Über den Ausverkauf der deutschen Interessen

23.9.2013 – Merkels politisches Geschick sucht innenpolitisch ihresgleichen, auf dem Brüsseler Parkett wird sie regelmäßig über den Tisch gezogen. In Euro-Fragen ist das fatal und kostet den Steuerzahler Milliarden.

von Gunnar Beck.

Gunnar Beck

Forderte die Kanzlerin vor der Wahl von den Krisenstaaten noch Solidität für Solidarität, wird sie nun – so ist zu erwarten – deren Forderungen nach Erleichterungen und Reformaufschub nicht mehr mit Verweis auf den Wählerdruck abweisen können und ihre Sparverordnungen Stück für Stück aufgeben müssen.

Gründe dafür, dass die Regierung in die Knie gehen wird, gibt es viele. Acht dieser schlechten Gründe sind hier angeführt, sie lassen sich aber auf drei zentrale Momente reduzieren:

Die historische Schuldenneurose der deutschen Politiker; zweitens der Triumph kurzfristigen Kalkulierens über langfristige Interessensicherung und drittens der Aufstieg der oligarchischen Demokratie in fast allen sogenannten westlichen Demokratien spätestens seit der Finanzkrise.

Die Kanzlerin, so wie fast alle Politiker der etablierten Parteien, ist eine überzeugte Europäerin. Europäer sind wir ja alle ohnedies schon zwangsläufig von Geburt, und überzeugt heißt hier eigentlich voreingenommen, denn Überzeugungen gilt es immer aufs Neue an der Realität zu messen und zu überprüfen, genau das tut im Bundestag aber niemand. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“: Diese Worte der Kanzlerin, so unsinnig und bar jeder Logik sie auch sind, sind dennoch Ausdruck eines tief verwurzelten Willens, die Einheitswährung zu verteidigen, koste es fast, was es wolle.

Außerhalb Deutschlands versteht das kaum einer, man vernimmt die frohe Botschaft aber desto lieber, verpfändet doch so die Bundesregierung die Ersparnisse ihrer Bürger für die Rettung maroder Banken, die die einheimischen Regierungen sonst wohl kaum selbst über Wasser halten könnten.

Die deutsche Politik huldigt dem Ersatzglauben von der europäischen Einheit fast geschlossen seit Gründung der Bundesrepublik. Der Euro gilt als Teil eines historischen Heils- und (R)einigungsprozesses. Ein deutscher Regierungschef, der die geldpolitische Schlechtwitzveranstaltung vom Euro endlich abblasen würde, wäre beispiellosem internationalen politischen und medialem Druck ausgesetzt, würde als gefährlicher Nationalist verschrien, der nationales Interesse der nie endenden Aussöhnung und wesentlich vom deutschen Steuerzahler finanzierten Völkerverständigung voranstellte und Westeuropa in eine erneute Rezession stürzte.

Allenfalls posthum gäbe es vielleicht Zuspruch weniger revisionistischer Historiker, die sich erinnerten, dass der Euro eigentlich von Anbeginn eine Fehlgeburt war, die den Bedürfnissen der  ökonomischen vielfach kaum kompatiblen Mitgliedstaaten nie entsprechen konnte.

Hingegen kann sich jeder deutsche Regierungschef, der weiterhin gutes Steuergeld längst faulen Krediten hinterher wirft, allgemeinen Zuspruchs sicher wähnen, eingedenk Deutschlands nimmer endender historischer Verantwortung, verantwortungsvoll und solidarisch gehandelt zu haben. Und wenn er scheitert, so nicht aus dem falschen, sondern den guten und den richtigen Gründen, dem Geist des politisch Korrekten unter dem Deckmantel der europäischen Solidarität und der deutsch-französischen Freundschaft.

Teil der neudeutschen nationalen Identität ist die deutsch-französische Freundschaft. Diese Freundschaft ist in mehr als nur mancher Hinsicht ein unnatürliche, fast eine mésalliance par excellence – ökonomisch, politisch und in vielen Fragen der persönlichen Lebensgestaltung haben beide Nationen und ihre Bürger vielfach ganz andere Vorstellungen. Deutschland bejaht die europäische Integration aus Schuld- und Sühneverlangen, Frankreichs Regierende hingegen, so der amerikanische politische Soziologe Larry Siedentop, vor allem aus nationalen Eigeninteresse, der Primat, die EU-Institutionen den eigenen Interessen dienstbar zu machen, und vor allem Deutschland wirtschaftlich und ökonomisch zu schwächen.

