Geldhorte und die finanzielle Arbeitsteilung

28.6.2013 – von Jörg Guido Hülsmann.

Jörg Guido Hülsmann

Einer der wichtigsten Mängel der heutigen Literatur über die Rolle der Finanzmärkte ist in einer recht plausiblen Annahme verwurzelt, die sich scheinbar von selbst versteht und daher in der Regel auch nur stillschweigend getroffen wird. Dieser Annahme zufolge kann eine Zusammenarbeit zwischen Sparern und Ersparnisverwendern nur durch bewusste Tauschakte zustande kommen. Mit anderen Worten gibt es ohne Finanzmärkte (nicht unbedingt im engeren Sinne von Finanzintermediären und Wertpapierbörsen, aber doch im allgemeinen Sinne eines Tausches von Zahlungsversprechen) überhaupt keine Möglichkeit, die Ersparnisse einer Person A zu nutzen, um die Projekte einer anderen Person B zu finanzieren.

Die Folgen dieser Annahme sind sehr weitreichend. Insbesondere liegt auf der Hand, dass Sparen in der Form von Geldhorten dann als eine sterile Form des Sparens erscheinen müsste. Der hortende Sparer stellt sozusagen sein Schäfchen ins Trockene, aber dieses Tierchen nützt nur ihm allein. Dabei gebraucht er es vielleicht noch nicht einmal selber, um Jungtiere heranzuzüchten oder um Milch und Wolle zu gewinnen. Massives Horten ist für andere Menschen zwar nicht unbedingt schädlich, aber es ist jedenfalls auch nicht gut für sie. Daraus könnte man den weiteren Schluss ableiten, dass Sparen aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht in allen Fällen begrüßenswert ist, sondern nur dann, wenn die gesparten Summen auch anderen zur Verfügung gestellt werden.

In diesem Licht besehen wären Finanzmärkte eine geradezu unentbehrliche Einrichtung. Denn sie sind es ja gerade, die Sparer und Ersparnisverwender zusammenbringen. Mehr noch: Nur sie bringen sie zusammen. Ohne Finanzmärkte blieben in der Tat nur drei Alternativen zur Verwendung eines Geldeinkommens: Kauf von Konsumgütern, Investition im eigenen Betrieb und Horten. Aber nicht jeder ist zum Unternehmer gemacht. Für die allermeisten Menschen würde die Alternative folglich lauten: Konsum oder Horten. Ohne Finanzmärkte müsste die Realwirtschaft auf niedrigem Niveau dahindümpeln. Nur unternehmerisch gesinnte Leute könnten ihre Ersparnisse investiv verwenden. Die Ersparnisse der großen Masse der Bevölkerung wären zur Unfruchtbarkeit verdammt. Nur aus ihren Konsumausgaben könnten andere Menschen irgendeinen direkten Nutzen ziehen.

Diese Sicht der Dinge liegt fast allen heutigen Schriften über Finanzmärkte zugrunde. Gerade auch die Fachleute sind überzeugt, dass Finanzmärkte geradezu unentbehrlich sind und dass ohne sie die gesamtwirtschaftliche Produktion sehr viel geringer wäre. Der einzige Wermutstropfen liege in ihrer konjunkturellen Anfälligkeit. Es komme hier sehr häufig zu einer fieberhaften Blasenwirtschaft und zu konjunkturellen Einbrüchen. Aber diesen Auswüchsen müsse eben durch staatliche Regulierungen ein Riegel vorgeschoben werden, und im Übrigen müsse man sie mit Geld- und Fiskalpolitik bekämpfen.

Der Grundirrtum dieser Auffassung liegt in ihrem Ausgangspunkt, nämlich in der besagten Annahme, dass es ohne Finanzmärkte keine Zusammenarbeit zwischen Sparern und Ersparnisverwendern gibt und geben kann. Diese Annahme hat eine gewisse Berechtigung im Falle einer Naturalwirtschaft – d. h. in Fällen wie dem oben genannten Schaf-Beispiel. Aber sie ist völlig unzutreffend im Fall der Geldwirtschaft. Das Horten von Geld hat ganz andere gesellschaftliche Auswirkungen als das Horten irgendwelcher nichtmonetären Güter.

