Kapitalismus versus Marktwirtschaft.

Versagen der Märkte oder des Geldsystems? Eine anschwellende Kapitalismuskritik sucht nach den Schuldigen der nicht enden wollenden Krise.

von Kristof Berking, Dezember 2011, erschienen in Smart Investor.

Kristof Berking - vor Ludwig von Mises' Geburtshaus in Lemberg

Als 1989 die Mauer fiel und schließlich die Sowjetunion und der Ostblock sich auflösten, war der Kommunismus endgültig gescheitert, und übrig blieb als Sieger, wie es schien, der Kapitalismus. Die, die an der Idee des Sozialismus festhielten, hatten es in der Folgezeit argumentativ schwer. Dass die Idee im Prinzip gut und lediglich schlecht ausgeführt worden sei, überzeugte niemanden wirklich. Um ihre Existenzberechtigung aufrechtzuerhalten, klammerten sich Linke einstweilen an den Antifaschismus.

Ende der 1990er Jahre entdeckten die Freunde von mehr Staat, mehr Regulierung, mehr Umverteilung die „Globalisierung“ als Bösewicht, dem es Einhalt zu gebieten gelte; die 1998 in Frankreich gegründete Organisation Attac machte einige Zeit lang viel von sich reden. Alles Schlechte bekam und bekommt das Etikett „neoliberal“. Was die ursprünglichen Neoliberalen seit den 1930er Jahren als Reaktion erst auf die Weltwirtschaftskrise, dann auf den Clash der kollektivistischen Totalitarismen im Zweiten Weltkrieg und schließlich auf den Keynesianismus wirklich wollten und was ihre Ordnungsvorstellungen überhaupt mit dem heutigen Wirtschaftssystem und der globalen Konzernherrschaft zu tun haben, interessiert keinen; Hauptsache, die Privatwirtschaft ist Schuld und der fürsorgliche Staat übernimmt das Ruder.[1]

Kapitalismus als Feindbild wieder konsensfähig

Seit dem Platzen der Dotcom-Blase und erst recht mit der Finanzkrise seit 2007 und der Eurokrise seit 2009 kehrte dann auch der Kapitalismus höchstpersönlich als gesellschaftsfähiges Feindbild zurück. Mit dem Ruf nach „Bändigung des Kapitalismus“ können wieder Mehrheiten gewonnen werden. Die Talkshows sind voll mit Leuten, die die Ursache der Krise in einem „neoliberalen Marktradikalismus“ sehen und die eine Zurückgewinnung der Dominanz der Politik über Wirtschaft und Banken, das „Primat der Politik“, einfordern. Der SPD-Veteran Erhard Eppler bringt dieses Verständnis von den Ursachen der Krise mit dem Untertitel seines soeben erschienenen Buches „Eine solidarische Leistungsgesellschaft“ auf den Punkt: „Epochenwechsel nach der Blamage der Marktradikalen.“

Dabei ist die Symptombeschreibung der linken Kapitalismuskritiker oftmals korrekt, und ihr Unbehagen im herrschenden System ist nur allzu berechtigt. Die Dominanz des Finanzsektors, seine Abkopplung von der Realwirtschaft, die Akkumulation des Kapitals in immer weniger Händen, die Vorherrschaft der Großunternehmen, das Schuldenwachstum oder auch die viel zitierten obszön hohen Boni der Bankmanager sind krank. Doch sind wirklich Marktversagen und zu wenig Staat die Ursache dieser kranken Zustände? Auch die meisten Demonstranten der Occupy-Bewegung, die seit einigen Wochen gegen die Macht der Banken und gegen soziale Ungleichheit protestiert, scheinen das zu glauben. Die Aktivisten legen zwar Wert darauf, keine Organisation zu sein, die mit einer Stimme sprechen kann, sondern ein Forum, das noch keine absoluten Lösungen anzubieten hat, doch alles, was von einzelnen Aktivisten und Gruppen als Forderungen artikuliert wird, ist das, was wir auch in den Parlamenten, Parteien und Talkshows zu hören bekommen: Finanztransaktionssteuer („Tobin-Steuer“), mehr Regulierung, notfalls Verstaatlichung der Banken.

