Spontane Ordnung: die Marktwirtschaft – Wer organisiert?

27.8.2012 – von Michael v. Prollius.

Michael von Prollius

Wie viele Menschen benötigt man zur Herstellung eines Hemdes? Diese Frage ist komplexer, als sie zunächst erscheinen mag, wie das folgende Beispiel illustriert.

Letzten Samstag habe ich mir ein Hemd gekauft. Das ist nichts Besonderes. Möglicherweise haben 20 Millionen Menschen in Europa das Gleiche getan. Bemerkenswert ist indes, dass ich genauso wie die meisten der 20 Millionen niemanden vorher über mein Vorhaben informiert habe. Tatsächlich ist das einfache Hemd ein Symbol für einen Triumph interationaler Arbeitsteilung.

Die Baumwolle wuchs vielleicht in China, das Saatgut stammte aus den USA, das Plastik im Hemdkragen aus Portugal, die Bestandteile des Farbstoffs stammen aus mindestens einem halben Dutzend anderer Länder; die Kragennaht kommt aus Brasilien und die Maschinen für Weben, Schneiden und Nähen sind Ergebnisse deutscher Ingenieurskunst. Das Hemd selbst wurde in Malaysia hergestellt.

Die Planungen für das Design und die Herstellung des Hemdes reichen weit zurück. Ingenieure aus Köln und Chemiker in Birmingham waren vor vielen Jahren genauso daran beteiligt wie der indische Landwirt, der erst vor zwei Wintern eines Morgens sein Stück Land mit Treckern bearbeiten ließ. All diese Menschen und viele weitere ebenfalls Beteiligte hatten keine Ahnung, dass ich letzten Samstag das Hemd kaufen würde! Ich wusste es selbst nicht einmal, noch unmittelbar bevor ich es in der Hand hielt. Und all diese Mensche haben nicht nur für mich gearbeitet, sondern waren vielfach auch an der Herstellung der Hemden für die anderen 20 Millionen beteiligt, die alle einen unterschiedlichen Geschmack, voneinander abweichende Körpermaße und Einkommen haben und dazu über sechs Kontinente verstreut leben. Und alle haben voneinander unabhängig die Entscheidung getroffen, ihr Hemd zu kaufen. Und morgen sind es wieder andere 20 Millionen oder sogar mehr.

Wäre ein einzelner Mensch auf der Erde dafür zuständig, die Versorgung mit Hemden sicherzustellen, dann wäre das eine generalstabsmäßig zu planende Aufgabe. Man kann sich vorstellen, wie etwa der US-Präsident oder auch ein anderer Staatsführer einen Bericht vorstellt mit der Überschrift „Die Weltbedürfnisse für Hemden“. Ein staatlicher Sonderstab würde eingerichtet werden. Die Vereinten Nationen würden Konferenzen abhalten, wie die internationale Kooperation bei der Herstellung von Hemden zu verbessern wäre. Zugleich würde ein Schlagabtausch mit Argumenten stattfinden, ob die USA oder die VN die Führung übernehmen sollten. Der Papst würde zur friedlichen Einigkeit aufrufen, um ausreichend Hemden zu produzieren. Popstars und NGO’s würden uns regelmäßig daran erinnern, dass Hemden zu den Menschenrechten gehören. Experten würden sich die Köpfe heißreden und keine Einigung darüber erzielen, ob es sinnvoll ist, Kragen in Brasilien herzustellen für Hemden, die in Malaysia produziert werden. Andere Experten würden mit Hinweis auf Umweltbilanzen und Müll einen sparsameren Umgang mit Hemden anmahnen, auch um die Versorgungslage zu verbessern. Fabriken, denen die größten Produktionssteigerungen gelingen, würden mit internationalen Auszeichnungen versehen. Ihre Vorstände würden mit größtem Respekt interviewt. Zugleich würden Aktivisten zu weltweiten Protesten aufrufen, weil Hemd ein sexistischer und radikaler Begriff sei und Gender- und Kultur-neutrale Formulierungen vorschlagen.

Ob ich in dieser Kakofonie überhaupt mein Hemd hätte kaufen können, erscheint mir zweifelhaft. Das riesige Unternehmen, Hemden in Tausenden und Abertausenden Stilen für Millionen und Abermillionen Menschen zu produzieren, findet statt, ohne dass es eine Gesamtkoordination gibt. Jeder Beteiligte hat sich vor allem um sein Interesse und seine Bedürfnisse gekümmert. Der indische Landwirt sorgt sich um den Preis, den er bei seinem Händler für die Baumwolle erzielen kann, die Kosten für den Anbau der Baumwolle und all die Anstrengungen, die für einen erfolgreichen Anbau der Baumwolle erforderlich sind. Die deutschen Maschinenbauer haben sich um Exportaufträge, die Beziehungen zu ihren Zulieferern und um ihre Mitarbeiter gekümmert. Die Hersteller der Chemikalien haben nicht einen Gedanken an die Ästhetik der Hemden verschwendet. Große Unternehmen waren an Herstellung und Verkauf beteiligt, darunter in meinem Fall Peek & Cloppenburg, mit Hunderten Beschäftigten. Und doch waren sie nur für einen kleinen Teil der Gesamtaufgabe zuständig. Und insgesamt war natürlich niemand verantwortlich!