Das liegt daran, dass Geldhorten tendenziell zu einem sinkenden Preisniveau führt. Es wirkt preisdeflationär. Wer mehr Geld horten will, muss entweder sein Einkommen erhöhen oder seine Ausgaben verringern. In beiden Fällen führt sein Handeln zu sinkenden Preisen. Betrachten wir den Fall verringerter Ausgaben. Die betreffende Person gibt an irgendeiner Stelle weniger Geld aus als zuvor. Die Nachfrage nach den jeweiligen Gütern fällt also bei dem Preisniveau, das sich ohne das Horten eingestellt hätte, hinter das Angebot zurück. Somit ergibt sich ein Druck auf die Preise dieser Güter. Die Einkommen der Verkäufer werden ihrerseits sinken, und somit sinken auch ihre weiteren Geldausgaben usw.

Wir haben bereits dargelegt, dass man von dieser Tatsache nicht zu der Schlussfolgerung springen sollte, dass nun die Produktion in mehr oder weniger großem Umfang lahmgelegt wird. Geldhorten führt zu einer allgemeinen Preisdeflation. Nicht nur die Produktpreise sinken, sondern auch die Preise der Produktionsfaktoren, d. h. die Kosten. Wenn die Kosten im gleichen Umfang wie die Produktpreise sinken, so bleibt der reale Produktionsumfang völlig unberührt. Natürlich kommt es praktisch nie zu einem völlig gleichmäßigen Absinken der Preise. In vielen Fällen sinken die Produktpreise stärker als die Kosten, und dann wird die Produktion der betreffenden Güter in der Tat zurückgefahren. Aber ebenso kommt es vor, dass die Kosten in einer Preisdeflation stärker als die Produktpreise sinken. Die Produktion dieser Güter wird dann eben erweitert. Insgesamt gesehen lässt sich somit sagen, dass eine Preisdeflation in keinem systematischen Zusammenhang mit dem realen Produktionsumfang steht.

Der springende Punkt ist vielmehr der folgende: Die durch das Horten hervorgerufene Preisdeflation erhöht die Kaufkraft des Geldes. Genauer gesagt erhöht sie die Kaufkraft all derjenigen Geldeinheiten, die nicht gehortet, sondern weiterhin verausgabt werden. Der Sparer, der sein Geld hortet, stärkt somit die Kaufkraft aller anderen Marktteilnehmer. Er verzichtet auf den Kauf von Konsumgütern, Produktionsfaktoren und Finanzprodukten. Aber andere Personen können nun mehr von diesen Gütern erwerben, obwohl ihre eigenen Einkommen nicht gestiegen sind. Um eine Analogie aus der Politik zu bemühen: Wer sich bei einer Wahl enthält, verhindert keineswegs, dass irgendein Kandidat gewählt wird. Seine Enthaltung vergrößert lediglich das relative Gewicht aller anderen Stimmen.[1]

Geldhorten führt dazu, dass die produzierten Güter von anderen Menschen gekauft werden als von denen, die sie ohne das Horten gekauft hätten. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass Geldhorten aus gesamtwirtschaftlicher Sicht genau die gleiche Funktion hat wie die Finanzmärkte. Finanzmärkte bringen Sparer und Ersparnisverwender zusammen. Wenn der Herr Schmidt dem Herrn Müller 100.000 Euro leiht, dann kann Müller für diesen Betrag entsprechend mehr Konsumgüter kaufen oder Wertpapiere oder irgendwelche anderen Güter. Genau das Gleiche geschieht letztlich aber auch unter dem Einfluss des Hortens von Geld. Wenn Schmidt 100.000 Euro weniger ausgibt, als er es sonst getan hätte, und diesen Betrag in seiner persönlichen Kasse belässt, so sinken die Preise der verschiedenen Güter, die er sonst gekauft hätte. Dadurch können nun andere Leute – u. a. vielleicht auch Müller – mehr Konsumgüter, Produktionsfaktoren und Wertpapiere kaufen.

