Die Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft setzt eine Erneuerung der Marktwirtschaft voraus
17.10.2012 – von Michael von Prollius.
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst! Mitten in der internationalen Finanzkrise und der allgegenwärtigen Konzentration auf das, was der Staat tun kann und nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte auch tatsächlich zu tun wagt, ist die Rückbesinnung auf die Determinanten der Sozialen Marktwirtschaft ein wichtiger erster Schritt. Nachdem das Erbe ihrer Gründerväter bereits leichtfertig verspielt wurde, gilt es nun, sich ihre Erfolgsprinzipien zu vergegenwärtigen. Eine Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft setzt eine Erneuerung der Marktwirtschaft voraus. Die Soziale Marktwirtschaft benötigt heute mehr denn je Prinzipien für die tägliche Ausgestaltung. Diese Prinzipien, so schwer viele von uns sich auch damit tun, greifen auf die lange Tradition zurück, die klassisch Liberale wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek sowie Neoliberale wie Ludwig Erhard, Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow zur Überwindung des großen Dilemmas in der Mitte des 20. Jahrhunderts wiederbelebt haben. Es geht um die abendländischen Prinzipien der Freiheit unter dem Recht, die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und die freiwillige Solidarität. Sie bilden den Kern einer freien Gesellschaft, deren vornehmster Ausdruck die freie, durch den Staat gesicherte Marktwirtschaft ist. Diese Prinzipien wurden geschleift und ausgehöhlt. Umso mehr bleiben sie die unabdingbare Voraussetzung für das einzige zukunftsfähige sozial-ökonomische Konzept: die Marktwirtschaft.
Eine funktionsfähige Marktwirtschaft ist die Voraussetzung für Demokratie, politische Freiheit und alle übrigen Freiheiten, darunter Presse-, Meinungs- und Berufsfreiheit. Die Legitimationskrise der Marktwirtschaft resultiert aus einer Legitimationskrise der Politik. Es ist die Politik, die schrittweise, teils bewusst, teils unbewusst eine Popularitätskrise der Marktwirtschaft hervorgerufen hat. Zugleich liegt eine Revitalisierung der Marktwirtschaft im ureigenen Interesse der Politik, die nur durch sie ihre Legitimität steigern kann. Die Marktwirtschaft löst die drei zentralen Herausforderungen vergangener wie aktueller Politik: die Möglichkeit der Bevölkerung zum Widerstehen durch „Exit“, „Voice“ und „Loyalty“, also Abwanderung, Widerrede und Aufkündigung des Gehorsams. Bilder der deutschen Geschichte vom Herbst 1989 belegen das eindrucksvoll.
Die Marktwirtschaft ist die Antwort auf die Leitfrage der Ordoliberalen, die sie im ersten Satz im ersten Ordoband wie folgt formuliert haben: „Wie muß die Wirtschafts- und Sozialordnung beschaffen sein, in der sich ein menschenwürdiges und wirtschaftlich erfolgreiches Leben entwickeln kann?“ Es gilt, sich wieder die Mahnung der (Neo-)Liberalen zu vergegenwärtigen, dass es keinen Wert losgelöst vom Menschen gibt – nicht Nation, Klasse, Rasse, Wohlfahrt oder Umwelt. Kollektive Entscheidungen müssen sich immer wieder auf den Einzelnen zurückführen lassen. Der Staat ist nicht sozialer und seine Repräsentanten handeln nicht sozial gerechter als die übrigen Menschen.
Was die Gründerväter nicht wollten, was sie stets abgelehnt und bekämpft haben, ist der demokratische Wohlfahrtsstaat. Dieser bereits zu ihrer Zeit sichtbar gescheiterte Irrweg ist mit der Sozialen Marktwirtschaft unvereinbar. Alles Hadern hilft nichts, denn sonst wird die Anekdote über den Besuch einer asiatischen Wirtschaftsdelegation in einer DDR-Chipfabrik auch bei uns Wirklichkeit. Auf die Frage, wie es ihnen gefallen habe, sollen die Gäste geantwortet haben: gut. Sie hätten noch nie ein derart belebtes Museum gesehen.
