Wirtschaft und Staat

25.7.2012 – von Ludwig v. Mises.

I.

Ludwig von Mises

Für jede Tier- und Pflanzengattung sind die Existenzmöglichkeiten beschränkt. Daher sind die vitalen Interessen jedes Lebewesens unweigerlich denjenigen aller Angehörigen seiner eigenen Spezies entgegengesetzt. Nur der Mensch ist imstande, diesen von Natur aus unvermeidlichen Konflikt durch Zusammenarbeit zu überwinden. Dank dem Prinzip der Arbeitsteilung wird eine höhere Produktivität erreicht; diese tritt so an die Stelle der bittern Feindschaft, die der Mangel an Nahrungsmitteln hervorruft, und sie bewirkt eine Interessengemeinschaft von Menschen mit gleicher Zielrichtung. Der friedliche Austausch von Gütern und Dienstleistungen – die Wirtschaft – wird zum Musterbeispiel zwischenmenschlicher Beziehungen. Gegenseitige Abmachungen der Beteiligten treten an die Stelle der Gewalt, der Berufung auf das Gesetz des Stärkern.

Die Schwäche dieser Methode zur Lösung der Grundprobleme der Menschheit – und tatsächlich ist es die einzig mögliche Methode – liegt in der Tatsache, dass ihr Funktionieren von der vollen und unbedingten Mitwirkung aller menschlichen Lebewesen abhängt und dass die Verweigerung dieser Zusammenarbeit durch Einzelne ihr Funktionieren beeinträchtigt. Um gewaltsame Störungen zwischenmenschlicher Beziehungen auszuschalten, gibt es nur eines: zu noch gewaltsameren Maßnahmen zu greifen. Einzelnen oder Gruppen gegenüber, die zur Gewalt greifen oder die ihren vertraglich eingegangenen Verpflichtungen nicht nachkommen, hilft nur die Gewaltanwendung. Ein Wirtschaftssystem auf Grund freiwilliger Vereinbarung kann nicht funktionieren ohne die Rückendeckung durch Straf- und Zwangsmaßnahmen gegen jene, die sich nicht an die Regeln des gemeinsamen Abkommens halten wollen. Die Wirtschaft benötigt also die Hilfe des Staates.

Die Wirtschaft im weitesten Sinne des Wortes umfasst alles freiwillige und spontane Handeln der Menschen. Sie ist das Betätigungsfeld menschlicher Initiative und Freiheit, und sie ist der Boden, auf dem aller menschliche Fortschritt gedeiht.

Der Staat, als Schutzmacht der Wirtschaft gegen jede zerstörerische Gewaltanwendung, besitzt machtvolle Straf- und Zwangsmaßnahmen: ein System von Befehlen und Verboten. Seine bewaffneten Diener sind bereit, diesen Gesetzen Nachachtung zu verschaffen. Was immer der Staat unternimmt, wird von den ihm Unterstellten ausgeführt. Staatsmacht zwang die Bürger, Pyramiden und andere Denkmäler, Spitäler, Forschungsstätten und Schulen zu errichten. Beim Anblick dieser Werke lobt das Volk ihre Schöpfer. Unbeachtet freilich bleiben die Werke, die durch die Macht des Staates zerstört wurden oder die nie erbaut werden konnten, weil die Regierung die Mittel wegsteuerte, die von einzelnen Bürgern bereitgestellt wurden.

Gegenwärtig kennt die Begeisterung des Volkes und seiner Herrscher für die Planwirtschaft – oder die «Gemeinwirtschaft», wie man es heute nennt – sozusagen keine Grenzen. Kaum jemand wagt Einwände zu erheben, wenn irgendeine Ausweitung der Staatsgewalt – schmackhaft gemacht durch die Bezeichnung «öffentlicher Sektor der Wirtschaft» – vorgeschlagen wird. Nur das offenkundige finanzielle Fiasko fast aller verstaatlichten oder von Gemeindebehörden verwalteten Betriebe verlangsamt den Prozess der Sozialisierung der Unternehmen oder bringt ihn auf manchen Gebieten beinahe zum Stillstand. In diesem Zusammenhang spielen die Erfahrungen mit der amerikanischen Postverwaltung in der heutigen Sozialphilosophie und Wirtschaftspolitik eine wichtige Rolle. Ihre wohlbekannte Leistungsschwäche und ihre enormen Betriebsdefizite widerlegen die volkstümlichen Auffassungen vom Erfolg staatlicher Betriebsführung.

