Vollbeschäftigung durch anderes Lohnsystem
31.10.2014 – von Christoph Braunschweig.
Arbeitslosigkeit ist letztlich immer eine Frage des Verhältnisses von Arbeitskosten und Arbeitsproduktivität. Es muss bei Arbeitslosigkeit also entweder die Produktivität an die Löhne herangeführt werden oder die Löhne an die Produktivität. Die Lohnformel des Sachverständigenrates – die Reallöhne können in demselben Maße erhöht werden, wie die Produktivität steigt – ist in dieser Situation falsch. Denn es ergeben sich rechnerisch erhebliche Produktivitätszuwächse lediglich deshalb, weil Arbeitnehmer entlassen werden. Zur Verdeutlichung: In einer Volkswirtschaft gibt es drei Arbeiter mit einer Produktivität von 90, 100 und 110, im Durchschnitt demnach 100. Beträgt der Lohn 90, so können alle drei beschäftigt werden. Steigt er auf 98, so wird auf einem Arbeitsplatz der Lohn nicht mehr erwirtschaftet. Der betreffende Arbeitnehmer wird entlassen. Die statistisch gemessene Produktivität steigt um fünf Prozent auf 105 (Durchschnitt aus 100 und 110). Verfährt man nun nach der Regel des Sachverständigenrates und erhöht die Löhne um fünf Prozent, so wird auch der zweite Arbeitnehmer noch arbeitslos. Die Formel des Sachverständigenrates vergrößert also die Arbeitslosigkeit.
Jedes Unternehmen stellt solange zusätzliche Arbeitskräfte ein, als diese mehr einbringen als sie kosten. Ist das, was ein Mitarbeiter an Werten schafft, geringer als das, was er dem Unternehmen an Kosten verursacht, dann erleidet das Unternehmen entsprechend Verlust. Und da sich das kein Unternehmen auf Dauer leisten kann, wird der Arbeitsplatz wegrationalisiert bzw. abgebaut.
Es ist natürlich zu bedenken, dass die Arbeitnehmerschaft bei Arbeitslosigkeit mehr verdient als bei Vollbeschäftigung. Deshalb vertreten die Gewerkschaften ja auch stets nur die Interessen der Arbeitsplatzinhaber, nicht aber die Interessen der Arbeitslosen. Würde z. B. die Beschäftigung um vier Prozent sinken, wenn der Lohn um zehn Prozent steigt, dann wäre die gesamte Lohnsumme für die Arbeitsplatz-Besitzer immer noch höher als im Ausgangszustand. Unter solchen Verhältnissen könnte es für die Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit rational sein, ein gewisses Maß an allgemeiner Unterbeschäftigung bewusst hinzunehmen – dies eben zu Lasten derjenigen, die keinen Arbeitsplatz haben und nun auch kaum noch bekommen können.
Alle empirischen Untersuchungen führten allerdings zu dem Ergebnis, dass Vollbeschäftigung sowohl für die Unternehmen als auch für die Arbeitnehmer vorteilhafter ist als Unterbeschäftigung. Arbeitslosigkeit ist also – abgesehen von dem Leid der Betroffenen – ein gesellschaftlich irrationaler Zustand. Diese Irrationalität ist aber in fast allen westlichen Wohlfahrts-Demokratien zum Normalfall geworden.
Die Ökonomen suchen seit eh und je nach praktikablen Wegen, um eine nachhaltige und stetige Vollbeschäftigung zu erreichen. Die „Mainstream-Ökonomen“ aus der Makroökonomie und ihr einseitig nachfrageorientiertes Gewerkschaftslohnmodell a la Keynes sind daran gescheitert. Sie haben die Arbeitslosigkeit im Endeffekt verstärkt und verfestigt. Obendrein haben sie die Staatsverschuldung in astronomische Höhen getrieben.
Anders die Vertreter der „Österreichischen Schule der Nationalökonomie“: Sie halten sich an den Vorschlag, den der amerikanische Ökonom Martin Weitzmann gemacht hat, und der das Problem im Prinzip lösen würde. Die Idee besteht darin, die Löhne teilweise gewinnabhängig zu gestalten:
So möge z. B. ein Unternehmen eine Wertschöpfung von 1200 aufweisen, von denen 1000 auf die Löhne und 200 auf den Gewinn entfallen. Bei 100 Arbeitnehmern verdient jeder im statistischen Durchschnitt 10. Jetzt schließt das Unternehmen mit seinen Arbeitnehmern einen Vertrag ab, wonach der Festlohn um 20 Prozent gekürzt wird und die Arbeitnehmer zum Ausgleich die Hälfte des Gewinns erhalten. Bei einer Wertschöpfung in Höhe von 1200 sinkt die Lohnsumme also auf 800; der Gewinn steigt auf 400. Da die Arbeitnehmer die Hälfte des Gewinns erhalten, bleibt ihr Gesamteinkommen 1000, und der Gewinnanteil der Unternehmenseigner bleibt ebenso 200.
Soweit ändert sich nichts. Die Beschäftigungspolitik ändert sich aber dramatisch. Angenommen, der Beitrag des letzten Arbeitnehmers zur Wertschöpfung sei gerade so hoch wie sein Lohn, also 10, weitere acht Arbeitnehmer würden nur noch zusätzliche Werte von je 9 schaffen. Bei einem festen Lohn in Höhe von 10 würden sie also auf Dauer nicht beschäftigt werden können. Bei einem Lohn von 8 plus der Gewinnbeteiligung wird die Einstellung für das Unternehmen aber rentabel: Jeder zusätzliche Arbeitnehmer erhöht den Gewinn um 1. Auch wenn die Unternehmenseigner davon nur die Hälfte bekommen, lohn sich die Mehrbeschäftigung, Einstellungen sind also die Folge.