Die eigentlichen Unterschiede zwischen Sparen per Geldhorten und Sparen per Finanzmarkt liegen in ganz anderen Umständen begründet. Insbesondere kommen hier die zwei folgenden, zusammenhängenden Tatsachen in Betracht.

Erstens können die Ersparnisverwender – d. h. die unmittelbaren Nutznießer der Sparleistung – durch die Finanzmärkte genau ausgewählt werden. Wenn Schmidt hortet, hat er keinen Einfluss darauf, welche Personen aus seiner Sparleistung einen unmittelbaren Nutzen ziehen.[2] Das hängt davon ab, in welchem Umfang sich welche Preise nun verringern werden und wie groß die Nachfrage nach den betreffenden Gütern dann ist. Dabei kommen die Werturteile aller möglichen Leute ins Spiel, auf die Schmidt nicht den geringsten Einfluss hat. Die letztlichen Nutznießer seiner Sparleistung liegen somit im Dunkeln. Dieses unbestimmte Ergebnis kann er vermeiden, indem er sein gespartes Geld dieser oder jener konkreten Person anvertraut. Aber dann hortet er eben nicht, sondern kauft ein Zahlungsversprechen. Das Finanzgeschäft konzentriert somit die Nutzwirkung des Sparens in wenigen Händen. Anders gesagt: Durch Horten wird die Sparleistung vergemeinschaftet, durch die Finanzmärkte wird sie privatisiert.

Zweitens kann der Sparer gewöhnlich eine Entlohnung für seine Sparleistung erwarten. Wenn er hortet, behält er bestenfalls den ursprünglichen Betrag – bestenfalls, denn auch hier bestehen gewisse Verlustrisiken durch Naturkatastrophen, Diebstahl und Raub bzw. durch Steuern und Konfiskation. Wenn er dagegen seine Ersparnisse weiterreicht, werden ihm die Empfänger üblicherweise gewisse Zahlungen über die ursprüngliche Summe hinaus in Aussicht stellen. Ein Kreditnehmer verspricht in der Regel die Rückerstattung des geliehenen Betrages zuzüglich einer Zins genannten Entlohnung. Eine Firma, die Aktien ausgibt, wirbt mit ihren guten Geschäftsaussichten, sodass die Käufer auf zukünftige Dividenden hoffen können oder auch auf einen zukünftig höheren Verkaufspreis der Aktien.

Diese Unterschiede sind wichtig, und wir werden sie noch gebührend hervorheben. Aber auch sie führen nicht an der Tatsache vorbei, dass Sparen per Geldhorten die gleiche gesamtwirtschaftliche Funktion erfüllt wie Sparen per Finanzmarkt. In beiden Fällen kommt es zur Zusammenarbeit von Sparern und Ersparnisverwendern. In dieser Hinsicht besteht zwischen ihnen kein Unterschied.[3] Im Falle des Geldhortens ist diese Zusammenarbeit allerdings wahllos, und die Nutzwirkung der Ersparnisse wird auf so zahlreiche Personen verteilt, dass sie sich im Einzelfall kaum bemerkbar macht. Dagegen kommt jene Zusammenarbeit im Fall der Finanzinvestition selektiv zustande. Die Verwendung der Ersparnisse wird somit auf wenige Nutznießer konzentriert und bringt dort deutlich erkennbare Früchte hervor.

Es kann auch mehr oder weniger bedeutsame mengenmäßige Unterschiede geben. Es ist möglich, dass die absichtsvolle Zusammenarbeit per Finanzmarkt zu besseren Ergebnissen als das Horten führt. Unter bestimmten Bedingungen ist dies sogar wahrscheinlich. Das ist nicht zuletzt die Hoffnung all derer, die auf den Finanzmärkten tätig sind, und mit dieser Hoffnung werben sie auch um Kunden. Aber Möglichkeit bedeutet eben nicht Notwendigkeit. Es ist nämlich ebenfalls möglich, dass die Finanzmärkte schlechtere Ergebnisse als das Horten zeitigen; und unter den heutigen Bedingungen könnte das durchaus der Fall sein.

aus: “Krise der Inflationskultur” (Finanzbuchverlag) von Jörg Guido Hülsmann, S. 63 – 68.