Als der ehemalige BDI-Präsident Henkel unlängst bemerkte, es sei an der Zeit für eine deutsch-französische Scheidung, zeigte sich das rechtschaffene Deutschland bestürzt, dabei kann sich kaum ein Politiker wirklich in einer der beiden Landessprachen mit seinen französischen Kollegen austauschen. Die sogenannte deutsch-französische Freundschaft nährt sich aus Unkenntnis und Unverständnis beiderseits, deutschem Wunschdenken, und dem Umstand, dass der Begriff „nationales Interesse“ von der deutschen Politik aus dem deutschen Wortschatz gestrichen wurde.

In der Eurokrise gibt es schon lange keine kostenfreien Optionen mehr. Die Bundesrepublik kann auch jetzt noch die Euro-Zone verlassen und damit faktisch die ganze Veranstaltung absagen. Im Falle eines Euro-Endes verlöre Deutschland etwa 600 bis 800 Milliarden Euro an Target-Forderungen der Bundesbank an andere Eurosystem-Zentralbanken, gegen die Deutschland alle bisherigen Regierungshilfen über ESM, ESFS und die besonderen Hilfsprogramme wie für Griechenland aufrechnen könnte. Es blieben also rund 300 bis 500 Milliarden Euro, eine gewaltige aber nicht katastrophale Summe. Hinzu kämen allerdings auf einige Zeit Exporteinahmen-Ausfälle aus dem Handel mit den Euro-Krisenstaaten, der jedoch bereits seit Krisenbeginn rückläufig ist. Der Anteil der Euro-Zone an der deutschen Gesamtausfuhr, der bei Euro-Einführung noch rund 45 Prozent betrug, ist mittlerweile auf etwa ein gutes Drittel am Gesamtexport gefallen, Tendenz fallend.

Entgegen der offiziellen Regierungs- und EU-Meinung ist die Euro-Zone zwar ein wichtiger, aber kein Wachstumsmarkt für die deutsche Industrie. Die Kosten eines Euro-Zusammenbruchs wären beträchtlich, aber nicht katastrophal. Allerdings, die Kosten ließen sich weder verschleiern und fielen sofort an.

Im Alternativfall einer Euro-Rettung um jeden Preis hingegen, in dem Deutschland über Rettungsschirme, Schuldenschnitte, EZB-Anleihenkäufe, eine Bankenunion und am Ende auch Euro-Bonds nach und nach einer Haftungsunion zustimmen wird, lassen sich die Verluste für den deutschen Steuerzahler über Jahre ausdehnen, verschleiern und zu einem erheblichen Teil über Inflation und die von der EZB verordneten Niedrigstzinsen auf die Sparer abschieben. Die Kosten beliefen sich auf mindestens mehrere Dutzend Milliarden Euro zuzüglich der Entwertung der deutschen Sparguthaben und des deutschen Auslandsvermögens, aber sie erscheinen im Vergleich mit einem Euro-Austritt und sofortigen Abschreibungen erst einmal geringer, weil sie sich auf unabsehbare Zeit verteilen lassen und nicht sofort anfallen, und außerdem durch Geldentwertung, Kaufkraftverluste und damit verbundene Wachstumseinbußen zwar langfristig höher, zugleich aber nur schwer quantifizierbar sind.

Welch ein Segen, dass die Bertelsmann Stiftung die Kosten eines Euro-Zusammenbruchs dagegen bereits genau berechnete – auf der Basis willkürlicher Annahmen und mit dem Ergebnis einer hanebüchenen, aus der Luft gegriffenen Gesamtkostenzahl. Für westliche Regierungen erweisen sich in ihrer Gesamtheit niedrigere, doch sofortige Kosten fast immer als attraktiver als weit höhere, aber weniger transparente langfristige Kosten. Lang ist es her, dass in West-Europa noch langfristig gedacht werden konnte.

Nur wenige Menschen und noch weniger Politiker besitzen die Charakterstärke, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Deutschen Politikern fällt das seit jeher besonders schwer. Und einzusehen, wann es an der Zeit ist, die eigenen Verluste zu begrenzen and offenzulegen. Die Kanzlerin ist hier wahrscheinlich flexibler und einsichtiger als andere. Und doch, nähme Angela Merkel letztlich doch noch vom deutschen Euro-Wunschdenken Abschied, dann müsste sie damit auch gleich einen mindestens halbe Billion-Euro-Fehler verantworten.

Es wäre in etwa so – wohlgemerkt kein Personen-, sondern nur rein situativer Vergleich – als hätte Adolf Hitler vor der katastrophalen Materialschlacht von Kursk noch im Juni 1943 mit Stalin Frieden geschlossen. Es wäre die einzig richtige Handlung gewesen, und zugleich das Eingeständnis eines kolossalen Fehlers. Aus genau diesem Grund wird auch die Euro-Rettung nicht eingestellt, jedenfalls solange, wie die Bundesrepublik noch nicht ruiniert ist.