Ein Bärendienst für den Liberalismus

Dem hat der Parteiliberalismus, sprich: die FDP, nichts entgegenzusetzen. Kleinlaut verteidigt man das herrschende Finanzsystem, prangert lediglich das viele Schuldenmachen gewisser Staaten an und will auch die Finanzmärkte ein bisschen mehr regulieren. Zusammen mit CDU, CSU, SPD und Grünen wollen die „Liberalen“ ein gewisses System retten, das unhinterfragt im Raum steht, wenn unisono von den „systemrelevanten“ Banken und „alternativlosen“ Rettungsaktionen die Rede ist. Aber außer der FDP können alle durch eine diffuse Kapitalismuskritik punkten, die der FDP als nomineller Partei des Liberalismus versagt ist. Durch ihr beredtes Schweigen zur Systemkrise erweckt sie den Eindruck, dass dieses System liberal sei, und leistet damit dem Liberalismus einen Bärendienst.

Außerhalb der Talkshows und Parteien gibt es aber auch echte Liberale, die das herrschende System bereits seit Jahrzehnten scharf kritisieren und erklären, dass das, was wir heute haben, schon lange keine Marktwirtschaft mehr ist. Die Vertreter der erzliberalen Österreichischen Schule der Ökonomie haben die Krise lange und mit präziser Begründung vorhergesagt. In Amerika zum Beispiel der Kongressabgeordnete Ron Paul, der unter anderem 2003 vorm Finanzausschuss davor warnte und ausführlich erläuterte, warum die damalige Politik zwangsläufig zu einer Immobilienblase und diese zu einer großen Finanzkrise führen müsse. [2]

Der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass die FDP mit dem Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler noch einen klassisch Liberalen in ihren Reihen hat, und dass er, wie sein aktuell laufendes parteiinternes Referendum zum ESM zeigt (dokumentiert in der Printausgabe dieses Artikels in [Smart Investor 12-2011]), nicht ganz allein dasteht. Auch in der CDU gibt es noch letzte Mohikaner, die ernsthaft an Ludwig Erhard erinnern (siehe Interview mit Oswald Metzger in [Smart Investor 12-2011]).

Kampf um die Definitionshoheit

Unter den außerparlamentarischen echten, stringenten Liberalen sind wiederum solche, die sich auch offensiv zu dem Begriff Kapitalismus bekennen und ihn trotzig wie eine Monstranz vor sich her tragen. In Amerika ist das unproblematisch, denn dort ist Capitalism nicht nur bei den radikalliberalen Libertarians, sondern allgemein eine positiv konnotierte Bezeichnung für die Ordnung und Verfassung der Freiheit. In Deutschland dagegen haftet dem Wort Kapitalismus schon immer der Geruch des Unmoralischen an. Übrigens war es nicht Karl Marx, der den Begriff populär machte – in seinem dreibändigen Werk „Das Kapital“ kommt Kapitalismus als Wort nur ein oder zwei Mal vor –, sondern der sozialistisch angehauchte Soziologe Werner Sombart (1863–1941) mit seinem Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ von 1902. Bei Marx und Engels war allerdings viel von „Kapitalisten“ als den Besitzern der Produktionsmittel und von der „kapitalistischen Produktionsweise“ die Rede. Das Wort Kapital selbst kommt von lateinisch caput, der Kopf, und stammt aus der Zeit, da man seinen Reichtum oder seine liquiden Mittel nach den Häuptern seines Viehs zählte. Auch das lateinische Wort für Geld, pecunia, bedeutet Vieh.

Da privates Eigentum an Produktionsmitteln – „Kapital“ im engeren Sinne – nur ein Aspekt ist, der allein noch nicht eine Ordnung der Freiheit konstituiert, ist es schon von daher fragwürdig, wenn Liberale sich die feindselige und verengende Fremdbezeichnung Kapitalismus zu eigen machen. Davon abgesehen ist die historische Epoche, die dem Feudalismus folgte und die man als Kapitalismus zu bezeichnen pflegt, auch nicht mehr die Epoche, in der wir leben. In den vergangenen 100 Jahren und ganz besonders seit 40 Jahren ist mit dem Zentralbankwesen ein planwirtschaftlich manipuliertes, einzig und allein auf Verschuldung aufbauendes Geldwesen so dominant und alles beeinflussend geworden, dass der Begriff Kapitalismus als Bezeichnung dieser Ordnung nicht mehr taugt oder aber, wenn das Kapitalismus sein soll, als Synonym für eine Ordnung der freien Märkte unbrauchbar ist.

Kapitalismus ungleich Marktwirtschaft

Kapitalismus ist Marktwirtschaft unter den Bedingungen eines planwirtschaftlichen Schuldgeldsystems, also keine Marktwirtschaft. Diese um der Pointe Willen verkürzte Definition muss vollständig wie folgt lauten: Der real existierende Kapitalismus ist eine bereits durch Überregulierung, staatlichen Interventionismus und Korporatismus völlig entstellte Marktwirtschaft unter den Bedingungen eines zentral gelenkten Papiergeldsystems mit Teilreserveprivileg für die Banken, also keine Marktwirtschaft. Aber der Reihe nach!

