Einsicht in die Folgen des Handelns. Das macht sich der Demagoge zunutze. Er schilt den Liberalen, der das vorläufige Opfer fordert, entgegen, hartherzig und volksfeindlich. Sich selbst rühmt der Demagoge als Menschen- und Volksfreund. Er weiß die Herzen der Zuhörer zu Tränen zu rühren, wenn er seine Vorschläge durch den Hinweis auf Not und Elend empfiehlt.
Das unantastbare Eigentum, das der Liberale als Voraussetzung für arbeitsteiliges Wirtschaften betrachtet – ist es nicht ein Hindernis zur angestrebten größeren Gleichheit der Menschen?
Die Natur wiederholt sich nicht in ihren Schöpfungen, sie erzeugt keine Dutzendware, sie hat keine Typenfabrikation Der Mensch, der aus ihrer Werkstatt hervorgeht, trägt den Stempel des Individuellen, des Einzigartigen. Man kann die Menschen nicht gleichmachen, sondern sie nur vor dem Gesetz gleich behandeln. Nur weil unsere Gesellschaftsordnung die Ungleichheit des Eigentums kennt, nur weil sie jeden anspornt, so viel als möglich und mit dem geringsten Aufwand an Kosten zu erzeugen, verfügt die Menschheit heute über die Summe von jährlichem Reichtum, den sie nun verzehren kann. Würde man diesen Antrieb beseitigen, so würde man die Ergiebigkeit der Produktion so sehr herabdrücken, dass die Kopfquote des Einkommens bei gleichmäßiger Verteilung tief unter das fallen würde, was selbst der Ärmste heute erhält.
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Erstmals erschienen in der Zeitung „Rheinischer Merkur“ am 17. Juni 1994.