Der Euro wird noch zur Ostfront des deutschen Steuerzahlers. Deutschlands Ruf ist vielerorts ungerechtfertigt schlecht. Das bundesdeutsche Demokratie- und Rechtstaatmodel hingegen genießt einen weltweit fast vorbildlichen Ruf. Der allerdings ist ebenso fragwürdig wie der unbegründet schlechte Leumund in anderer Hinsicht. Lediglich die Hälfte aller Bundestagsabgeordneten wird aus ihrem Wahlkreis heraus direkt in den Bundestag gewählt, die andere Hälfte gelangt über Parteilisten ins Parlament. Votiert ein Abgeordneter gegen die eigene Parteispitze, so riskiert er damit auch seinen Listenplatz. Strebt er nach einem höheren Amt, so muss er sich gehorsam zeigen, denn Aufstieg gibt es für die Mehrheit nur gegen Loyalität und Gehorsam. Kaum verwunderlich, dass es in den letzten drei Jahrzehnten so gut wie keine parlamentarische Rebellion gegen eine amtierende Regierung gab.

Genau so bedenklich wie die Gefügigkeit des Parlaments ist die Haltung des nominell unabhängigen Bundesverfassungsgerichts. Dessen Richter werden ausnahmslos auf Empfehlung einer der vier etablierten Bundesparteien ernannt, in der Hauptsache also von CDU/CSU und SPD. Die Willfährigkeit des Gerichts in allen bedeutenden außen-, europa- und budgetpolitischen Fragen ist dadurch gesichert.

Dieses vielfach elegant verschwiegene Faktum bundesdeutscher Gewaltenteilung allein mag zureichend erklären, weswegen das Gericht regelmäßig jede Klage gegen die Euro-Rettungspolitik abgewiesen hat, zuletzt im ESM-Urteil vom 12 September 2012. Damals taten die Richter des 2. Senats tatsächlich die Meinung kund, selbst eine in ihrer Höhe unbeschränkte, viele Billionen Euro betragende Haftung der Bundesregierung für klamme Regierungen und Banken des gesamten Euro-Raums sei in ganz unbedenklicher Weise mit der Budgethoheit des Bundestags vereinbar, bei einem Bundeshaushalt von gerade mal etwa 300 Milliarden Euro im Jahr. Soviel zum höchst (un)gesunden richterlichen Menschenverstand.

Hinzu kommt die scheinbare persönliche Voreingenommenheit des SPD-nahen aber doch kanzlergetreuen, des also mit allen politisch nützlichen Wassern gesegneten Verfassungsgerichtspräsidenten Voßkuhle. Im Oktober 2012 versicherte er anlässlich eines Studentenempfangs in Oxford, dass das Gericht aus „Zeitmangel“ seines jovial-reiselustigen Richterkollegiums noch monatelang nicht über die unbegrenzten EZB-Anleihekäufe entscheiden werde. Wenn die EZB dann zur Bundestagswahl 2013 noch immer keine Tatsachen geschaffen hat, werde er auch dann ein verfassungsrechtliches Verbot mit dem ein oder anderen juristischen Winkelzug zu vermeiden wissen.

Die „frohe Botschaft“ Voßkuhles: die Euro-Rettung der Regierung werde er also nicht juristisch torpedieren. Dabei verstößt die Ankündigung des Programmes durch EZB-Präsident Mario Draghi eindeutig gegen Artikel 123 und 127 des EU-Vertrags. Und mit der laut dem Gericht verfassungsgerichtlich geforderten Budgethoheit des Bundestags ist es angesichts der nicht mehr kalkulierbaren Milliardenrisiken in Verbindung mit ESM und den widerrechtlichen Anleiheaufkäufen ohnedies vorbei. Der Rechtsbruch wird also durch das höchste deutsche Gericht bestätigt werden.

Die bundesdeutsche Kultur, wie die der meisten westlichen Staaten mit der eingeschränkten Ausnahme der Schweiz, Österreichs, Finnlands, Irlands und vielleicht noch Islands, leidet unter einem bedrückenden Klima von politischer Korrektheit. In Deutschland ist der EU-Integrationsprozess Teil des politisch korrekteren Glaubenskatalogs.

