Handeln und unbewusste Reaktion
29.5.2013 – Für Ludwig von Mises (1881 – 1973) ist die Volkswirtschaftslehre ein Teilbereich der Lehre des menschlichen Handelns, der Praxeologie. Kernelement der Praxeologie ist das Axiom des menschlichen Handelns. Dieses Axiom ist unbestreitbar wahr: Man kann es nicht verneinen, dass der Mensch handelt, ohne in einen logischen Widerspruch zu verfallen; es ist a priori. Aus dem Axiom des menschlichen Handelns lässt sich eine Vielzahl von Erkenntnissen (logisch-deduktiv) ableiten. Nachfolgend ein Auszug aus Mises‘ Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940), in dem Mises erläutert, was unter dem menschlichen Handeln genau zu verstehen ist.
Thorsten Polleit
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Handeln und unbewusste Reaktion
Handeln ist bewusstes Verhalten. Wir können auch sagen: Handeln ist Wollen, das sich in Tat und Wirken umsetzt und damit verwirklicht, ist ziel- und zweckbewusstes Sichbenehmen, ist sinnhafte Antwort des Subjekts — der menschlichen Persönlichkeit — auf die Gegebenheit der Welt und des Lebens. Mit diesen und ähnlichen Umschreibungen können wir die an den Anfang unserer Untersuchung gestellte Begriffsbestimmung verdeutlichen und vor manchen Missverständnissen bewahren. Doch alles, was wir zu sagen haben, ist in unserer Begriffsbestimmung schon enthalten, und, was wir zunächst zu tun haben, ist, aus diesem unserem Begriffe des Handelns alles das zu entfalten, was in ihm enthalten ist, und klar zu machen, was er nicht umschließt.
Bewusstes Verhalten hebt sich scharf ab vom unbewussten Verhalten, von den Reflexvorgängen und der Reaktion der Zellen auf Reize. Man ist geneigt anzunehmen, dass die Grenze zwischen bewusstem Verhalten der menschlichen Persönlichkeit und unbewusstem Reagieren eines im Menschen wirkenden Es fließend sei. Das ist nur soweit richtig, als es mitunter nicht leicht sein mag, festzustellen, ob ein konkretes Verhalten als bewusstes oder als unbewusstes anzusprechen ist. Doch die Scheidung von Bewusst und Unbewusst ist nichtsdestoweniger scharf und kann klar vollzogen werden.
Das unbewusste Verhalten der Zellen des Körpers und der Reflexzentren ist für das bewusste Verhalten gerade so ein Datum wie irgend eine andere Tatsache der Außenwelt. Wie der handelnde Mensch mit dem Wetter rechnen muss, so muss er auch mit dem rechnen, was in seinem Leib vor sich geht. Auch das Leibliche des eigenen Leibs ist ein Datum, das der Handelnde im Handeln hinnehmen muss. Es gibt freilich einen Spielraum, innerhalb dessen das bewusste Verhalten das Leibliche auszuschalten vermag. Man kann des Leiblichen bis zu einem gewissen Grade Herr werden, man kann z.B. Krankheit und Krankheitswirkungen überwinden oder Unzulänglichkeit der leiblichen Ausstattung wettmachen oder Reflexbewegungen unterdrücken. Soweit man das kann, reicht dann aber auch das Feld des bewussten Verhaltens. Wenn das bewusste Verhalten das unbewusste Reagieren der Zellen und Reflexzentren, das es ausschalten könnte, nicht ausschaltet, liegt für unsere Betrachtungsweise bewusstes Verhalten vor.
Unsere Betrachtungen sind allein auf das Handeln gerichtet und nicht auf die seelischen Vorgänge, die zum Handeln führen. Das eben trennt die allgemeine Lehre vom Handeln, die Praxeologie, von der Psychologie. Gegenstand der Psychologie sind die Vorgänge in unserem Innern, die zu einem bestimmten Handeln führen oder führen können; Gegenstand unserer Wissenschaft ist das Handeln selbst. Damit ist auch unser Verhältnis zum psychoanalytischen Begriff des Unbewussten gegeben. Auch die Psychoanalyse ist Psychologie, und ihre Aufmerksamkeit gilt nicht dem Handeln, sondern dem, was im menschlichen Innern zum Handeln treibt. Das Unbewusste, von dem sie spricht, ist eine psychologische und keine praxeologische Kategorie. Ob der Beweggrund, der das Handeln auslöst, aus der bewussten Überlegung stammt oder aus dem Verdrängten und Unbewussten, das aus einer Versenkung heraus dem Handeln Ziele weist, die der bewussten Überlegung fremd sind, ändert nichts am Wesen des Handelns. Auch der Mörder, den das ihm unbewusste Es zur Tat treibt, und der Neurotiker, der Zwangshandlungen vornimmt, die dem ungeschulten Beobachter «sinnlos» vorkommen, handeln; sie streben Zielen zu wie jeder andere. Es ist das Verdienst der Freud’schen Psychoanalyse, gezeigt zu haben, dass auch dem Verhalten der Neurotiker und Psychopathen Sinn zukommt, dass auch sie handeln und Ziele suchen, mögen auch uns anderen, die wir uns Gesunde nennen, die Gedankengänge, die sie zu ihrer Zielsetzung führten, unlogisch und die Wahl der Mittel, die sie getroffen haben, unzweckmäßig erscheinen.