Klammern wir zunächst das Geldwesen aus und beginnen mit A wie Agrarsektor. Max Weber konnte noch von dem Bauern als dem „letzten freien Mann Europas“ sprechen; das ist lange passé. Die Landwirtschaft ist ein hochgradig regulierter und vom Staat, insbesondere einer irrwitzigen Brüsseler Umverteilungsbürokratie, abhängiger Wirtschaftszweig. Nicht viel anders sieht es im Gesundheitswesen aus; der Arzt ist quasi ein Organ der staatlichen Krankheitsverwaltung. Das Bildungswesen ist zum größten Teil staatlich. In vielen Wirtschaftsbranchen dominieren Großunternehmen und Konzerne, weil sie auf vielerlei Weise vom Staat und seinen Gesetzen begünstigt werden, etwa durch das Tarifkartell und das Arbeitsrecht und weil sie die zahlreichen Anforderungen von Staat und Kammern administrativ und finanziell leichter erfüllen können als kleine und mittlere Unternehmen. Weitere Verzerrungen finden durch staatliche Subventionen statt, gar nicht zu reden von den zahlreichen staatlichen Unternehmen in privater Rechtsform, wie die Deutsche Bundesbahn. Das System der sozialen Sicherung, von der Krankenversicherung bis zur Altervorsorge, ist geprägt von staatlichen Monopolen. Die Staatsquote insgesamt, nach offizieller Definition also das Verhältnis aller Staatsausgaben sowie der gesetzlichen Sozialsysteme zum Bruttoinlandsprodukt, beträgt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 47%. Wenn man jedoch alle vom Staat erzwungenen Ausgaben, bei denen die Bürger keine Wahlfreiheit haben, berücksichtigt, vom Arbeitgeberanteil über Rundfunkgebühren bis zu Zwangsabgaben an Kammern, kommt man auf eine Staatsquote von 70%. Und das soll zügellose Marktwirtschaft sein?

Zentralbankwirtschaft mit politisiertem Geld

Es wäre allerdings polemisch zu behaupten, wir hätten gar keine Marktwirtschaft mehr. Wer sich heute ein neues Fahrrad kauft oder bei einem spezialisierten Händler zusammenbauen lässt, kann nur staunen, wie für ungefähr jedes Bauteil, von der Lichtanlage über den Sattel bis zur Gangschaltung, Markenanbieter mit Qualität, Innovation, Design und Preis um die Gunst der Verbraucher buhlen. Das ist Marktwirtschaft! Der Kern der Marktwirtschaft ist freiwilliger Tausch, Vertragsfreiheit, Eigentumsschutz und eine ungestörte Preisbildung. Preise, die auf einem freien Markt entstehen, bilden ein Informationssystem, ohne das eine arbeitsteilige Wirtschaft nicht erfolgreich funktionieren kann. In Preisen ist unendlich viel Wissen gespeichert, über das keine einzelne Person oder noch so gut ausgestattete Behörde in seiner Gesamtheit verfügen kann, Wissen über Knappheit, Kosten, Angebot, Nachfrage usw. Dieser Mechanismus zur Vermittlung von Informationen kann nur funktionieren bei stabilem, unmanipuliertem Geld. Und hier liegt der Hund begraben.

Dreh- und Angelpunkt des heutigen Wirtschaftssystems und Ursache seiner Krisen ist das „politisierte Geld“, wie Gerd Habermann es nennt (siehe sein Beitrag in [Smart Investor 12-2011]). Seit der Staat seinen Kreditgebern, den Banken, in Abweichung von den allgemeinen Regeln des Zivil- und Strafrechts erlaubt hat, etwas zu verleihen, was sie gar nicht haben, und im Verlaufe des 20. Jahrhunderts nach und nach sogar so weit gegangen ist, ein System zu installieren, in dem Geld überhaupt nur als zinsbelastete Schuld in die Welt kommen darf und dieses aus dem Nichts geschöpfte Kreditgeld theoretisch beliebig vermehrt werden kann, ist alles in Unordnung. Das Preissystem ist nachhaltig und dauerhaft gestört, durch die Geldpolitik verursachte Scheinbooms führen zu Fehlallokationen, die früher oder später in einer Rezession bereinigt werden müssen, die Börsen spielen verrückt, Großunternehmen werden stark begünstigt, und der Staat kann mit der Manövriermasse des Scheingeldes mehr ausgeben, als er einnimmt. [3]

