Die Marktwirtschaft im Wechsel der Konjunktur

15. Juli 2019 – von Ludwig von Mises

Ludwig von Mises (1881-1973)

[Entnommen aus „Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940)]

Im Lichte der Zirkulationskredittheorie ist der Konjunkturwechsel das Ergebnis der immer wieder neu einsetzenden Bestrebungen, durch Kreditausweitung die Bedingungen, zu denen Gelddarlehen erhältlich sind, für die Kreditsuchenden günstiger zu gestalten. Der zusätzliche Zirkulationskredit bewirkt Kapitalfehlleitung. Will man die Kreditausweitung endlos fortsetzen, dann bricht das Umlaufsmittelsystem, das ihr dient, zusammen; das zwingt die Unternehmer und die Eigentümer der Produktionsmittel, ihr Handeln dem Stande der Versorgung mit Produktionsmitteln anzupassen; diese Anpassung muss schon früher einsetzen, sobald die weitere Vermehrung der Umlaufsmittel eingestellt wird. Einmal muss schließlich auf dem Markte der Prozess ausgelöst werden, durch den die Produktionsmittel wieder den Verwendungen zugeführt werden, in denen sie die dringlichsten Bedürfnisse der Verbraucher am zweckmäßigsten zu befriedigen vermögen.

Man verkennt das Wesen der Konjunkturveränderungen, wenn man, wie es nahezu allgemein üblich ist, im aufsteigenden Ast eine normale oder gar wohlfahrtsfördernde Erscheinung und im Abstieg die Störung befriedigender Entwicklung sehen will. Schon die gangbaren Ausdrücke, z. B. Aufschwung und Niedergang, gute und schlechte Konjunktur, sind irreführend. Das, was man als Anstieg der Konjunktur bezeichnet, ist ein Zustand, in dem Produktionsmittel Verwendungen, in denen sie dringlichere Bedürfnisse der Verbraucher befriedigen könnten, entzogen werden, um der Durchführung von Plänen, für die der verfügbare Produktionsmittelbestand nicht hinreicht, zugeführt zu werden. Wenn man den Ausdruck «Störung» gebrauchen will, dann hätte man im Aufschwung die Störung des Marktgetriebes zu erblicken und im Niedergang den Prozess der Anpassung an die gegebenen Bedingungen und der Wiederherstellung des «normalen» Zustandes, in dem das Marktgetriebe die Produktion so lenkt, dass die Produktionsmittel der Befriedigung der dringlichsten Bedürfnisse der Verbraucher in der zweckmäßigsten Weise dienstbar gemacht werden.

Die Wirtschaftsgeschichte der Kulturvölker ist durch fortschreitende Kapitalbildung gekennzeichnet. Weil regelmäßig mehr erzeugt als verzehrt wird, wird es möglich, die Produktion ergiebiger zu gestalten, die Bedürfnisse immer reichlicher zu befriedigen und dabei doch auch durch weitere Bildung von Rücklagen für künftige Erhöhung des Wohlstands zu sorgen. So leben auf der Erdoberfläche heute weit mehr Menschen als früher, und jeder einzelne von ihnen lebt weit besser als die Menschen vergangener Zeiten. Wenn man diese Veränderungen als wirtschaftlichen Fortschritt oder Aufstieg bezeichnet, stellt man sich auf den Standpunkt der Verbraucher, die bessere Befriedigung weniger reichlicher Befriedigung vorziehen; man kann die Frage nach der Berechtigung der Ausdrucksweise ruhig unbeantwortet lassen. Doch der Konjunktur-Anstieg ist von wirtschaftlichem Fortschritt wohl zu unterscheiden. Er ist, wenn man ihn vom Standpunkt der Verbraucher und ihrer Bedürfnisbefriedigung betrachtet, nicht Fortschreiten zu besserer Versorgung, sondern zu schlechterer.

Man hat verzweifelte Versuche unternommen, um am Konjunkturaufstieg doch eine gute Seite zu finden. Man hat auf das erzwungene Sparen hingewiesen. Das Argument hält der Kritik nicht stand. Es konnte schon gezeigt werden, dass die Kreditausweitung nie erzwungenes Sparen in einem Ausmaße herbeiführt, das die von ihr durch Kapitalfehlleitung und Überverbrauch bewirkte Kapitalaufzehrung aufwiegen oder gar überwiegen könnte. Wenn man schon in das Getriebe der Marktvorgänge eingreifen wollte, um durch Minderverbrauch der Wenigerreichen Einkommen und Vermögen der Reicheren zu mehren, weil man erwartet, dass dann im Gesamtfelde der Wirtschaft mehr Kapital gebildet wird, so würde man dieses Ziel besser erreichen, wenn man die Wenigerbemittelten stärker und die Reicheren weniger stark besteuert. Dem so erzwungenen Sparen würde keine Kapitalaufzehrung gegenüberstehen; seine «wohltätigen» Wirkungen könnten die Menge der Kapitalgüter mehren und nicht nur, wie im Fall der Kreditausweitung, das Ausmaß der Kapitalaufzehrung herabsetzen.