Das Unbewusste im psychoanalytischen Sinn und das Unbewusste im praxeologischen Sinn gehören zwei verschiedenen Gedankensystemen an und haben nichts gemein als den sprachlichen Ausdruck; sie sind nur homonym. Auch die Wissenschaft vom Handeln verdankt — wie alle Wissenschaften vom Menschen — sehr viel der Psychoanalyse; um so wichtiger ist es darum, die Grenze zu erkennen, die sie vom Gebiet der psychoanalytischen Betrachtung scheidet.
Handeln ist nicht etwa einfaches Vorziehen und Bevorzugen. Vorziehen und Bevorzugen übt der Mensch auch dort, wo zwei Dinge, die er seinem Einfluss entzogen glaubt, unentrinnbar sind. So kann man Sonnenschein dem Regen vorziehen und hoffen, dass die Sonne erscheinen möge. Wer nur wünscht und hofft, greift in das Getriebe der Welt und in die Gestaltung seines Lebens nicht selbsttätig ein. Anders der Handelnde. Er wählt und entscheidet. Von zwei unvereinbaren Dingen nimmt er das eine und lässt sich das andere entgehen. Jedes Handeln ist daher zugleich ein Nehmen und ein Verzichten.
Das Aussprechen von Wünschen und Hoffnungen, die Ankündigung geplanten Handelns und die Fassung von Entschlüssen, zu deren Durchführung man nicht schreitet, sind zwar Handeln, insoweit durch sie selbst ein Zweck verwirklicht werden soll; sie sind jedoch von dem Handeln, das sie ankündigen, empfehlen oder verwerfen, verschieden. Handeln ist ein Verhalten; der ganze Mensch muss die entsprechende Haltung einnehmen. Das Verhalten und nicht die unausgeführte Absicht über ein Verhalten ist das, worauf es ankommt. Man muss aber anderseits wieder das Handeln von dem Einsatz von Arbeit unterscheiden. Das Handeln setzt Mittel für die Erreichung von Zwecken ein. Zu diesen Mitteln wird meist auch die Aufwendung eigener Arbeit gehören. Doch das ist durchaus nicht immer der Fall. Unter bestimmten Bedingungen genügt das Wort. Wer dem Wagenlenker das Ziel angibt, wer Befehle und Weisungen erteilt, handelt auch ohne die geringste Aufwendung eigener Arbeit. Sprechen und Schweigen, ja mitunter schon Lächeln oder Ernstbewahren können Handeln sein. Verzehren und genießen sind ebenso Handeln wie die Enthaltung von Verzehr und Genuss, die sich dem Handelnden bieten. Auch das Nichtstun und das Nichtarbeiten, auch das Unterlassen und das Dulden sind Handeln.
Für die Lehre vom Handeln gibt es denn auch nicht den Unterschied zwischen «aktiven» und «passiven» oder «indolenten» Menschen. Der rührige Mensch, der tätig sein Schicksal selbst zu bereiten sucht, handelt nicht mehr als der schlaffe Mensch, der die Dinge nimmt, wie sie kommen. Denn auch das Nichtstun und die Faulheit sind Handeln, sind Entscheidung und Gestaltung des Geschehens. Wo die Bedingungen des Handelns gegeben sind, handelt der Mensch immer, ob er nun eingreift oder untätig bleibt. Dem Handeln kann der Mensch nie und nirgends entrinnen; Handeln liegt in der Natur des Menschen und seiner Welt, und Handeln müssen ist dem Menschen durch die Bedingungen, unter denen er lebt, vorgeschrieben.
Der Mensch ist, weil er ein denkendes Lebewesen ist, auch ein handelndes Geschöpf. Denken und Handeln sind nicht zu trennen; menschenähnliche Geschöpfe, die nicht denken und handeln, wären keine Menschen.
Ludwig von Mises (1940), Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Edition Union Genf, Erster Teil, Das Handeln, S. 11 – 14.