„Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit“

8.5.2013 – Im folgenden Beitrag mit dem Titel „Die Grenzen der Regierungstätigkeit“ zeigt Ludwig von Mises (1881 – 1973) die Sinn- und Zweckwidrigkeit staatlicher Eingriffe in die Lebensführung des Einzelnen auf. Er erklärt, warum das schädlich ist und wohin immer mehr Regeln, Gesetze und Verbote führen: zu einem Volk von Knechten und Untertanen. Der Text ist Mises‘ Buch Liberalismus (1927) entnommen (S. 46 – 48).

Andreas Marquart

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Die Grenzen der Regierungstätigkeit

Ludwig von Mises

Nach liberaler Auffassung besteht die Aufgabe des Staatsapparates einzig und allein darin, die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Sondereigentums gegen gewaltsame Angriffe zu gewährleisten. Alles, was darüber hinausgeht, ist von Übel. Eine Regierung, die, statt ihre Aufgabe zu erfüllen, darauf ausgehen wollte, selbst das Leben und die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum anzutasten, wäre natürlich ganz schlecht.

Doch die Macht ist, wie Jacob Burckhardt sagt, böse an sich, gleichviel wer sie ausübe. Sie verführt zum Missbrauch. Nicht nur absolute Fürsten und Aristokratien, auch die in der Demokratie herrschenden Massen neigen nur allzu leicht zu Ausschreitungen.

In den Vereinigten Staaten von Amerika sind Handel und Erzeugung von alkoholischen Getränken verboten. Die übrigen Staaten gehen nicht so weit, doch bestehen nahezu überall Beschränkungen für den Verkauf von Opium, Kokain und ähnlichen Rauschgiften. Man erachtet es allgemein als eine Aufgabe der Gesetzgebung und Verwaltung, den einzelnen vor sich selbst zu schützen. Selbst diejenigen, die sonst im allgemeinen gegen eine Erweiterung des Tätigkeitsgebietes der Obrigkeit Bedenken vorbringen, halten es für durchaus richtig, dass die Freiheit des Individuums in dieser Hinsicht beschränkt werde, und meinen, dass nur verblendeter Doktrinarismus sich gegen solche Verbote aussprechen könnte. Die Zustimmung, die diese Eingriffe der Obrigkeit in das Leben des einzelnen finden, ist so allgemein, dass die grundsätzlichen Gegner des Liberalismus gerne in der Weise argumentieren, dass sie von der angeblich unbestrittenen Anerkennung der Notwendigkeit solcher Verbote ausgehen und folgern, dass völlige Freiheit von Übel und dass irgendwie eine Beschränkung des Individuums durch die bevormundende Obrigkeit vonnöten sei. Die Frage könne dann nicht die sein, ob die Obrigkeit das Individuum beschränken, sondern nur die, wieweit sie in dieser Beschränkung gehen soll.

Darüber nun, dass alle diese Rauschgifte schädlich sind, ist kein Wort zu verlieren. Die Streitfrage, ob selbst geringe Mengen von Alkohol schädlich sind oder ob erst der Missbrauch alkoholischer Getränke Schädigungen herbeiführt, ist hier nicht zu besprechen. Es steht fest, dass Alkoholismus, Kokainismus und Morphinismus fürchterliche Feinde des Lebens, der Gesundheit und der Arbeits- und Genussfähigkeit des Menschen sind, und der Utilitarier wird sie darum als Laster bezeichnen. Aber damit ist noch lange nicht bewiesen, dass die Obrigkeit zur Unterdrückung dieser Laster durch Handelsverbote einschreiten muss. Es ist weder klargestellt, ob das Eingreifen der Obrigkeit geeignet ist, diese Laster wirklich zu unterdrücken, noch auch, ob nicht, selbst wenn dieser Erfolg erzielt werden sollte, andere Gefahren heraufbeschworen werden, die nicht weniger arg sind als Alkoholismus und Morphinismus.

