„Die Euro-Zone ist wie Wilder Westen für die EZB“
17.4.2013 – Das Handeln der EZB in der Eurokrise steht in immer eklatanterem Widerspruch zu den gültigen EU-Verträgen. Eine herausragende rechtsbeugende Rolle nimmt dabei das deutsche Bundesverfassungsgericht ein.
von Gunnar Beck.
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und in Deutschland seit Immanuel Kant ist der Rechtsstaat ein Zentralbegriff politischen Denkens in Europa. Zusammen mit den Begriffen der Demokratie und der fundamentalen Menschenrechte bildet der Rechtsstaat seit dem 2. Weltkrieg die Grundlage legitimer Herrschaft. Er bedarf in der Praxis keiner Rechtfertigung mehr. Rechtsstaatliche Prinzipien finden sich in nahezu allen europäischen Verfassungen. In den EU-Verträgen erwähnen sowohl die Vertragspräambeln und ganz unmissverständlich Artikel 2 EUV den Rechtsstaat als Grundlage legitimen politischen Handelns in der EU.
Im Kern ist der Begriff des Rechtsstaats glasklar: Recht bindet nicht nur die Regierten, sondern auch die Regierenden – nicht nur den Bürger, sondern auch die Regierung. Dies gilt für gültiges Recht, bis es geändert ist, und für Verfassungsrecht, sofern unabänderbar, auf unabsehbare Zeit. Im Rechtsstaat sind demokratisch gewählte Regierungen damit zweifach verantwortlich – zum einen den Wählern, wenn sie das Vertrauen der Mehrheit bei Wahlen verlieren, und zum anderen der Justiz, wenn sie Recht brechen. Rechtsstaat und Gewaltenteilung sind untrennbar.
Auch die EU sieht sich als Rechtsstaat und ihre Institutionen sind durch gültiges Recht gebunden. Außerdem steht die Mitgliedschaft in der EU nach den sogenannten Kopenhagener Beitrittskriterien nur rechtstaatlich organisierten Staaten offen. Missachtung von Recht oder Menschenrechten sind zudem ein zureichender Grund für den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages wurde das Bekenntnis der EU und ihrer Mitgliedstaaten zum Rechtsstaat durch Artikel 2 EUV noch einmal theoretisch bekräftigt. Je lauter indes das Bekenntnis, desto fragwürdiger erscheint die rechtsstaatliche Praxis in der EU.
Bereits die Aufnahme Italiens und Griechenlands in die Euro-Gruppe war nur durch Verschleierung der wahren Finanzlage beider Staaten möglich. Spätestens seit 2010 bricht die EU nun offen Unions- und nationales Recht. Dies räumte Christine Lagarde in der heißen Phase der Schuldenkrise vor zwei Jahre freimütig und zugleich schamlos ein: „Wir brechen Recht“, so die damalige französische Finanzministerin, „um den Euro zu retten“. Das Ausmaß der Rechtsmissachtung ist damit allerdings noch nicht erfasst.
Bei Gründung der Währungsunion mogelten sich sowohl Italien und Griechenland nur mit verdeckter Hand in den Euro, wobei die Gerüchte um die Rolle des gegenwärtigen EZB-Präsidenten und damaligen italienischen Staatssekretärs und Goldman-Sachs-Vizepräsidenten Mario Draghi beim Entwurf der Taschenspielertricks beider Länder nicht abreißen wollen. Seit 1999 brachen Jahr auf Jahr mindestens die Hälfte aller Eurostaaten die Defizit- und Schuldenstabilitätskriterien. Die Euro-Zone hat den Rechtsbruch durch die Politik hoffähig und zu einer schlechten politischen Angewohnheit werden lassen.
Die Währungsunion ist eine Art Wilder Westen für die EZB, die EU-Institutionen und die EU-Mitgliedstaaten und ihre staatstragenden Gerichte. Die nationalen Verfassungsgerichte wie auch die EU-Gerichtshöfe werden dabei zu willfährigen Handlangern von rechtswidrigen Euro-Gruppe-Beschlüssen und institutionalisierten Rechtsmissbrauchs durch die allmächtige EZB.