Es liegt an der Geldordnung

Im Zentrum dieses Wirtschaftssystems stehen die Zentralbanken. Sie sind quasi ein Kartell der Banken. Das Bankensystem kreiert Geld aus dünner Luft und verkauft es den Menschen und dem Staat gegen „Zinsen“. Diesem weltweiten Scheingeldsystem fehlt seit 1971 jedwede Deckung durch reale Werte. Das heutige ungedeckte Geld, das die Banken ausreichen, ist gar kein „Kapital“ im ursprünglichen Sinne des Wortes; fiktives Vieh ist kein Vieh. Die in den vergangenen Jahrzehnten im Verhältnis zur Realwirtschaft um ein Vielfaches gestiegene Geldmenge besteht aus zukünftigen Zahlungsversprechen und ist durchweg belastet mit Zinsforderungen. Das Schuldgeldsystem ist wie ein Fahrrad, das nicht anhalten darf, sonst fällt es um.

Praktisch alle beklagten Auswüchse und Missstände der Finanz- und Eurokrise sind Folge dieses planwirtschaftlich monopolistischen Geldsystems. Auch die Macht der Banken. Ohne das vom Staat sanktionierte und gewollte Teilreservebankwesen wäre Geld Teil der Realwirtschaft, und Banken wären lediglich Intermediäre. Das Phänomen eines völlig abgehobenen monetären Sektors mit Finanzinstituten, die so viele uneinbringbare Kredite ausreichen können, dass man sie nicht pleitegehen lassen darf, wenn nicht das ganze System kollabieren soll – „too big to fail“ –, gäbe es gar nicht. Wenn Banken nur reale Ersparnisse verleihen könnten und auch nur einmal verleihen könnten (im Gegensatz zur multiplen Kreditgeldschöpfung und Fristentransformation im heutigen System), hätte die heutige exorbitante Staatsverschuldung überhaupt nie entstehen können. Aber das war und ist nicht im Interesse der Politiker. Das ist das schmutzige Geheimnis der Politik; sie steckt mit ihren Kreditgebern, den Teilreservebanken, unter einer Decke.

Besonders peinlich für die linken Politiker ist dabei, dass die zusätzliche Anheizung der Schuldgeldblase durch die Aufhebung des Glass-Steagall-Act in Amerika, der die Trennung von Geschäftsbanken und Investmentbanken vorsah, nicht etwa unter der Bush-Regierung, sondern unter Clinton beschlossen wurde. Und in Deutschland war es die rot-grüne Schröder-Regierung, die die Einführung der Verbriefung von Kreditforderungen („Asset Backed Securities“) ermöglicht und aktiv vorangetrieben hat. Das erlaubte den Banken, toxische Papiere auf Zweckgesellschaften auszulagern, um immer mehr neue Kredite vergeben zu können. Eine ganz besonders unrühmliche Rolle hat dabei der damalige Abteilungsleiter und spätere Staatssekretär im Finanzministerium Jörg Asmussen (SPD) gespielt, der nun Chefvolkswirt der EZB werden soll. [4]

Markt ohne Haftung ist kein Markt

Dass der systemimmanente Aufschuldungsprozess irgendwann zur Zahlungsschwierigkeit bei oder sogar Ausfall von Schuldnern führt, wie jetzt als erstes bei Griechenland, ist kein überraschendes Ereignis, sondern von vornherein absehbar. Warum gehen die Banken dennoch solche „Risiken“ ein? Weil sie darauf vertrauen können, dass sie von den Politikern, die ebenfalls wissen, dass die Schulden, die sie machen, niemals mit normalen Mitteln der Sparsamkeit zurückgezahlt werden können, und die dies auch von vornherein gar nicht beabsichtigen, herausgepaukt werden. Das sind dann die Bail-outs und Rettungsschirme, die wir sehen, und das hat mit Marktwirtschaft nichts zu tun. Marktwirtschaft bedeutet auf eine Kurzformel gebracht: Gewinne sind privat, Verluste auch. Die herrschende Finanzpolitik aber lässt den Markt gerade nicht walten, sondern sozialisiert die Verluste der Banken, um das System zu retten.

Die Gutmeinenden unter den Systemrettern rechtfertigen sich mit zwei Argumenten bzw. Vorstellungen. Zum einen heißt es, man könne die Banken nicht pleitegehen lassen, weil dann die Sparer – und Wähler, versteht sich – ihr Geld verlieren. Doch wie unser Interviewpartner Richard Sulik (siehe [Smart Investor 12-2011]) richtig feststellt, wäre es viel billiger, die Spareinlagen der Bevölkerung zu retten als die Banken und ihre Gewinne. Dies muss auch gar nicht mit Steuergeldern, sondern kann durch eine 100%-Deckung der Spareinlagen mit Zentralbankgeld geschehen (als erstem, inflationsneutralem Schritt einer marktwirtschaftlichen Systemreform).