Den Schlüssel zur Rückkehr zur Sozialen Marktwirtschaft bildet die Ordnungspolitik. Derzeit spielt Ordnungspolitik in Deutschland nicht nur keine Rolle mehr. Der Begriff dient im Gegenteil heute dazu (sofern er überhaupt einmal verwendet wird), neue Eingriffe und Regulierungen zu begründen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls der Politikwissenschaftler Hans Jörg Hennecke in seiner Analyse der Grundsatzprogramme der deutschen Parteien. Die Grundsatzprogramme belegen nach seiner Auffassung, dass es keinen Konsens über die unausweichlichen Reformen des demokratischen Wohlfahrtsstaates gebe. Außerdem werde das Schwanken in der Wirtschaftspolitik, das Ad-hoc-Agieren auf absehbare Zeit die einzige Konstante bleiben. Als Gegenmaßnahme regt Hennecke zwei beachtenswerte Strategien an: An erster Stelle steht die Rückeroberung der von der linken Deutungshoheit bestimmten Begriffe, die Abkehr von der Verwendung bedeutungsvoll klingender Leerformeln wie Nachhaltigkeit, Solidarität und Gerechtigkeit hin zur inhaltlichen Bestimmung der Marktwirtschaft selbst. Die erste Strategie hängt eng mit der zweiten zusammen, nämlich der unausweichlichen Notwendigkeit, Reformen populär zu machen, gerade auch für Politiker. Die größte Herausforderung aber besteht darin, Ordnungsdenken wieder zu verbreiten. Einen zielführenden Ansatz liefert er gleich mit, nämlich das Argument der ethischen Überlegenheit der Marktwirtschaft insbesondere im Hinblick auf den Wohlfahrtsstaat. Denn viele meinungsmachende Intellektuelle haben leider immer noch nicht verstanden, dass die Marktwirtschaft auch in ethischer Hinsicht die Grundlage einer menschenwürdigen Gesellschaft bildet.
„Die Lösung unserer Probleme liegt nicht in der Division, sondern in der Multiplikation des Sozialprodukts.“ Diese Alltagsweisheit sei den Sozialdemokraten in allen Parteien zugerufen, die für ihre linke Politik viel von Ludwig Erhard übernehmen könnten, wenn sie eine echte Verbesserung der Lebenssituation ihrer Klientel anstreben. „Mehr netto!“ lautet die Parole. Die beste Sozialpolitik zeichnet sich durch Geldwertstabilität, Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung aus. Und das einzige Mittel, um das zu erreichen, ist die Marktwirtschaft mit dem Wettbewerb als Motor. Heute gilt es mehr denn je, den Menschen ihren ökonomischen Spielraum und ihre Verantwortung zurückzugeben. Durch Steuern und Abgaben stetig steigende Transaktionskosten führen zu verzerrten Austauschverhältnissen, die den Menschen das Gefühl geben, in einem Hamsterrad zu leben. Zudem führt die schwindende Berechenbarkeit aufgrund einer inflationären Gesetzgebung zu wachsender Unsicherheit, die durch nicht ausreichend werthaltiges Geld verstärkt wird. Schließlich wird Vertrauen dadurch untergraben, dass gesellschaftlicher Austausch unattraktiv wird. „Die Folge steigender Transaktionskosten ist der Zerfall der Gesellschaft“, lautet die Schlussfolgerung des von Rahim Taghizadegan geleiteten Instituts für Wertewirtschaft. Der Weg in den Teufelskreis in Gestalt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, nur noch auf Kosten anderer leben zu können, nimmt dann Gestalt an. Marktwirtschaft ist aber mit Staatswirtschaft unvereinbar, schon gar nicht in der Mischform eines „Dritten Weges“, der in die Sackgasse führt.
Derzeit scheint das Vertrauen zur wohltuenden Macht des Staates kraftvoll wie lange nicht zu sein. Der Sozialismus erfährt, keine zwei Jahrzehnte nach seinem Bankrott, in Verbindung mit dem Keynesianismus eine kaum zu fassende Renaissance unter Intellektuellen. Bei den Bürgern ist das allerdings nicht der Fall, wie ein Blick auf die bisherigen Wahlergebnisse zeigt. Indes dürfte die Freude über das vermeintliche Scheitern des Kapitalismus nicht von Dauer sein. Das liegt weniger daran, dass tatsächlich der Pseudo-Kapitalismus, der Interventionismus gescheitert ist, wie ausführlich dargelegt wurde. Um das zu erkennen, sind die Gefühle zu stark, die den Antikapitalismus der Intellektuellen begründen. Vielmehr dürfte das, was derzeit mit ihrer Unterstützung auf dem Vormarsch ist, schon bald ihnen selbst wenig Anlass zur Freude bieten. Der Versuch, „soziale Gerechtigkeit“ hervorzubringen und Staatsinterventionismus an die Stelle von Marktwirtschaft zu setzen, wird grandios scheitern. Der Staat ist die Bürokratie – schon vergessen?