Es grenzt an ein Wunder, dass das ganze System funktioniert. Aber als Teilnehmer einer Marktwirtschaft haben Sie leider das Staunen verlernt. Sie wissen, dass Sie jederzeit, wenn Ihnen der staatliche Ladenschluss nicht einen Strich durch die Rechung macht, Nahrungsmittel, Kleidung, Möbel und tausend andere nützliche und überflüssige Dinge kaufen können. Für unsere Vorfahren in der Steinzeit war das eine unglaubliche Vorstellung und für die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang zumindest in beträchtlichem Ausmaß auch, urteilt Paul Seabright, aus dessen Buch “The Company of Strangers” das Beispiel zum Teil in wörtlicher Übersetzung entnommen ist. Als Vorbild dürfte Seabright der geradezu legendäre Essay von Leonard Read “I, pencil” aus dem Jahr 1958 gedient haben.

Das Marktsystem ist eine geordnete, aber von keinem Menschen bewusst geplante und herbeigeführte Struktur. Sie resultiert aus der Koordination der Interessenverfolgung und Problemlösung einer Vielzahl von Menschen – das geschieht von ganz allein. Im Marktsystem werden Informationen vermittelt und wird Wissen verwertet, das niemand in seiner Gesamtheit kennen kann. Die ständigen Anpassungen im Marktprozess machen aus dem ganzen einen evolutionären Prozess, in dem sich Innovation, Selektion, Imitation und zeitweise Stabilität permanent bedingen. Das Marktsystem ist eine “Zwillingsidee von spontaner Ordnung und Evolution” (Hayek). Die Marktteilnehmer verfolgen ihre eignen Ziele und Pläne frei, aber im Rahmen allgemeiner Regeln. Sie sind keine ökonomischen Einzelgänger. Die Arbeitsteilung und der damit verbundene Wettbewerb entspricht dem biblischen Prinzip, dass Menschen aufeinander angewiesen sind.

Der Mensch unterscheidet sich durch die Arbeitsteilung unter Fremden von allen anderen Spezies. Der Übergang von der Konfrontation zur Kooperation ist mit der neolithischen Revolution verbunden, dem Übergang vom Jäger und Sammler zum sesshaften Ackerbauern. Der menschliche Tunnelblick, die Balance von Reziprozität und Opportunismus machen die Zusammenarbeit mit Fremden vorteilhaft. Das bedeutet, Gleiches wird mit Gleichem vergolten und Vertrauen wird erwidert.

Am Anfang stehen die handelnden Menschen. Sie handeln teils bewusst und zielstrebig, teils impulsiv und irrational. Stets sind ihre Motive subjektiv. Deshalb können Sie auch nicht objektiv untersucht werden. Dies ist nur für die Wahl der Mittel möglich. Wirtschaft ist nach Ludwig von Mises folglich “ein Inbegriff von Mitteln für Ziele”. Menschen streben nach Gütern. Sie sind hierfür auf Kooperation mit anderen Menschen angewiesen. Stets handeln sie im Zustand allgemeiner Unwissenheit. In einer freien Marktwirtschaft, und nur hier, kann eine Wertreihung der vielfältigen ökonomischen Alternativen in Zeit und Raum erfolgen. Eine weitreichende Folge besteht darin, dass nur in einer freien Marktwirtschaft eine rationale Wirtschaftsrechnung möglich ist. Preise sind die Hilfsmittel, um die ökonomischen Alternativen zu koordinieren. Sie drücken aus, welche von Ihnen realisiert werden sollen und welche nicht. Preise sind Ausdruck subjektiver Wertschätzungen. Weder Regierungen noch Bürokraten oder Experten sind in der Lage, objektive Kriterien an ihre Stelle zu setzen. Alle diesbezüglichen Versuche müssen zu Verschwendung und Fehlleitung von Ressourcen führen und in langer Frist zu wirtschaftlichem und gesellschaftlichen Niedergang, zu Verfall und Chaos.

aus “Die Pervertierung der Marktwirtschaft” von Michael v. Prollius – erschienen im Olzog-Verlag.

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Dr. phil. Michael von Prollius ist Publizist und Gründer der Internetplattform Forum Ordnungspolitik, die für eine Renaissance ordnungspolitischen Denkens und eine freie Gesellschaft wirbt. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Geldsystem. Seine finanzwissenschaftlichen Beiträge und Rezensionen erscheinen zumeist in wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Fuldaer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung sowie in der Internetzeitung Die Freie Welt.

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