Zum anderen spukt in den Köpfen die jahrzehntelang eingehämmerte Ideologie herum, dass Wirtschaftswachstum vorfinanziert und angekurbelt werden müsse durch – aus dem Nichts geschöpften – Bankkredit. Abgesehen davon, dass dahinter ein völlig falscher Wachstumsbegriff steckt, der seinerseits im Dienste des Geschäftsmodells des Teilreservebankwesens steht, ist auch dieses Argument falsch. Erst eine Wirtschaft, in der nur investiert werden kann, was vorher real gespart wurde, wächst nachhaltig und krisenfrei. Aber dann könnten auch die Politiker ihre Wahlgeschenke (und Kriege) nicht mehr vorfinanzieren, was die böswilligen Systemretter nicht wollen. Auch die Politikblase steht und fällt mit dem Scheingeldsystem.

Smart Investor hat dieser kolossal wichtigen und dennoch aus der öffentlichen Debatte völlig ausgeblendeten Geldsystemfrage ein Sonderheft gewidmet, auf das daher an dieser Stelle verwiesen werden kann: „Gutes Geld – Wie Geld in die Welt kommt, woran das herrschende System krankt und was eine gesunde Geldordnung ausmacht.“ [5]

Scheinlösung der Interventionisten

Alles, was die Kapitalismuskritiker, die die Exzesse des Finanzsektors auf Marktversagen zurückführen, als Lösungsvorschläge anzubieten haben, und was die Politiker, die auf den unerschöpflichen Kredit des Scheingeldsystems nicht verzichten wollen, an Lösungen tatsächlich aufbieten, ist ein Herumkurieren an den Symptomen. Die Finanzbranche ist als Folge der Zulassung ungedeckten Geldes bereits eine der am stärksten regulierten Branchen überhaupt. Ja, die Institution der Zentralbank selbst, des „Lender of last resort“ (Kreditgeber letzter Instanz), ist als superregulatorische Maßnahme entstanden zur Verhinderung von Bankruns, die in einem System ungedeckten Geldes drohen. Bail-outs der Banken sind der Daseinsgrund der Zentralbanken. Doch alle Interventionen, wenn der Staat erst einmal damit angefangen hat, haben Verzerrungen und Kosten zur Folge, die immer neue Interventionen oder Regulierungen nach sich ziehen. Die jetzt geforderte Finanztransaktionssteuer würde die Interventionsspirale nur eine Windung weiter drehen.

Sogar eine (Teil-)Verstaatlichung der Banken, auf die es am Ende wegen Unterkapitalisierung und Kreditausfällen wahrscheinlich hinausläuft, ist ab einem gewissen Punkt als Alternative zum sonst unvermeidlichen Bankrott im Interesse der Bankmanager, die ja keine Eigentümerunternehmer sind. So war es schon einmal in der deutschen Bankenkrise vor genau 80 Jahren. 1931, unter Reichskanzler Brüning, wurden zur Abwendung eines Systemkollaps fast alle großen Geschäftsbanken verstaatlicht – und nach einer Weile wieder reprivatisiert. So kann’s kommen.

Systemfrage von links

Die einzige heute im Bundestag vertretene Partei, die in der Geldordnungsfrage annähernd so etwas wie einen Systemwechsel anstrebt, ist Die Linke. „Man kann im Rahmen des Grundgesetzes wunderbar den Kapitalismus überwinden – und mehr als das wollen wir auch nicht“, erklärte Sahra Wagenknecht einmal, die wohl klügste Abgeordnete der Linken, die übrigens zurzeit an einer volkswirtschaftlichen Dissertation arbeitet. Sie wurde gerade zur stellvertretenden Fraktionschefin gewählt und ist sogar als mögliche Parteivorsitzende im Gespräch. In ihrem neuesten Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ gibt sie zu erkennen, dass sie das herrschende System der Geldschöpfung aus dem Nichts durchaus verstanden hat; damit ist sie gedanklich weiter als die große Masse der Abgeordneten und Politiker. Sie beklagt, dass die Banken von der „Geldmaschine“, die man ihnen „geschenkt“ hat, exzessiven Gebrauch machen. Auch hat sie erkannt, dass dem Finanzmarkt ein wichtiges Prinzip fehlt, „das eine Voraussetzung für das Funktionieren von Märkten ist: das Prinzip der Haftung“.

