Was ist „Soziale Gerechtigkeit“?
18.7.2012 – von Roland Baader.
Das Wort Gerechtigkeit wird hauptsächlich in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Zum einen als Haltung oder Tugend eines Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen. Die Rechtswissenschaft spricht hierbei von der iustitia commutativa, der Tausch- oder Vertragsgerechtigkeit. Uns soll hier nur die andere, die zweite Bedeutung interessieren, nämlich die Gerechtigkeit als materiales Prinzip des Rechts im Verhältnis zwischen Einzelmenschen und Kollektiv, zugespitzter: zwischen Individuum und Staat.
Das Prinzip der Gerechtigkeit, von Liberalen auch oft Herrschaft des Rechts genannt, ist unschwer zu definieren: Es bedeutet und verlangt einfache und für alle gleiche allgemeine Regeln des rechten Verhaltens – und das impliziert die Nichtverletzung (und somit auch den Schutz) der Person und ihres Eigentums. Vor dem Recht und dem Gesetz müssen alle Bürger gleich sein, das heißt: niemand darf rechtliche Sondervorteile oder rechtliche Sondernachteile erfahren. Während in der kleinen privaten Gemeinschaft, in der Familie oder im Freundeskreis (also da, wo es nicht um gewaltgestützte Herrschaft geht) gerechtes Verhalten sich durchaus in ungleicher Behandlung zeigen kann – wie Berücksichtigung von Einzelumständen, die nur in der engen Gemeinschaft bekannt sein können und als Rechtfertigung für eine andere Behandlung dienen mögen, müssen in einer großen anonymen Gesellschaft gleiche Regeln für alle gelten.
Das ist vergleichbar den Regeln eines jeden Spiels, bei dem jedermann teilnehmen kann. So kann beispielsweise jeder Mensch irgendwo auf der Welt mit irgendeiner völlig fremden Person (oder mit mehreren ihm unbekannten Personen) Schach spielen, auch wenn die Spieler unterschiedliche Sprachen sprechen und sich deshalb nicht verständigen können. Es spielt auch keine Rolle, ob der Mitspieler jung oder alt, männlich oder weiblich, dumm oder intelligent, stark oder schwach, gesund oder krank ist. Die Regeln sind bekannt und für alle gleich. Würde man einem „Spielleiter“ das Recht einräumen, bei jedem Spiel Ausnahme- und Sonderregeln festzulegen – beispielsweise eine Regel wie „Der Spieler X hat eine schlechtere Schulbildung genossen als Spieler Y. Er (X) darf deshalb drei Züge je Spiel zurücknehmen“, so würde das bedeuten, dass a) kein Spiel mehr ohne den Spielleiter stattfinden könnte, dass b) sich der Spielleiter anmaßen dürfte, allwissend zu sein und alle Lebensumstände der Spieler zu kennen, und – noch schlimmer, dass c) der Spielleiter das Maß der Vor- und Nachteile in Leben und Person der Spieler „bewerten“ und in Sonderregeln umsetzten dürfte – das heißt: dass er sich nicht nur Allwissenheit sondern auch Allmächtigkeit anmaßen dürfte und die Spielregeln nach Belieben verändern und festlegen könnte.
Erst recht muss das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht im Verhältnis der Bürger zum Gewaltmonopolisten Staat gelten. Sobald Einzelumstände Berücksichtigung finden, entscheidet der jeweils Stärkere – hier also der Staat – darüber, welche Umstände wann und wie zu einer anderen Behandlung führen. Und damit sind der subjektiven Meinung sowie irgendwelchen Sonderinteressen und der Willkür alle Tore geöffnet. Gerechtigkeit im Verhältnis der Bürger zum Recht und im Verhältnis zum rechtssetzenden, rechtssichernden und rechtsdurchsetzenden Gewaltmonopolisten Staat ist relativ einfach zu definieren als gleiche Regeln für alle. Natürlich muss dieses Prinzip zugleich an die „goldene Regel“ des gerechten Verhaltens gebunden sein, die da lautet: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. „Gerecht“ kann also niemals eine für alle gleichermaßen gültige Regel sein wie Jeder Mensch darf jeden anderen Menschen töten. Die gleichen Regeln für alle müssen – um als Prinzip der Gerechtigkeit gelten zu können, zugleich explizit oder implizit mit dem no harm – Prinzip verbunden sein, also mit der Generalregel schädige niemanden oder mit der Friedensregel Alles ist erlaubt, was friedlich und freiwillig geschieht.
Was Gerechtigkeit oder gerecht ist, lässt sich also ganz klar definieren. Mit dieser Klarheit ist es vollständig vorbei, sobald dem Wort Gerechtigkeit das Präfix sozial beigestellt wird. Was „soziale Gerechtigkeit“ ist, entzieht sich jeglicher Definierbarkeit. Es ist, wie Professor Kurt Leube es ausgedrückt hat, ein „narkotischer Begriff“. (s.Leube 1999)
Der m.E. einzige Politiker, der diese Tatsache klar ausgesprochen hat, ist Otto Graf Lamsdorff. In der Neuen Zürcher Zeitung schrieb er: “Während die >adjektivlose< Gerechtigkeit als Regelgerechtigkeit, welche die Gleichheit vor dem Gesetz postuliert, klare Grenzen von Macht definiert, definiert >soziale Gerechtigkeit< nichts. Sie liefert der Politik eine >Rechtfertigung<, in prinzipienloser Weise Sonderinteressen zulasten der Allgemeinheit zu bedienen.” (Lambsdorff 1995)
Detmar Doering von der Friedrich-Naumann-Stiftung ergänzte: “Die Werte, die heute allgemein zur moralischen Fundierung des Sozialstaates herangezogen werden, leiden in hohem Maße an Undefinierbarkeit. Der Begriff >soziale Gerechtigkeit< (im Gegensatz zur >adjektivlosen< Gerechtigkeit) ist ein extremes Beispiel dafür. Aufrgund seiner Undefinierbarkeit kann er für fast jedes beliebige staatliche Handeln herangezogen werden. Bereits hier ist das Ziel des liberalen Verfassungsstaates – nämlich die Definition der Grenzen des Staates – entscheidend ausgehöhlt.” (Doering 1995)
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aus: “Das Kapital am Pranger” von Roland Baader. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Resch-Verlages.