Sind Wohlstand und Armut messbar?
21.3.2012 – von Rahim Taghizadegan.
Oft verurteilen dieselben, die über Armut klagen, auch die Folgen des materiellen Wohlstands. Dieser sei ein schlechter Maßstab für das Glück der Menschen. Das ist vollkommen richtig. Aber wenn solche Klage von einem im Überfluss lebenden Systemkritiker von der Wohnzimmercouch aus vorgebracht wird, kann man sie auch für zynischen Snobismus halten. Die Österreichische Schule entstand in einer materialistisch ausgerichteten Epoche und war doch eine der am wenigsten materialistischen Schulen ihrer Zeit. Das Hauptaugenmerk galt noch der Bekämpfung des bitteren Mangels, der schon fast verschwunden war, als der Wahnsinn der Ideologien und Weltkriege die Welt um Jahrhunderte zurückwarf.
„Österreichische“ Ökonomen gaben zu bedenken, dass das Glück keinesfalls messbar sei und man sich vor jenen hüten sollte, die eine Zwangsbeglückung vorhaben. Glück ist eben subjektiv. Doch auch Wohlstand stellt aus Sicht der „Österreicher“ keine objektive Messgröße dar. Mit dem Unfug einer statistischen Ermittlung eines Bruttoinlandsprodukts, das zum Fetisch der Wirtschaftspolitik erhoben wird, haben sie wenig Geduld. Das Bruttoinlandsprodukt als Ausdruck aller in Geld bewerteten Transaktionen besitzt keinerlei Bezug zum menschlichen Wohlergehen, denn Produktion ist in den Augen der Österreichischen Schule niemals Selbstzweck. Der Zweck allen Wirtschaftens liegt – nüchtern betrachtet – in der subjektiven Verbesserung der persönlichen Lebensverhältnisse. Kriege und Zerstörung lassen etwa die Produktion und damit auch das BIP anschwellen – doch den Wohlstand steigern diese Untaten aufgehetzter Nationen nur in den Augen mancher moderner Volkswirte.
Über die Glückseligkeit der Menschen wagten die alten „Österreicher“ nicht zu dozieren. Vielleicht war das ein Fehler; in einer Zeit des Überflusses langweilt die Konzentration auf die materielle Wertschöpfung. Die Menschen sehnen sich statt nach höherem Wohlstand eigentlich nach Sinn und metaphysischen Werten. Doch die Vernichtung und Verleugnung der materiellen Werte vermag ebenfalls keinen Sinn zu schaffen. Da sich die Kritiker der Wirtschaftsordnung nicht entscheiden können, ob es zu wenig oder zu viel Wachstum materieller Güter gibt, verlegen sie sich oft auf die Kritik der ungleichen Verteilung.
Die Definitionen für Armut in Überflussgesellschaften beschreiben in der Regel die Verteilung und nicht realen Mangel. Die sogenannte „relative Armut“ setzt das Einkommen in Beziehung zum Durchschnitt. Das Problem dieser Definition besteht darin, dass diese „Armut“ nicht durch steigenden Wohlstand verschwinden kann, sondern erst in einer Gesellschaft mit absoluter Gleichverteilung abgeschafft wäre. Wie die Geschichte zeigt, wäre das aber in aller Regel eine Gesellschaft, in der alle gleichmäßig arm sind. Interessant ist, dass diejenigen, die den Materialismus des Wohlstands kritisieren, meist eine rein materialistische Definition von Armut verwenden. Tatsächlich vermögen Geldzuteilungen die Probleme, die der Armut zugrunde liegen, nicht zu lindern. Ganz im Gegenteil wird so Abhängigkeit geschaffen. Dies ist ein weiterer Grund für das Versagen der Entwicklungshilfe – und der Sozialhilfe. Armut stellt genauso wenig wie Wohlstand ein rein materielles Phänomen dar.
Die Österreichische Schule gibt keine Empfehlung für Wirtschaftswachstum, romantisiert aber auch nicht den Mangel. Der Zugang der Wirtschaftspolitiker, die immer mehr Effizienz predigen, ist den „Österreichern“ genauso fremd wie die Verachtung der Wirtschaft seitens jener Menschen, die ihr Einkommen aus Umverteilung beziehen, die sie im Namen der Armen legitimieren. Wer auf Kosten anderer lebt, tut sich leicht, über die materiellen Bedingungen menschlichten Überlebens hinwegzusehen.
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