Eine herausragende rechtsbeugende Rolle nimmt dabei seit Jahren das deutsche Bundesverfassungsgericht ein. In seinem berühmten Maastricht-Urteil vor zwanzig Jahren konstatierte das Gericht selbstsicher: „Die Bundesrepublik Deutschland unterwirft sich mit der Ratifikation des Unions-Vertrags nicht einem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren ‚Automatismus‘ zu einer Währungsunion.“ Das Gericht untersuchte in diesem Zusammenhang auch den Klagepunkt, die Währungsunion berge im Ansatz bereits die Haftungsunion, und wies Bedenken dieser Art entschieden zurück: Das Nichtbeistandsgebot und das monetäre Staatsfinanzierungsverbot seien vertragsrechtlich abgesichert, so das Gericht, und böten somit zureichende Gewähr wider alle Unkenrufe der Euro-Gegner.
Aus dem Maastricht-Urteil nähren Euro-Skeptiker seitdem die Hoffnung, die Verfassungsrichter würden irgendwann einmal ihre Drohung wahrmachen, und allzu dreisten Vertragsverletzungen eine Grenze ziehen. Doch Deutschlands höchsten Richtern fehlt offensichtlich nicht nur das Urteilsvermögen, sondern der Mut zum Recht.
Im September 2011 urteilte das Verfassungsgericht, dass zu diesem Zeitpunkt rechtlich eingeräumte Kredite und Garantien Deutschlands an andere Euro-Staaten von insgesamt 170 Milliarden Euro die Budgetautonomie des Bundestages nicht wesentlich beeinträchtigten, obgleich sie 60 Prozent des Bundeshaushalts von 2011 ausmachten. Genau ein Jahr später degradierten die Verfassungsrichter den selbstformulierten Souveränitätsgrundsatz von der Budgethoheit des deutschen Parlaments endgültig zur schlechten Witzveranstaltung, als sie in ihrem ESM-Urteil vom September 2012 ernsthaft verkündeten, die Budgetautonomie des Bundestagstags sei selbst mit Zahlungsverpflichtungen und -garantien von mindestens 194 Milliarden Euro, akkumulierten Target2-Krediten von über 700 Milliarden Euro und möglichen Verlusten aus EZB-Anleihekäufen von Dutzenden, vielleicht weiteren Hunderten von Milliarden Euro problemlos vereinbar.
Im Grundsatz, so das Gericht, sei die Budgethoheit selbst bei unbegrenzten Zahlungsverpflichtungen nicht verwirkt, sofern das Parlament nur selbst einer Ausweitung des ESM zustimmte. Jeder, so hätte das Gericht auch im Klartext sagen können, darf sich selbst in Sklaverei begeben, ob freiwillig oder unter dem Zwang der Umstände, doch zum Glück sei damit ein Sklaverei-Verbot wie in der Europäischen Konvention nicht im mindesten in Frage gestellt.
Deutschland hat mittlerweile zusammen mit den Target2-Krediten den Krisenstaaten zwischen 600 und 1000 Milliarden Euro an ungesicherten Krediten eingeräumt; diese Summe wird sich durch die potentiellen Risiken der angekündigten unbegrenzten Draghi-Anleihekäufe weiter erhöhen; zudem spricht die Bundesregierung bereits offen vom Plan einer eurozonen-weiten Banken- und Haftungsunion für alle maroden EU-Banken. Ein Blick zurück auf das Maastricht-Urteil billigt nur einen Schluss: Das deutsche Verfassungsgericht nimmt weder sich selbst, noch den deutschen Wähler ernst.
Verfassungsrecht in Deutschland verkommt, so lässt sich nur schließen, zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, denn im 2. Senat unter Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle hat die euro- und integrationstrunkene Bundesregierung ihren juristischen Handlungsgehilfen gefunden. Voßkuhle, so hätte auch Carl Schmitt schreiben können, „schützt“ das Recht.
Der Willfährigkeit des mächtigsten nationalen Gerichts versichert, nimmt es kaum Wunder, dass die EU-Gerichte in Rekordzeit ebenfalls die Klagen des irischen Abgeordneten Pringle gegen den ESM-Rettungsschirm und der Nachrichtenagentur Bloomberg gegen die Geheimhaltung aller Unterlagen zu den immer wieder mit Goldman Sachs und vielfach auch Draghi-avelli in Verbindung gebrachten griechischen Mogeleien beim Eurobeitritt abwiesen. Im Pringle-Urteil entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Nichtbeistandsklausel in Artikel 125 EUV, dergemäß „ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats haftet und nicht für derartige Verbindlichkeiten eintritt“, keineswegs finanzielle Unterstützung durch die Euro-Mitglieder ausschließt, sofern der unterstützte Mitgliedstaat nur weiterhin nominal für seine Verbindlichkeiten haftbar bleibt, auch wenn er seine Verbindlichkeiten ganz allein durch die nur formal separaten Unterstützungszahlungen anderer Staaten bedienen kann.