Wer von der Verderblichkeit des Genusses oder übermäßigen Genusses dieser Gifte überzeugt ist, den hindert auch der Umstand, dass die Erzeugung und der Handel durch den Staat nicht behindert werden, nicht daran, enthaltsam oder mäßig zu leben. Die Frage ist nur die, ob die überzeugten Gegner des Genusses der schädlichen Gifte denen, die nicht ihrer Ansicht sind, oder nicht genug Willenskraft haben, um enthaltsam oder mäßig zu leben, den Genuss durch obrigkeitliche Maßnahmen unmöglich machen sollen oder nicht. Diese Frage darf nicht ausschließlich im Hinblick auf die von allen vernünftigen Leuten erkannten Übel Alkoholismus, Morphinismus, Kokainismus u. dgl. behandelt werden. Denn wenn grundsätzlich der Mehrheit der Staatsangehörigen das Recht zugestanden wird, einer Minderheit die Art und Weise, wie sie leben soll, vorzuschreiben, dann ist es nicht möglich, bei dem Genüsse von Alkohol, Morphium, Opium, Kokain und ähnlichen Giften Halt zu machen. Warum soll das, was für diese Gifte gut, nicht auch von Nikotin, Coffein und ähnlichen Giften gelten? Warum soll nicht überhaupt der Staat vorschreiben, welche Speisen genossen werden dürfen, und welche, weil schädlich, gemieden werden müssen? Auch beim Sport pflegen viele mehr zu tun als ihre Kraft ihnen erlaubt. Warum soll nicht auch hier der Staat eingreifen? Die wenigsten Menschen wissen in ihrem Liebesleben Maß zu halten, und besonders schwer scheint es Alternden zu fallen, einzusehen, dass sie einmal hier Schluss machen oder zumindest mäßig werden sollten. Soll nicht auch hier der Staat eingreifen? Noch schädlicher als alle diese Genüsse aber, werden viele sagen, ist die Lektüre von schlechten Schriften. Soll man einer auf die niedrigsten Instinkte des Menschen spekulierenden Presse gestatten, die Seele zu verderben? Soll man die Schaustellung unzüchtiger Bilder, die Aufführung schmutziger Theaterstücke, kurz alle die Verlockungen zur Unsittlichkeit nicht hindern? Und ist nicht die Verbreitung falscher Lehren über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen und Völker ebenso schädlich? Soll man gestatten, dass Menschen zum Bürgerkrieg und zum Krieg gegen das Ausland hetzen? Und soll man es zulassen, dass die Achtung vor Gott und der Kirche durch Schmähschriften und Schmähreden untergraben wird? Wir sehen, sobald wir den Grundsatz der Nichteinmischung des Staatsapparates in alle Fragen der Lebenshaltung des einzelnen aufgeben, gelangen wir dazu, das Leben bis ins Kleinste zu regeln und zu beschränken. Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit. Man braucht sich gar nicht auszumalen, wie solche Befugnisse von böswilligen Machthabern missbraucht werden könnten. Schon die vom besten Willen erfüllte Handhabung derartiger Befugnisse müsste die Welt in einen Friedhof des Geistes verwandeln. Aller Fortschritt der Menschheit vollzog sich stets in der Weise, dass eine kleine Minderheit von den Ideen und Gebräuchen der Mehrheit abzuweichen begann, bis schließlich ihr Beispiel die anderen zur Übernahme der Neuerung bewog. Wenn man der Mehrheit das Recht gibt, der Minderheit vorzuschreiben, was sie denken, lesen und tun soll, dann unterbindet man ein für alle Male allen Fortschritt.

Man wende ja nicht ein, dass doch die Bekämpfung des Morphinismus und die Bekämpfung „schlechter” Schriften ganz verschiedene Dinge seien. Diese Verschiedenheit besteht nur darin, dass das eine Verbot auch die Zustimmung von Leuten findet, die dem anderen nicht zustimmen wollen. In den Vereinigten Staaten haben die Methodisten und Fundamentalisten gleich nach der Durchführung des Alkoholverbots den Kampf zur Unterdrückung der Entwicklungsgeschichte aufgenommen, und schon ist es gelungen, in einer Anzahl von Staaten der Union den Darwinismus aus der Schule zu verdrängen. Im Russland der Sowjets ist jede freie Meinungsäußerung unterdrückt. Ob ein Buch erlaubt ist oder nicht, hängt von dem freien Ermessen einer Anzahl von ungebildeten und kulturlosen Fanatikern ab, die mit der Leitung der zuständigen Abteilung des Regierungsapparates betraut wurden.

Die Neigung unserer Zeitgenossen, obrigkeitliche Verbote zu fordern, sobald ihnen etwas nicht gefällt, und die Bereitwilligkeit, sich solchen Verboten selbst dann zu unterwerfen, wenn sie mit ihrem Inhalt durchaus nicht einverstanden sind, zeigt, dass der Knechtsinn ihnen noch tief in den Knochen steckt. Es wird langer Jahre der Selbsterziehung bedürfen, bis aus dem Untertan der Bürger geworden sein wird. Ein freier Mensch muss es ertragen können, dass seine Mitmenschen anders handeln und anders leben, als er es für richtig hält, und muss es sich abgewöhnen, sobald ihm etwas nicht gefällt, nach der Polizei zu rufen.

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