Der antikapitalistische Trend lässt sich wie folgt erhellen: Vernunft und Instinkt werden gegen die Tradition, gegen die Moral in Stellung gebracht. Der Glaube, die Welt vollständig rational begreifen und erklären zu können, ist heute weit verbreitet. Der Anspruch, möglichst viele Abläufe (zentral) zu regeln, geht damit einher. Zugleich wird permanent an unsere Instinkte appelliert: Sozial gerecht soll es zugehen, alle sollen die gleichen Chancen haben, Unterschiede müssen nivelliert werden. Maßstab derartiger Appelle ist die Kleingruppe, die Sippe, die überschaubare Welt. Dort haben auch diese Werte ihren Platz. Für die Ordnung großer, unüberschaubarer Gesellschaften sind sie völlig ungeeignet. In ihnen kommt es auf die Befolgung von Regeln und Institutionen an, die sich über Jahrhunderte hinweg als erfolgreich herauskristallisiert haben: Gleichheit vor dem Recht, Freiheit und Selbstverantwortung, das Preissystem, die Ehe und die Familie. Das kollektive Wissen über das Gedeihen unserer Zivilisation ist in diesen Traditionen gespeichert. Die Wurzeln reichen zurück bis zur klassischen Antike. Die Griechen haben die Freiheit und Gleichheit der Bürger unter dem Recht begründet. Vom Erbe der Römer zehren wir, weil dort das Privatrecht mit der individuellen, unabhängigen Person und dem Schutz des Privateigentums entstand. Wie der französische Philosoph Philippe Nemo in seiner Schrift „Was ist der Westen?“ aufgezeigt hat, wurzelt der Humanismus an den Quellen des klassischen Altertums. Hinzu kommt die jüdisch-christliche Grundforderung der (Nächsten-) Liebe. Seit den demokratischen Reformen und Revolutionen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert unterscheidet sich der Westen hinsichtlich Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft durch das Streben nach der Verwirklichung einer spontanen gesellschaftlichen Ordnung, einer Ordnung der Vielfalt und Freiheit, von anderen Teilen der Welt. In seinem Mittelpunkt steht die Marktwirtschaft. Der westliche Staat ist nur dann legitim, „wenn er nicht länger einen Absolutheitsanspruch erhebt und wenn er sich mit einem instrumentellen Status zufrieden gibt. Das ist die Grundlage der Demokratie“, betont Nemo. Im Hinblick auf die Marktwirtschaft besteht die Aufgabe des Staates darin, die Marktfähigkeit der Bürger zu sichern, nicht aber ihre Marktunabhängigkeit zu finanzieren, so formuliert es der Sozialphilosoph Wolfgang Kersting. Der Staat muss die Menschen in den Wettbewerb zurückführen, nicht aber ihren Status sichern.
Indes betreiben die Feinde der spontanen Ordnung von rechts und links mit dem Überlegenheitsanspruch ihrer vermeintlich natürlichen, tatsächlich aber konstruierten Ordnungen Bauernfängerei. Beide politischen Richtungen benötigen starke Führer und tatkräftig handelnde Regierungen. Es liegt vielen Menschen im Blut, ihr Schicksal in deren Hände zu legen, anstatt den erfolgreichen anonymen Kräften einer spontanen Ordnung zu vertrauen. Die Feinde der offenen Gesellschaft fallen mit der Missachtung des einzelnen Menschen, der freien Persönlichkeit, eingebunden in sein soziales Umfeld, hinter die Antike mit dem griechischen Bürgersinn, dem römischen Recht und hinter das Zeitalter des Humanismus zurück. Sie sind Anti-Europäer. Gegen sie immunisiert die Soziale Marktwirtschaft als Lebenselixier einer Gesellschaft des Rechts und des Marktes. Sie zu erneuern und zu erhalten, bleibt eine ordnungspolitische Daueraufgabe. Die perfide Umwandlung der (Sozialen) Marktwirtschaft in ihr Gegenteil ist der Konflikt des Jahrhunderts, dem wir uns endlich stellen müssen.
aus „Die Pervertierung der Marktwirtschaft“ von Michael v. Prollius – erschienen im Olzog-Verlag.
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Dr. phil. Michael von Prollius ist Publizist und Gründer der Internetplattform Forum Ordnungspolitik, die für eine Renaissance ordnungspolitischen Denkens und eine freie Gesellschaft wirbt. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Geldsystem. Seine finanzwissenschaftlichen Beiträge und Rezensionen erscheinen zumeist in wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Fuldaer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung sowie in der Internetzeitung Die Freie Welt. Michael von Prollius ist Senior Experte beim Freiheitswerk, er verantwortet dort den Themenbereich Geld und Geldpolitik.
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