Doch ihre Schlussfolgerung ist nicht, das System der Kreditgeldschöpfung aus dem Nichts abzuschaffen, sondern es stärker zu regulieren und die Banken auf ein definiertes Gemeinwohl zu verpflichten. Wie die Kreditversorgung der Wirtschaft politisch reguliert gesteuert werden soll, erklärt Frau Wagenknecht in einem Interview, das wir mit ihr führten (siehe [Smart Investor 12-2011]). Wenn man an dem Schuldgeldsystem grundsätzlich festhalten will, ist das eine konsistente Argumentation, die sogar das Zeug zum Mainstream hat. In ihrem gerade beschlossenen Grundsatzprogramm „Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte“ fordert Die Linke sogar eine Verstaatlichung der Großbanken. „Das europäische Banken- und Finanzsystem gehört dauerhaft unter gesellschaftliche Kontrolle“, heißt es dort. Was diese Position völlig verkennt, ist, dass die Interessenlage der politischen Klasse, aus der heraus sie den Banken das Teilreserveprivileg eingeräumt hat, auch dann noch besteht, wenn der Staat ganz allein am Drücker der Geldmaschine ist und sich selbst reguliert. Aber auch abgesehen davon, würde uns der Staatskapitalismus vom Regen in die Traufe führen, da die Geldschöpfung aus dem Nichts, egal in wessen Händen, das Signalsystem der Preise und die Marktwirtschaft zerstört; der Irrsinn, die Volkswirtschaft mit Geldpolitik steuern zu wollen, würde auf die Spitze getrieben. Ein Super-Geldmonopol beim Staat würde zudem die Haftung auf null reduzieren. Das ist kein Systemwechsel.

Freiheit statt Kapitalismus

Es ist ein intellektuelles Armutszeugnis, dass die Liberalen in Deutschland, genauer gesagt die als liberal geltenden Prominenten, die vom Staatsfernsehen in Talkshows eingeladen werden, nicht in der Lage sind, die mehr als berechtigte Kritik am herrschenden „Kapitalismus“ zu formulieren, und dass sie einer Sozialistin die Pointe „Freiheit statt Kapitalismus“ überlassen. (Über das Larifari der Parteiliberalen hat sich schon Ludwig von Mises beklagt.[6])

Auf der Suche nach einer differenzierenden Bezeichnung für das heutige System behelfen sich manche mit Begriffen wie „Casinokapitalismus“, „Finanzkapitalismus“ oder „Monopolkapitalismus“. Das ist terminologisch undurchdacht und schwammig. Um sich von der geldsystembedingten Herrschaft der Großbanken und Großunternehmen und ihrer Verfilzung mit der Politik zu distanzieren, ist es da schon besser, von Korporatismus zu sprechen. Eine besonders gelungene Wortschöpfung stammt von dem 2007 verstorbenen deutsch-amerikanischen Ökonomen und Vertreter der Österreichischen Schule der Ökonomik Hans Sennholz. Er nannte die Mainstream Economics, also die Ökonomik, die im real existierenden Kapitalismus herrschende Lehre ist, Inflationomics. Das trifft den Nagel auf den Kopf.

Das Problem der Probleme ist die Geldmengenvermehrung aus dünner Luft. Und im Zentrum dieses Geldsystems stehen die Zentralbanken, zwar nur als Büttel der privaten Banken, die das Geschäft der Kreditgeldschöpfung aus dem Nichts hauptsächlich betreiben, aber gerade deshalb auch als Symbol eben dieses Systems. Es wäre spitzfindig zu behaupten, das Zentralbankwesen gehöre nicht zum Kapitalismus, denn dann hätte man schon spätestens seit Gründung der Federal Reserve 1913 nicht mehr von Kapitalismus sprechen dürfen. Auch wird man von Milton Friedman wohl kaum behaupten können, er sei kein Kapitalist gewesen. Sein Name steht geradezu als Aushängeschild für den Kapitalismus, und auch er stand mit seinem Monetarismus für ein zentral gemanagtes Fiat Money. Deshalb sollten sich die wahren Marktwirtschaftler von dem Begriff Kapitalismus trennen.