Es ist unmöglich, ehrlicherweise die Sache der Gewalt gegenüber der freiwilligen Zusammenarbeit zu verteidigen. Daher haben die Befürworter der Gewalt ihre Zuflucht zu dem Trick genommen, die Gewaltmethoden und die Gewaltandrohung als «gewaltlos» zu bezeichnen. Das zeigt sich am deutlichsten bei den Gewerkschaften. Im wesentlichen besteht ihr Vorgehen darin, durch Gewaltmaßnahmen verschiedener Art oder durch die Androhung solcher Maßnahmen die Unternehmen davon abzuhalten, Leute zu beschäftigen, die der Gewerkschaft nicht angehören. Sie erreichten ihr Ziel ohne weiteres, indem sie dem militärischen Begriff der «Streikposten» eine «friedliche» Nebenbedeutung beilegten. Und doch bedeutet er, und zwar genau in der von ihnen angewandten Form, die Bereitschaft zu töten und gewaltsam zu zerstören.

Der grundlegende Gegensatz zwischen gegenseitigem Übereinkommen einerseits und Gewalt und Zwang anderseits kann durch bloßes Gerede von den beiden «Sektoren» der Wirtschaft, dem privaten und dem öffentlichen, nicht aus der Welt geschafft werden. Zwischen Zwang und Freiwilligkeit gibt es keine Versöhnung. Die Versuche, die totalitären Systeme der ägyptischen Pharaonen oder der peruanischen Inkas Wiederaufleben zu lassen, sind auf jeden Fall zum Scheitern verurteilt. Die Gewalt verliert ihren unsozialen Charakter eben auch dann nicht, wenn man sie in «Gewaltlosigkeit» umtauft. Alles, was der Mensch zustande gebracht hat, ist das Ergebnis freiwilliger menschlicher Zusammenarbeit. Was die Gewalt an die Zivilisation beigesteuert hat, das ist weiter nichts als der – gewiss unumgängliche – Dienst, den sie den friedliebenden Menschen bei ihrem Bemühen leistet, allfällige Friedensbrecher an ihrem Vorhaben zu hindern.

II.

Die westliche Zivilisation hält und hielt schon immer die Freiheit für das höchste Gut. Die Geschichte des Westens ist die Chronik des Kampfes gegen die Tyrannei und für die Freiheit. Im 19. Jahrhundert schien sich die Idee der Freiheit des Individuums, wie sie durch die alten Griechen entwickelt und durch die Europäer der Renaissance und der Aufklärung von neuem ins Bewusstsein gebracht worden war, sogar auf die rückständigen Völker des Ostens auszudehnen. Optimisten sprachen bereits vom Anbruch eines Zeitalters der Freiheit und des Friedens.

Was aber tatsächlich eintraf, war genau das Gegenteil. Das 19.Jahrhundert, so erfolgreich es auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendung sein mochte, brachte und verbreitete Gesellschaftslehren, die den totalen Staat für den letzten Zweck der Menschheitsgeschichte erklärten. Sowohl fromme Christen als auch radikale Atheisten verwarfen die Marktwirtschaft und verschrien sie als das schlimmste aller Übel. Obwohl der Kapitalismus die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in einem bisher nie erreichten Maß steigerte und obwohl die Lebenshaltung der breiten Massen in den kapitalistischen Ländern von Jahr zu Jahr stieg, wurde die marxistische Lehre von der unvermeidlich zunehmenden Verelendung der «ausgebeuteten Klassen» als unbestrittenes Dogma angenommen. Die Intellektuellen, die sich anmaßten, den Kampf für eine angebliche «Diktatur des Proletariats» anzuführen, geben vor, das Anliegen aller großen Freiheitskämpfer weiter zu verfechten.