Nur ein rechtliches Eintreten der Helfenden in die bestehenden Zahlungsverbindlichkeiten des Hilfesuchenden sei ausgeschlossen, nicht jedoch zwei formal getrennte Transaktionen, mit denen Helfer zum Teil Zahlungen aus einem Fonds finanzieren und zum Teil dafür rechtsverbindlich bürgen, die dann den Krisenstaaten erlauben, ihre Verbindlichkeiten zu bedienen. Spitzfindiger und weniger glaubhaft kann juristische Argumentation nicht sein. Das Pringle-Urteil steht im flagranten Widerspruch zum natürlichen Sinn und Verständnis von Art. 125 EUV und zu jedem raisonablen Verständnis von Sinn und Zweck der Vorschrift.
Ebenso im November 2012 entschied das EU-Gericht in erster Instanz, dass die EZB-Akten über die von der Investmentbank Goldman Sachs zwischen 2000 und 2003 eingefädelten Finanzmarktschwindeleien mit dem Ziel der Vertuschung des wahren Schuldenstands Griechenlands, obgleich, so das Gericht, ein „überragendes öffentliches Interesse“ an der Offenlegung der Unterlagen besteht. Seit Jahren munkelt man in diesem Zusammenhang über die Rolle von EZB-Präsident Draghi bei den Geschäften, wie auch bei ähnlich dubiosen Buchführungsmanövern des italienischen Schatzamtes, für das Draghi in den neunziger Jahren vor seiner Tätigkeit bei Goldman Sachs arbeitete.
Überhaupt lässt sich vielfach eine erstaunliche zeitliche Kontinuität zwischen dem Tätigkeitsfeld Draghis und späteren höchst profitablen Euro- oder Eurozonen-Geschäften führender Investmentbanken feststellen. Dergleichen und mehr, so das EU-Gericht, mag die europäische Öffentlichkeit interessieren, wissen indes soll und darf sie es nicht.
Die Währungsunion und die Schuldenkrise vieler Euromitgliedstaaten haben dazu geführt, dass das Handeln der EU-Institutionen, der Mitgliedstaaten und vor allem der EZB in immer eklatanterem Widerspruch zu den gültigen Verträgen und nationalem Verfassungsrecht steht. Die EU-Verträge sagen eines, doch die Regierungen und die EU wollen es und handeln anders. Das Recht weicht der politischen Willkür, und wird zum politisch willfährigen richterlichen Entscheid wider Gesetz und unmissverständlichem Text und Wortlaut zum Trotz.
Allerdings lässt sich der effektive Zusammenbruch des Rechtsstaates in der Europäischen Union nicht ohne Verweis auf den umfassenden Verfall unserer politischen Kultur und mangelnder rechtlicher und demokratischer Kontrolle über zentrale politische und wirtschaftliche Entscheidungen wirklich ermessen. Die Krise des Rechtsstaats ist auch eine Krise der politischen Kultur und der zunehmenden Fragwürdigkeit unserer politischen Institutionen, die dem Gedanken demokratischer Verantwortlichkeit allenfalls noch formal durch rituelle Wahlen zwischen mehr oder weniger identischen politischen Parteiprogrammen genügen und die langfristig orientiertes Handeln praktisch unmöglich machen.
Nirgends wird dies deutlicher als in der Machtfülle der EZB und der Selbstverständlichkeit mit der sie sich unter ihrem jetzigen stets sardonisch lächelnden Präsidenten Draghi-avelli über Recht und Gerechtigkeit wie über die Schranken ihres eigenen Mandats hinwegsetzt. In Brüssel, Frankfurt und Zypern ist es ein offenes Geheimnis, dass Draghi-avelli und EZB-Direktoriumsmitglied Asmussen die Architekten des fehlgeschlagenen ursprünglichen Plans einer Zwangsabgabe von knapp sieben Prozent auf alle zyprischen Sparguthaben von bis zu 100.000 Euro waren. Doch als der Plan die Zypernrettung zum Fiasko werden zu lassen schien, distanzierte sich Draghi-avelli mit großer Umsicht und begann rasch den Plan als nicht besonders „klug“ zu bezeichnen, der schnell korrigiert worden sei.