Die Zentralbank muss weg

Das Konzept der zentralen Geldmengensteuerung gehört also auf den Müllhaufen der Geschichte. In Amerika gibt es eine Bewegung, die sich diese Forderung auf die Fahnen geschrieben hat. Nein, nicht die „Occupy Wall Street“-Bewegung, sondern die „Ron Paul Revolution“ oder, was die gleichen Leuten sind, die „End the Fed“-Bewegung. Ihre Hauptforderung lautet: Beendigung des Federal Reserve Systems und Rückkehr zu gesundem Geld. Seit 2007 brachte diese echte Graswurzelbewegung immer wieder Massen von Demonstranten auf die Straße, die gegen das Banken- und Geldsystem protestierten. Doch von den Medien wurde die Bewegung lange Zeit totgeschwiegen, ganz im Gegensatz zur Occupy-Wall-Street-Bewegung, die die Ron-Paul-Bewegung zwar in manchem nachahmt, aber dem Zentralbanksystem und der Schuldgeldordnung nicht am Zeug flickt. [7]

Ähnlich hierzulande. Die „Occupyer“ in Deutschland hatten noch nicht einmal eine Demonstration angemeldet, da bekamen sie schon viele Sendeminuten in den Nachrichten und Talkshows eingeräumt, in denen sie allerdings nur Unmut und Zorn artikulierten, aber keine substanzielle Kritik, die darauf schließen ließe, dass sie sich überhaupt einmal mit unserem Geldsystem und den Ursachen der Finanzkrise beschäftigt hätten. Diese substanzielle Diskussion findet in großem Umfang in alternativen Medien statt oder zum Beispiel auch auf Demonstrationen der bundesweit organisierten „Partei der Vernunft“, von der man in den Mainstream Medien bisher kaum etwas lesen konnte. Mit der medialen Aufmerksamkeit für die Occupyer wäre es schnell vorbei, wenn sie Schilder hoch hielten mit „End the ECB!“ und skandierten „Die Zentralbank muss weg!“. Wenn die Occupy-Bewegung mit der Einführung einer Tobin-Steuer endet, haben Banken, Schuldenstaat und globalistische Elite gewonnen; Hauptsache, es werden keine wirklich peinlichen Systemfragen gestellt.

Wie geht es weiter?

Doch besteht die Option überhaupt noch, das Schuldgeldsystem mit kosmetischen Korrekturen und ein wenig mehr Haushaltsdisziplin ungebrochen weiterzuführen? Nein. Ein „Herauswachsen“ aus der Schuldenkrise ist nicht mehr möglich. Ein Abbauen der Staatsschulden auch nicht. Die Fallhöhe wächst von Tag zu Tag, und das dicke Ende steht noch bevor. Das Schuldenbrett kann zwar vielleicht noch eine Weile weiter hinausgebaut werden, genau so lange nämlich, wie das Vertrauen der Bevölkerung ins Geld hält, aber zurückgebaut werden kann es nicht mehr, und irgendwann, wenn die Papiergeldillusion auffliegt – so etwas pflegt plötzlich zu geschehen –, muss das Brett abbrechen, mit großem Getöse.

Wäre denn ein Systemwechsel hin zur Marktwirtschaft auf geordnetem Wege noch möglich? Ist die Laissez-faire-Lösung politisch noch machbar? Was würde passieren, wenn man die Banken und sogar ganze Staaten pleitegehen ließe? Die Einlagen der Sparer ließen sich durch Reformschritte retten, aber die Erschütterungen wären natürlich enorm. Eine Implosion des riesig aufgeblähten Finanzsektors droht am Ende allerdings sowieso, siehe oben. Doch Politiker, die von einer Mehrheit gewählt werden wollen, werden es nicht wagen, die Banken nicht retten zu wollen. Zu viele gesellschaftliche Gruppen sind an der Aufrechterhaltung des Systems interessiert und wollen daran glauben, dass es irgendwie bruchlos weitergeht. Also wird die Geldillusion so lange genährt, wie es geht, und wenn es nicht mehr geht, wird sich schon ein äußerer Grund finden für den Kollaps des Systems und einen Währungsschnitt. – Wir brauchen eine Nachkriegszeit ohne Krieg. Aber die bittere Wahrheit ist: Einen Ludwig Erhard gibt es immer nur nach der Katastrophe.

Fazit

Wenn das heutige Wirtschaftssystem Kapitalismus ist, dann muss man Anti-Kapitalist sein. Der real existierende Kapitalismus hat mit Marktwirtschaft nicht mehr viel zu tun. Das Problem ist nicht Marktversagen, sondern sind, ganz im Gegenteil, zu viele Gesetze, Reglementierungen und Dekrete, die das Arbeiten des Marktes verhindern, insbesondere das ungedeckte staatliche Papiergeld und das Teilreserveprivileg der Kreditanstalten. Schuld sind weder nur die Banken noch nur der Staat, sondern die stillschweigende Allianz von beiden, von Finanzklerus und politischer Klasse, die das Schuldgeldsystem zum gegenseitigen Nutzen betreiben. Und die etablierten Medien spielen mit.

