Echte und falsche Solidarität

22.3.2013 – von Gerd Habermann.

Gerd Habermann

Solidarität ist ein Lieblingswort der Politik und von hohem moralischem Klang. Die Frage ist freilich, wer mit wem aus welchem Grund und mit welchen Mitteln und welcher Zielsetzung solidarisch zu sein hat. Das Wort bedeutet zunächst, dass man in einer Gemeinschaft/Gruppe füreinander einzutreten hat, sei es wegen gegenseitiger Abhängigkeit, sei es aus Mitgefühl für die Hilfsbedürftigen oder „Schwachen“, sei es aus Überlebensinteressen einer Gruppe, z. B. bei den Imperativen der Staatsräson oder in der militärischen Kameradschaft. Das Urbild ist die kleinste Gemeinschaft, die Familie, wo das „Einer für alle“ und umgekehrt sich von selber versteht. Hier herrscht die Ethik des urgemeinschaftlichen Teilens. Diese Ethik erweitert sich dann auf die größeren Gemeinschaften: Sippen und Clans, Nachbarschaften, Freundschaften, Kommunen, die freien Assoziationen und religiösen Gemeinschaften, die Nation, die Staatenverbände usw., wobei sich der Verpflichtungsgehalt und Identifikation ständig verdünnt. Zunächst ist jeder für den von ihm allein übersehenen engeren Kreis mitverantwortlich und zuständig in gegenseitiger Hilfe – für „die Menschheit“ bleibt da am Ende materiell und zeitlich wenig übrig, außer sie ist insgesamt existentiell bedroht. Solidarität ist begrifflich der säkularisierte Nachfolger der universalen christlichen Nächstenliebe und der republikanischen Brüderlichkeit, wie z. B. bei Nationen oder „Eidgenossen“. Auch Räuberbanden und Mafianetze beruhen auf Solidarität, allerdings zu zweifellos unmoralischen Zielen. Eine moralische Kategorie ist Solidarität nur, wenn sie freiwillig ist: erzwungenes Handeln („Und willst du nicht mein Bruder sein..“) ist moralisch wertlos. Eine Art natürliche Solidarität durch gegenseitigen Tausch und Arbeitsteilung erzeugt auch die Marktwirtschaft: die wechselseitigen persönlichen Interessen verknüpfen sich zum Gesamtinteresse an der Erhaltung einer Ordnung, die das vitale Selbstinteresse beflügelt, aber an Regeln bindet. Von hohem moralischem Wert sind auch die Aktionen freier kollektiver Selbsthilfe: die Privatversicherungen, Genossenschaften, Stiftungen und Berufsverbände, die ökonomische oder soziale Probleme ihrer Mitglieder lösen helfen.

Anders sieht es beim zeitgenössischen Wohlfahrtsstaat aus: hier wird, vermittelt durch die politische Klasse, Solidarität zu einem Kampfmittel der Majorität der Wenigerhabenden oder weniger Erfolgreichen gegen die Minderheit der Mehrhabenden oder Erfolgreichen, z. B. über Steuern und Sozialabgaben, also über zwangsweise Umverteilung: eine legalisierte Wegnahme, auch „soziale Gerechtigkeit“ genannt, mit dem jakobinischen Endziel faktischer Gleichheit , statt bloßer liberaler Gleichheit vor dem Gesetz: von der Gleichberechtigung geht es hier weiter zur sozialistischen Gleichmachung oder –„stellung“. Auch wird damit die spontane Initiative der kleineren sozialen Kreise ausgehöhlt und die Gesellschaft insgesamt demoralisiert, mag dieser Enteignungsvorgang auch „soziale Grundrechte“ genannt werden. Mit Christentum haben diese nichts zu tun: Christus hat die moralische Pflicht zu geben, nicht das Recht, beim Nächsten zuzugreifen gelehrt. Der italienische Soziologe Pareto schrieb einmal zutreffend: „Die Solidarität dient den Leuten, die von der Arbeit anderer profitieren wollen, den Politikern, die das Bedürfnis empfinden, sich auf Kosten der Steuerzahler Anhänger zu suchen: es ist einfach ein neuer Name, dem man einer Art von höchst ungesundem Egoismus gegeben hat.“

Hier wird Erfolg bestraft, Misserfolg prämiert. Jede Steuererhöhung wird als Abzahlung einer imaginären „sozialen Schuld“ legitimiert. Besonders bedenklich ist diese Pseudoethik auf der Ebene der Euro-Zone, wo ganze Völker auf Kosten anderer leben wollen. Dies kann nur im Fiasko enden. Gleichwohl: zur Selbsterhaltung in existentiellen Notsituationen werden auch Staaten und Völker, die das moralische Gesetz achten, zu Zwangsmitteln greifen müssen. Aus diesem Grund wird die staatliche „Solidargemeinschaft“ auch für individuelle Not nach den Regeln des Subsidiaritätsprinzips ein „soziales“ Minimum für jeden bereithalten. Freie soziale Eigeninitiative aus Humanität oder christlicher Nächstenliebe bleibt trotzdem das moralisch Höherstehende. Eine gut funktionierende Marktwirtschaft aber wird nicht nur diese Not kleinhalten, sondern auch immer genügend Mittel zu ihrer Überwindung zur Verfügung haben, im Unterschied zum selbstzerstörerischen „solidarischen“ Wohlfahrtsstaat. Alle gleichmachen zu wollen schließt das Risiko einer gleichen „solidarischen“ Armut für alle ein.

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Gerd Habermann ist liberaler Wirtschaftsphilosoph und Publizist. Er ist Initiator und Sekretär der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und Vorstandsvorsitzender der Friedrich A. von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft, ferner Honorarprofessor an der Universität Potsdam und ordnungspolitischer Berater der Familienunternehmer – ASU, deren Unternehmerinstitut er bis 2010 geleitet hat. Gerd Habermann ist Mitglied der Mont Pelerin Society und Autor von über 400 Publikationen – darunter: Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwegs (3. Aufl. in Vorbereitung), Philospohie der Freiheit – ein Friedrich August von Hayek-Brevier (4. Aufl. 2005) und Mitherausgeber des Bandes “Der Liberalismus – eine zeitlose Idee”. Er ist ferner regelmäßig Autor in der Neuen Zürcher Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Welt.

 

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