Dennoch bleibt es ein beunruhigendes Warnsignal, dass für die EZB auch bindende EU- und nationale Spareinlagengarantien letztlich nur Gutwetterregeln sind. Die EU-Verträge machen der EZB zum Auftrag, den Wert des Geldes zu sichern – indessen enteignet sie Sparer durch künstlich niedrige Leitzinsen, die monetäre Druckerpresse und, wenn notwendig, durch zwangsweise Konfiszierung auch von Spareinlagen liquider Banken. Hier folgt die EZB der „wohlbewährten“ Praxis nicht mehr kreditwürdiger Staaten, bislang allerdings vorwiegend in Afrika oder Lateinamerika.
Noch denkwürdiger ist die Ankündigung Draghi-avellis im Spätsommer 2012, die EZB werde notfalls unbegrenzt Staatsanleihen klammer Eurokrisenstaaten kaufen. Die Märkte jubelten, die Londoner „Financial Times“ salbte Draghi zum „Mann des Jahres“. Die Ankündigung Draghis ist indessen ein offener Bruch gültiger EU-Verträge und Unionsrechts. Artikel 123 VAEU untersagt der EZB und den nationalen Notenbanken im Eurosystem ausdrücklich den „unmittelbaren Erwerb“ von Staatsanleihen der Euro-Mitgliedstaaten.
Die EU-Ratsverordnung 3603/93 vom 13. Dezember 1993 verbietet zudem sämtliche Staatsanleihekäufe an den Sekundärkapitalmärkten mit dem Ziel oder möglichen Ergebnis einer von den Kapitalmarktbedingungen unabhängigen Staatsfinanzierung. Staatsanleihekäufe durch die EZB sind damit rechtlich kategorisch ausgeschlossen, sofern sie dem Zweck der Staatsfinanzierungen dienen oder auch nur dienen könnten; zulässig sind sie gemäß EU-Recht nur zu geldpolitischen Zwecken.
Genau aus diesem Grund nennt Draghi sein Programm auch „Outright Monetary Transactions“ (kurz: OMT); zu deutsch etwa unmittelbare oder „eindeutige“ geldpolitische Transaktionen. Die Wortwahl ist in etwa so unehrlich wie die Erhebung einer sogenannten einmaligen Steuer auf zyprische Bankguthaben, bei der es sich in Wahrheit um eine Konfiszierung handelt. Der tatsächliche Charakter der EZB-Geschäfte wie die euphemistisch Steuer genannte Zwangsabgabe ändert sich dabei genau so wenig wie ein Mann zur Frau wird, nur weil es eine falsch ausgefüllte Geburtsurkunde so sagt.
Dass es sich bei den OMTs nicht um Geld-, sondern um die der EZB-EU-rechtlich unmissverständlich untersagte Fiskalpolitik handelt, ergibt sich schon aus der sogenannten Konditionalität der OMTs, sprich dadurch, dass Draghi-avelli den Anleiheaufkauf explizit an von der EU-Kommission überwachte Sparprogramme bindet. Handelte es sich um Geldpolitik, wie Draghi mit Verweis auf die vermeintlich gestörte Übertragung des EZB-Zinssignals vorgibt, müsste die EZB handeln, gleichgültig ob der betroffene Staat dem Sparprogramm zustimmt oder nicht.
Widerlegt wird Draghis Winkeladvokatur zudem durch die Tatsache, dass die EZB bislang genau immer dann Anleihen kaufte, wenn ein Staat aufgrund rasch steigender Kapitalmarktzinsen in Bedrängnis kam, und zwar stets nur die Anleihen der bedrängten Staaten. Auch in Zukunft will Draghi nur Anleihen der Staaten kaufen, denen der Kapitalmarkt zu hohe Zinsen abverlangt. Genau das aber ist die Definition monetärer Staatsfinanzierung, die laut Vertrag eindeutig verboten ist.