All diese Faktoren und Fakten der bundesdeutschen politischen Kultur haben nichts mit ökonomischen Erwägungen zu tun und belegen weder, dass Deutschland, noch irgendein anderes Volk in seiner Mehrheit vom Euro profitiert. Es sind schlechte, keine guten Gründe für die Fortsetzung der Euro-Rettung, denn sie zementieren ein politisches Klima in Deutschland, in dem die politische Elite auch heute noch – fast siebzig Jahre nach Kriegsende – der Bevölkerung suggeriert, sie trage nach wie vor eine besondere Verantwortung für Kriegsgeschehen und die Politik der damaligen Führung.

In dieser politischen Treibhauserhitzung ist es so gut wie undenkbar, das eine Kanzlerin, die sich selbst als Anhängerin der europäischen Einigung sieht, plötzlich der Heilslehre vom Euro abschwörte und zu dem Schluss käme, dass die Verluste von hunderten Milliarden Euro-Krediten eines Euro-Kollaps den langfristigen Kosten für die deutschen Steuerzahler, Sparer und Unternehmen auch jetzt immer noch vorzuziehen seien. Und ein jeder der vielen schlechten Gründe für die Euro-Rettung ist in der Konsequenz auch ein ebenso schlechter wie zureichender Grund, die Sparpolitik immer weiter zu verwässern – bis hin zu einer für Schuldenunion: in Überschuldung geeint, so das Motto des neuen Europa.

Führende Politiker in West-Europa, vor allem Regierungschefs und ihre wichtigsten Minister, verbringen mittlerweile weit mehr Zeit miteinander als mit irgendwem sonst mit Ausnahme vielleicht ihre engsten Berater und einflussreicher Lobbyisten. Dieses stetige Bei- und Miteinander schafft ein inzestuöses Biotop, in dem unsere Volksvertreter nahezu alles tun, um den Anschein politischer Übereinkunft und die Interessen ihrer Wähler und nationalen Bevölkerungen nicht selten hintanstellen.

Das gilt im Verhältnis untereinander wie auch im Unvermögen, den Begehrlichkeiten vor allem der Bankenlobby mit der gebotenen Ablehnung entgegenzutreten. Die EU mit ihrem stetigen Hinterzimmer-Stelldichein als Regierungsgrundsatz unterminiert Offenheit, demokratische Verantwortlichkeit nationaler Regierungen und ganz allgemein die guten Regierungssitten. Im Gegensatz zu den schamlos Eigeninteressen verfolgenden Franzosen, die sich in Brüssel nicht nur sprachlich zuhause fühlen können, sehen sich bundesdeutsche Politiker, die sich ihre Akzeptanz, Zuspruch und allgemeines Lob immer erst erkaufen müssen, bei ihren Auswärtsspielen immer wieder plump ausgespielt und allzu bereit, im beruflichen Pendelverkehr von und nach Brüssel die vitalen Eigeninteressen des eigenen Landes der Gralslehre vom „allgemeine Wohl“ Europas zu opfern.

Dies alles aus pathologischer Furcht vor ohnedies stets nur vorübergehender diplomatischer Isolation und den immer wiederkehrenden historischen Anspielungen und Anfeindungen. So wie der Vampir dem Kreuz weicht, schrickt und beugt sich der Deutsche, wenn nur irgendwer wieder mit dem Hakenkreuz daherkommt.

Und wenn die Einigkeits- und Einigungsbeschwörungen der Brüsseler Nachtkonklave die Kanzlerin nicht in die Schuldenunion zwingen, so werde es die unheilige Dreifaltigkeit der weltweit drahtziehenden Zentralbanken, der hochverschuldeten Regierungen und einflussreicher Finanzinstitute tun. Dieses oligarchische Triumvirat, das die Regierungszepter trotz wechselnder Aushängeschilder in den politischen Schaufensterauslagen unserer sogenannten Demokratien fest in Händen hält, kam nach 2008 zu der Übereinkunft, dass dem internationalen Kasino-Kapitalismus nicht ernsthaft Einhalt geboten werden soll und die fast kaum mehr vorstellbare öffentliche und Bankenschuldenlast sozialisiert und auf die Steuerzahler und Sparer abgewälzt werden müsse.

Besonders offensichtlich wurde dies im Juni 2012, als Hollande und Monti die Kanzlerin mit einer spätnächtlichen Pressekonferenz überrumpelten und nötigten, den gerade erst aufgelegten ESM-Rettungsschirm auch für die Rettung maroder Banken in Südeuropa und vielleicht auch bald Frankreich zu öffnen. Weniger als zwei Monate später überredete sie der Interessenvertreter von Goldman Sachs an der Spitze der EZB, Mario Draghi, mit Wieselworten, seinem unbegrenzten Anleiheankaufprogramm die Unterstützung nicht zu versagen, denn nur so lasse sich das Ausmaß der noch auf Deutschland zukommenden Kosten vor der Öffentlichkeit und die faktisch längst bestehende Schuldenunion erst einmal verschleiern.