Umgekehrt gilt das ebenso: Gehen die Geschäfte des Unternehmens schlechter, dann heißt das, dass die Wertschöpfung pro Arbeitnehmer sinkt. Bei festem Lohn entlässt das Unternehmen alle Arbeitnehmer, die weniger als 10 zum Ergebnis beitragen. Im Gewinn-Beteiligungsmodell dagegen ist ein Beschäftigter immer noch rentabel, wenn er 8 zur Wertschöpfung beiträgt. Das bedeutet konkret: Im Festlohnmodell wird sich das Unternehmen dadurch einer geringeren Nachfrage anpassen, dass es die Produktion herunterfährt; im Gewinn-Beteiligungsmodell dagegen senkt es die Preise und hält die Beschäftigung aufrecht. Die Arbeitsplätze werden sicherer. Dafür kann das Einkommen der Arbeitnehmer schwanken – freilich nur für den Teil, der gewinnabhängig ist.
Würde man dieses Modell flächendeckend einführen, so wäre die Arbeitslosigkeit mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit überwunden, und eine Rezession würde zwar verbreitet zu Preissenkungen führen, die Arbeitslosigkeit aber kaum ansteigen lassen.
Das Modell hat aber noch eine Reihe weiterer Vorteile. Der Betriebsrat wäre in einer ganz anderen Rolle als heute: Er müsste sich um den Gewinn kümmern, also versuchen, dass möglichst effizient gearbeitet wird und dass Verschwendung verhindert wird. Der Konflikt über die Höhe der Löhne und der Gewinnbeteiligung bliebe bestehen. Ist beides verhandelt, dann wird der Betriebsrat automatisch zum Verbündeten der Unternehmensleitung. Der ständige Strukturwandel würde zum Vorteil der gesamten Volkswirtschaft wesentlich schneller bewältigt und somit die Arbeitsplätze immer sicherer. Schrumpfende Unternehmen und Branchen müssen heute Arbeitnehmer entlassen. Im Gewinn-Beteiligungsmodell hätten diese Unternehmen niedrigere Gewinne, die Arbeitnehmer also geringere Zuflüsse aus Gewinnbeteiligung. Junge und mobile Arbeitnehmer würden dann abwandern. Heute werden Arbeitnehmer aus schrumpfenden Unternehmen herausgedrückt, während sie im Gewinn-Beteiligungsmodell herausgesogen würden. Mobilität ist unerlässlich – sie nähme aber humanere Züge an.
Das Gewinn-Beteiligungsmodell führt in Höhe der Gewinnbeteiligung zu einem überschaubaren Einkommensrisiko für die Arbeitnehmer. Dafür vermindert sich das Arbeitsplatzrisiko ganz erheblich. Dem Einkommensrisiko steht darüber hinaus die Chance gegenüber, das die Gewinnbeteiligung höher ausfällt, als bei Vertragsabschluss angenommen wurde. Es handelt sich also um eine sog. „Win-win-Situation“, deren Realisierung lediglich voraussetzt, dass alle Beteiligten ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Zu den Gewinnern würde selbstverständlich auch der Staat zählen. Denn wie sagte schon der damalige SPD-Bundeskanzler Willy Brand: „Nichts ist teurer und unsinniger als Arbeitslosigkeit zu finanzieren.“
Was im Übrigen die Höhe der Netto-Löhne angeht, so ist Folgendes zu beachten: Die Sozialsysteme sind so konstruiert, dass sie zwangsläufig zu einem System der Ausbeutung der Versichertengemeinschaft durch die Versicherten geworden sind. Weil viele etwas herausholen wollen, müssen alle viel bezahlen. Individuelle Rationalität wird zu kollektiver Irrationalität. Könnten die Arbeitnehmer selbst für Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit vorsorgen und würden die Sozialbeiträge und Steuern entsprechend gekürzt, so ließen sich die Netto-Löhne mehr als verdoppeln!
Die hier kurz skizzierten Veränderungen des Lohn- und Sozialsystems haben nur einen einzigen, aber wohl entscheidenden Nachteil: Viele Gewerkschafts- und Sozialstaatsfunktionäre sowie Sozialpolitiker müssten sich neue Arbeitsplätze suchen. Eventuell wären sie sogar gezwungen, sich eine produktive Arbeitsbetätigung zu suchen. Das wird diese privilegierte Funktionärs-Kaste sicher auch in Zukunft erfolgreich zu verhindern wissen.
Quellen:
Karl Braunschweig: Skript „Wirtschaftspolitik“, WP-Lehrgänge, Köln 1989
Wolfram Engels: Akzente 1984-1995, Düsseldorf 1997
Martin Weitzmann: The share economy. Conquering stagflation, Harvard university Press, Cambridge/Massachusetts, 1984
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Christoph Braunschweig ist ehemaliger studentischer Hörer von Friedrich A. von Hayek und heute Professor der Staatlichen Wirtschaftsuniversität Jekaterinburg. Er ist Autor zahlreicher Fachbücher und war unter anderem als Geschäftsführer im Medien-Handelsbereich tätig.