Verbündete und eine schützende Hand indessen findet der Drahtzieher der Euro-Rettung bei nationalen Regierungen, denen er mit der Ankündigung seines in der Höhe und zeitlich unbegrenzten Programms von Staatsanleihekäufen aus der politischen Klemme half, sich Jahr für Jahr aufs Neue Hunderte von Milliarden Euro zur Hilfe an klamme Eurostaaten und eines im Kern längst maroden Bankwesens von ihren Parlamenten bewilligen zu lassen. Schulden, so der EZB-Präsident im vertrauten Kreis in Frankfurt und im Einklang mit seinen zumeist ebenfalls im Investmentbanking und bei Goldman Sachs geschulten Zentralbankkollegen, lassen sich viel besser und weit weniger kontrovers über die Druckerpresse und Inflation finanzieren.
Dem genau dient das sogenannte unbegrenzte Anleihenkaufprogramm der EZB vom vergangenen Sommer, den sogenannten Outright Monetary Transactions Draghis. Das Programm steht nicht nur in offenem Gegensatz zu Artikel 125 AEUV. In enger Zusammenarbeit mit Fed-Chef Ben Bernanke und dem designierten Chef der Bank of England, ehedem Mitarbeiter Draghis bei Goldman Sachs, verfolgt Draghi eine gewaltige Umverteilungspolitik zugunsten der Investmentbanken und internationalen Finanzplutokratie zu Lasten der sparenden, schwindenden Mittelklasse, die die Bankenrettung hauptsächlich finanziert, an ihr jedoch die geringste Schuld hat. Dies gilt staatenübergreifend, wenngleich die ehemaligen Mittelklassegesellschaften Zentral- und Nordeuropas auch die üppigsten Pfründe für die Zehntelwirtschaft des Jesuitenschülers und Finanzkatholiken Draghi abgeben.
Sowohl dem EU-Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht liegen Klagen gegen die EZB wegen der angekündigten Anleihekäufe vor. Bei der skizzierten Rechtslage dürfte in einem Rechtsstaat keines der beiden Gerichte einen Augenblick zögern, das nur dem Namen nach „geldpolitischen“ OMT-Programm als monetäre Staatsfinanzierung für unrechtmäßig zu erklären. Tatsächlich jedoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch nur ein einziges der höheren Gerichte in der EU gültigem Recht zur Geltung verschaffen wird, in etwa so hoch wie die eines wundersame Friedenschlusses im Nahen Osten noch vor Sommerbeginn.
Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle erklärte bereits im Oktober im Handelsblatt offen, aus „Zeitgründen“ werde sich das Gericht noch monatelang nicht zu den EZB-Anleihen im noch ausstehenden Haupturteil zum ESM äußern können. Bei einem Studentenempfang an der Universität Oxford – womöglich einer der Gründe für den Zeitmangel des Gerichts – gab er sich in etwas angetrunken Zustande deutschen Studenten gegenüber entschieden indiskreter: er werde das Urteil solange hinauszögern, bis die EZB Fakten geschaffen habe oder aber, wenn sich das Urteil nach Ablauf von in etwa einem Jahr einfach nicht mehr länger hinauszögern lässt, werde er mit irgendeinem der vielen juristischen Scheinargumente, auf die das Gericht immer zurückgreifen könne, ein Verbot von Draghis Anleihenkäufen als offensichtliche Mandatsverletzung durch die EZB elegant umgehen.
Mittlerweile geht niemand mehr von einer Urteilsverkündung noch vor Sommer aus; auf Anfrage bestätigte Karlsruhe, ein Termin sei noch nicht absehbar. Gegen Kronjuristen, so scheint es, hilft dem Bürger nur Aufklärung, der Weg aus der (nicht immer) selbstverschuldeten Unmündigkeit und, wie Kant es formulierte, der Mut zum Gebrauch der eigenen Vernunft: Sapere aude – habe Mut dich des eigenen Verstandes zu bedienen wider das Geläufige und der politisch korrekten Lehre vom Segen des Euro zum Trotz.
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Dr. Gunnar Beck lehrt EU-Recht an der Universität London und ist Verfasser der Studie „The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU“, die im Januar bei Hart Publishing in Oxford erschienen ist. Ein ausführlicher Vortrag des Autors zum selben Thema ist auf der Webseite des CESifo-Instituts im Rahme der Vortragsreihe Münchener Seminar in englischer Sprache per Video verfügbar.