Gerade hat die Wochenzeitung „Die Zeit“ eine neue Artikelserie gestartet: „Was ist die Alternative zum Kapitalismus?“. Die Antwort ist sehr einfach. Marktwirtschaft und gedecktes Geld.

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Dieser Debattenbeitrag von Kristof Berking erschien als Titelgeschichte der Dezember-Ausgabe 2011 des Anlegermagazins Smart Investor. Den vollständigen Text mit den darin erwähnten Interviews, Infokästen etc. können Sie sich hier als PDF-Datei herunterladen.

Fußnoten:

[1] Zum Programm der ursprünglichen „Neoliberalen“ siehe Philip Plickert, „Wandlungen des Neoliberalismus: Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der ‚Mont Pèlerin Society’“, Lucius & Lucius, 2008.

[2] Der Wortlaut seiner damaligen Erklärungen ist zu finden auf www.paul.house.gov unter „Legislative Information“, „Speeches and Statements“, „September 10, 2003“ und „July 16, 2002“.

[3] Für eine ausführliche Analyse der Ursachen der Finanzkrise hören Sie den Vortrag „Papiergeld ruiniert die Welt – Die monetäre Planwirtschaft als Grundübel des real existierenden Kapitalismus“ von Kristof Berking vom Mai 2010, zu finden als Audiomitschnitt unter www.ifaam-institut.de/wissen/vortraege.

[4] Wenn es nach Jörg Asmussen und dem verantwortlichen Minister Peer Steinbrück gegangen und nicht vorher die Immobilienkrise dazwischen gekommen wäre, dann wären die Schrottpapiere auch als Anlage für Versicherungen und Pensionsfonds, also für die Altervorsorge, zugelassen worden; siehe Jörg Asmussens Aufsatz „Verbriefungen aus Sicht des Bundesfinanzministeriums“ aus dem Jahr 2006. – Erst hat Jörg Asmussen unter der Schröder-Regierung die Finanzkrise in Deutschland mit verursacht, dann wurde er unter der Merkel-Regierung hauptamtlicher Krisenbewältiger und Bankenretter. Allein diese eine Personalie zeigt, wo in der BRD der Hammer hängt; das Interesse der Banken ist die höchste Staatsraison.

[5] Die Smart Investor Sonderausgabe „Gutes Geld – Wie Geld in die Welt kommt, woran das herrschende System krankt und was eine gesunde Geldordnung ausmacht“ kann unter www.smartinvestor.de für 10 Euro bestellt werden. Hier das Inhaltsverzeichnis.

[6] Ludwig von Mises ließ sich über die seinerzeit die öffentliche Bühne beherrschenden nominellen Liberalen wie folgt aus: „Das Schlimmste, was jene Gruppen zuwege bringen, die unter dem irreführenden Namen des Liberalismus eine sogenannte Politik des goldenen Mittelwegs befürworten, ist ja gerade jene Verwirrung der Begriffe, der zufolge der Marktwirtschaft die Misserfolge des Interventionismus zulasten gelegt werden. Nichts ist darum heute mehr vonnöten als die Unterrichtung der öffentlichen Meinung über den grundlegenden Unterschied zwischen echtem Liberalismus, der die freie Marktwirtschaft befürwortet, und den verschiedenen interventionistischen Gruppen, die obrigkeitliche Eingriffe der verschiedensten Art befürworten, als da sind: Eingriffe in die Gestaltung der Preise und Löhne, Höhe des Zinssatzes, Gewinnspannen, Kapitalinvestierung, Steuern, die praktisch einer Kapitalenteignung gleichkommen, Schutzzölle und andere protektionistische Maßnahmen, riesige Staatsausgaben und schließlich Inflation.“ (Ludwig von Mises 1957 in „Die Wahrheit über den Interventionismus“, PDF-Version zu finden unter mises.de)

[7] Zur Geschichte der Ron-Paul-Bewegung siehe „Die Ron Paul Revolution“ von Kristof Berking in Smart Investor 02-2010. Die „Tea Parties“ waren ursprünglich eine Initiative der Ron-Paul-Anhänger, doch erst als dumpf-konservative Republikaner die Tea Parties parteipolitisch instrumentalisierten und das „End the Fed“-Anliegen von der Tagesordnung verdrängten, wurde für die etablierten Medien eine Bewegung daraus, über die man berichten mochte. Mit der Tea-Party-Bewegung und der Occupy-Wall-Street-Bewegung sind jetzt zwei Protestbewegungen konfektioniert, die in das etablierte Parteienschema passen und dialektisch die Agenda der globalistischen Eliten vorantreiben. Zufall?

 

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