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[1] Analogien zwischen marktwirtschaftlichen und demokratischen Prozessen haben eine lange Tradition in der ökonomischen Analyse. Vgl. F. Fetter, Principles of Economics (New York: The Century Co., 1905), S. 395; L. v. Mises, Die Bürokratie (Sankt Augustin: Academia, 1997), Kap. 1.

[2] Das trifft allerdings auch dann zu, wenn die Sparverwendung an Finanzintermediäre weitergeleitet wird. Auch in diesem Fall hat der ursprüngliche Sparer in der Regel keinen Einfluss auf die letztliche Verwendung seines Geldes. Nur der Mittelsmann wählt die unmittelbaren Nutznießer aus.

[3] Fritz Machlups Untersuchung der Finanzmärkte ist von Grund auf verfehlt, weil der Autor diesen zentralen Punkt nicht gebührend gewürdigt hat. Vor allem in der zweiten Auflage seines einflussreichen Werkes ist das überdeutlich. Machlup schrieb hier sehr richtig: »The reduction of consumption by the saver leads, when it is not accompanied by corresponding investment, and when factor prices are rigid, to a curtailment of production and to unemployment.« (The Stock Market, Credit, and Capital Formation, S. 26 f.) Aber dann setzt er fort, als ob er lediglich die logische Folge aus der soeben gemachten Feststellung ziehen würde: »A process of capital formation is set in motion only if the income which is not consumed is used for production.« (S. 27; unsere Hervorhebung) Diese Argumentation setzt voraus, dass die starren Faktorpreise bzw. die Produktionskosten eine vom menschlichen Willen unabhängige Gegebenheit sind. Machlup verkennt völlig, dass gerade das Horten die Faktorpreise aus ihrer Erstarrung herauszwingt. Gerade in einer Rezession (wie in den 1930er-Jahren und wie auch heute wieder) kann vermehrtes Geldhorten die dringend erforderliche Kostensenkung erzwingen und somit den Gesundungsprozess beschleunigen. Vgl. Strigl, »Währungspolitik in der Krise«, Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers, Bd. XIII, Nr. 11/12 (1931), S. 299-305; Rothbard, Man, Economy, and State, a. a. O., S. 863-866; ders., America’s Great Depression (4. Aufl., New York: Richardson & Snyder, 1983), S. 22-24; P. Bagus, Deflation – Is it Really Harmful? (Diss. Universidad Key Juan Carlos, 2008), S. 63-92. Geldhorten spielt eine sehr viel größere Rolle für die Koordination der Marktteilnehmer als es selbst in der klassischen Ökonomie und auch in den Arbeiten von Böhm-Bawerk, Mises, Rothbard und den neueren »Österreichern« zum Ausdruck kommt. Erst in jüngerer Zeit gab es erste Anfänge zur Erforschung dieser Rolle. Vgl. J. G. Hülsmann, »The Demand for Money and the Time Structure of Production«, Hülsmann and Kinsella (eds), Property, Freedom, and Society: Festschrift for Hans-Hermann Hoppe (Auburn, Ala.: Mises Institute, 2009); D. Mahoney, »Free Banking and the Structure of Production: A Contrast of Competing Banking Systems,« Libertarian Papers 3,14 (2011). Philipp Bagus zufolge hat auch J. R. Rallo diesen Gedanken in den Mittelpunkt seiner Kritik der keynesianischen Lehre gestellt. Vgl. Rallo, Los errores de la vieja economia (Madrid: Union Editorial, 2012).

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Jörg Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich und Autor von «Ethik der Geldproduktion» (2007) und «Mises. The Last Knight of Liberalism» (2007). Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des “Ludwig von Mises Institut Deutschland”.

Seine Website ist guidohulsmann.com

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