Dass, wenn die EZB erst einmal in einer kritischen Masse Anleihenkäufe durchgeführt hat, die Nutznießer tatsächlich noch zur Einhaltung ihrer Sparversprechen gebracht werden können, glauben unter den Spitzenbeamten in Brüssel und der EZB in etwa genauso viele wie unter den Grundschülern des Internetzeitalters, dass die kleinen Geschwister vom Storch gebracht werden.

Als eine führende deutsche Finanztageszeitung vor ein paar Jahren Draghis Verstrickung in die berüchtigten Währungs-Swap-Geschäfte mit Griechenland, mit denen das Land sich in die Euro-Zone mogelte, zu recherchieren begann, bekam eine führende Zeitung Deutschlands einen höchst unfreundlichen Anruf, sie möge die Untersuchungen sofort einstellen. Eben selber „Rat“ ereilte das Blatt auch in Bezug auf das Unterwertverschachern italienischen Staatsbesitzes an internationale Finanzinvestoren und Investmentbanken in den neunziger Jahren, als Draghi noch Staatssekretär im italienischen Finanzministerium war.

Mit seinem Investmentbanking-Hintergrund bei Goldman Sachs und seiner jahrelangen Erfahrung in den verwinkelten Machtkorridoren Roms ist der stets sardonisch lächelnde Draghi die leibhaftige Antithese der Solidität und konservativen Integrität, die das deutsche Nachkriegsbürgertums von der Bundesbank und ihren Präsidenten zu erwarten gelernt hatte. Der Umstand, dass die Bundesregierung nun insgeheim mit Draghi  – den Bundesbankpräsident Weidmann in kaum verschleierten Worten mit dem Mephistopheles von Goethes Faust II in Gestalt des kaiserlichen Falschmünzers verglich – im Bett liegt, verdeutlicht, vielleicht mehr denn alles andere, den Fortbestand mindestens zweier bedauerlicher Konstanten deutscher Außenpolitik selbst unter der Regierung Merkel: mangelnde Menschenkenntnis und politische Naivität.

Siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, so scheint, hat die Bundesrepublik noch immer nicht ihre staatliche Souveränität wiedererlangt, d.h. die Freiheit, ihre eigenen nationalen Interessen nach Maßgabe der Mehrheitsmeinung der eigenen Bevölkerung unter Beachtung des Völkerrechts politisch zu vertreten und dem eigenen wirtschaftlichem und politischen Gewicht gemäß zur Geltung zu bringen.

Ebenso erweist sich das Land als allenfalls teildemokratisiert, insofern jedenfalls als die Regierung der eigenen Bevölkerung immer noch nicht in den entscheidenden wirtschaftlichen und politischen Fragen über den Weg traut. Dies verstehen erfahrene internationale Beobachter, wie der frühere britische Premier Tony Blair, mitunter sehr gut. Für ein beträchtliches Salär beschwichtigt Blair nämlich seine Investmentbanking- und Hedge-Fonds-Freunde, die Bundesregierung werde, wie von Draghi versichert, alles tun, um den Euro zu retten, notfalls, so Blair, zum Schaden des eigenen Landes und unbeschadet der Skepsis in der eigenen Bevölkerung.

Verlangt der Interessenvertreter von Goldman Sachs an der Spitze der EZB nach der Bundestagswahl noch Erleichterungen bei den Sparauflagen, nach einer gesamteuropäischen Haftung für alle Bankeneinlagen in der Euro-Zone und in der Konsequenz nach einer Schuldenunion, wird man sich dem in Berlin auf lange Sichte nicht verschließen. Angela Merkel wird für vier Jahre wiedergewählt werden, der Beelzebub am Schalthebel der EZB jedoch wird gemäß den Statuten der EZB noch mindestens gut sechs Jahre, nicht zuletzt auch auf Grund des Votums der deutschen Regierung, im Amt sein. Dessen Wille geschehe, im Interesse der internationalen Finanzplutokratie, und nicht zum Wohl der europäischen Völker.

Dieser Beitrag ist am 20.9.2013 in ähnlicher Form im Handelsblatt-online erschienen.

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Dr. Gunnar Beck lehrt EU-Recht an der Universität London und ist Verfasser der Studie „The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU“, die im Januar bei Hart Publishing in Oxford erschienen ist. Ein ausführlicher Vortrag des Autors zum selben Thema ist auf der Webseite des CESifo-Instituts im Rahme der Vortragsreihe Münchener Seminar in englischer Sprache per Video verfügbar.

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