Das soziale und politische Ideal unserer Zeit ist die Planwirtschaft. Der einzelne soll nicht länger das Recht und die Möglichkeit haben, sich auf frei gewählte Weise in das System der sozialen Zusammenarbeit einzugliedern. Jedermann hat den Weisungen zu gehorchen, die von den Organen der Gesellschaft, das heißt des Staates und somit der Polizeigewalt, erlassen werden. Von der Wiege bis zum Grabe wird jedermann gezwungen sein, sich strikte an die Anordnungen der Planer zu halten. Diese werden seine Ausbildung, seinen Arbeitsplatz, die Art seiner Tätigkeit und seinen Lohn bestimmen. Er wird keinerlei Einwände gegen diese Regelungen treffen können, denn gemäß der Philosophie, auf die sich das System gründet, kann nur die Planungsbehörde wissen, ob ihre Weisungen mit ihren Plänen für den «sozial» wünschbaren Gang der Dinge übereinstimmen oder nicht.

Die völlige Versklavung aller Mitglieder der Gesellschaft ist kein bloß zufälliges Phänomen der sozialistischen Wirtschaftsführung. Vielmehr handelt es sich hierbei um das wesentliche Charakteristikum des sozialistischen Systems, um das, worauf sozialistische Wirtschaft letztlich immer hinaus läuft. Es ist kein Zufall, wenn die sozialistischen Autoren den Kapitalismus als «Produktionsanarchie» anprangerten und die Übertragung aller Autorität und Macht auf die «Gesellschaft» forderten. Entweder ist es dem Menschen freigestellt, nach seinem eigenen Plan zu leben, oder er wird gezwungen, sich bedingungslos dem Plan des Götzen «Staat» unterzuordnen.

Es ist weiter nicht von Belang, wenn sich die Sozialisten heute als «Linke» bezeichnen und die Verteidiger einer begrenzten Staatsgewalt und der Marktwirtschaft als «Rechte» abtun. Die Bezeichnungen «links» und «rechts» haben jede politische Bedeutung verloren. Der einzige bedeutsame Unterschied besteht zwischen den Verteidigern der Marktwirtschaft und einer entsprechend beschränkten Staatsgewalt einerseits und den Befürwortern des totalen Staates anderseits.

Zum ersten mal in der Menschheitsgeschichte besteht vollständiges Einverständnis zwischen der Mehrheit der sogenannten «Intellektuellen» und der großen Mehrheit der andern Bevölkerungsklassen und -gruppen. Sie alle rufen leidenschaftlich und heftig nach Planung, mit andern Worten, nach ihrer eigenen totalen Versklavung.

III.

Das Hauptmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft besteht im Wirkungskreis, den sie der Initiative und der Verantwortung ihrer Glieder überlässt. Der einzelne ist frei und unabhängig, solange er bei der Verfolgung seiner eigenen Ziele die Freiheit seiner Mitbürger nicht beeinträchtigt. Auf dem Markt ist er als Konsument souverän. Im politischen Bereich ist er Stimmbürger und nimmt als solcher an der Gesetzgebung teil. Politische Demokratie und Marktdemokratie sind voneinander abhängig. In der marxistischen Terminologie ausgedrückt heißt das: die parlamentarische Regierung ist der Überbau der Marktwirtschaft wie Despotismus der Überbau des Sozialismus.

Die Marktwirtschaft ist nicht bloß eines der denkbaren und möglichen Systeme menschlicher Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet. Nur sie erlaubt es dem Menschen, ein Produktionssystem einzurichten, das unerschütterlich die beste und billigste Versorgung der Verbraucher herbeiführt.

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Der Beitrag ist in “Schweizer Monatshefte” April 1968 erschienen. Vielen Dank an den “Schweizer Monat” für die Genehmigung zur Veröffentlichung.

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