Man hat ferner darauf hingewiesen, dass manche der Anlagen, die ihre Entstehung der Kreditausweitung, verdanken, sich in späterer Zeit als rentabel erweisen. Man habe zwar diese Anlagen, durch die von der Kreditausweitung bewirkte Verfälschung der Geld- und Rentabilitätsrechnung irregeführt, zu früh errichtet, d.h. in einem Zeitpunkt, da der Stand der Kapitalversorgung und die Richtung des Bedarfs ihre Errichtung noch nicht gerechtfertigt hätten. Der Schaden wäre aber nicht groß, da man sie doch später ohnehin gebaut hätte. Es ist zuzugeben, dass das unter besonderen Umständen mitunter eintreten kann. Dass es immer eintreten müsste, wird niemand behaupten wollen. Die Folgen der Kapitalfehlleitung werden aber jedenfalls ohne Rücksicht darauf fühlbar, ob manche der Fehlanlagen sich später als brauchbar erweisen werden oder nicht. Wenn eine Eisenbahnlinie um 1845 gebaut wurde, die man damals nicht gebaut hätte, wenn die Kreditausweitung nicht den Anstoß zum Bau gegeben hätte, war es für die Marktlage in den folgenden Jahren ohne Bedeutung, ob man etwa 1870 oder 1880 die Mittel für den Bahnbau verfügbar haben wird. Der Gewinn, den man dann später davon hatte, dass die Bahnstrecke nicht erst durch Aufwendung von Kapital neu zu bauen war, konnte um 1847 keine Entschädigung für die Nachteile bieten, die der vorzeitige Bau bewirkt hatte.

Als Abstieg der Konjunktur bezeichnet man die Wiederanpassung der Produktion an die durch den Stand der verfügbaren Produktionsmittel und die Wertungen der Verbraucher gegebene Marktlage. Diese Ausdrucksweise und die lauten Klagen, die diesen Prozess zu begleiten pflegen, geben ein falsches Bild. Der Abstieg der Konjunktur ist fortschreitende Annäherung der Produktion an einen Zustand, in dem sie den Bedürfnissen der Verbraucher so gut, als es die Verhältnisse gestatten, und jedenfalls besser entspricht als auf dem Scheitelpunkt der Konjunktur, an dem der Abstieg beginnt. Der Aufstieg war Kapitalfehlleitung und daher Kapitalverminderung und wirtschaftlicher Rückschritt, der Abstieg ist wirtschaftlicher Fortschritt in dem Sinne, dass er die vorhandenen Produktionsmittel den Verwendungen zuführt, in denen sie dem Verbrauch die besten Dienste zu leisten vermögen. Wer über die Vorgänge auf dem Markte und die Produktionsverschiebungen, die der Abstiegt bringt, klagt, klagt darüber, dass ihm Illusionen genommen werden und dass er nun die Dinge so sehen muss, wie sie sind. Der Abstieg vernichtet nicht Werte, er wertet nur illusionsfrei und nüchtern. Was man als die Übel des Konjunkturniedergangs ansieht, ist das Gewahrwerden der Folgen des durch die Kreditausweitung vorgetäuschten Aufstiegs.

Die Anpassung der Wirtschaft an die gegebenen Verhältnisse vollzieht sich nicht mit einem Schlage. Die Wirte gelangen nicht mit einem Male zur Erkenntnis der Sachlage, sie halten noch durch einige Zeit an manchen der Irrtümer fest, die die Kreditausweitung hat entstehen lassen. Man trennt sich schwer von Illusionen. Je größer die psychischen Widerstände sind, die der zutreffenden Erfassung der Marktlage entgegenwirken, desto langsamer geht der Anpassungsprozess vonstatten. Über die Dauer, die er benötigt, lässt sich keine nationalökonomische Aussage machen.

Ein Stück des Anpassungsprozess ist auch die Stärkung der Kassenhaltung. Solange man der Meinung war, dass die Preise immer weiter steigen werden, schien es klug zu sein, die Kassenstände niedrig zu halten und sich so reichlich als möglich mit Ware zu versorgen. Dass diese Auffassung vorherrschte, hat die Aufwärtsbewegung der Preise beträchtlich beschleunigt und verstärkt. Nun beginnen die Preise zu fallen, und allgemein wird angenommen, dass sie noch weiter fallen werden. Da erscheint es nun vorteilhaft, vom Kaufen abzustehen und die Kassenreserven zu erhöhen.

Man hat daher immer im Verlaufe des Konjunkturabstiegs neue Kreditausweitung als Heilmittel empfohlen. Die Krise, meinte man, sei eine Deflationserscheinung; man müsse sie bekämpfen, indem man die Deflation durch entsprechend große Inflation kompensiert. Man mag die Folgen der Stärkung der Kassenhaltung als Deflation bezeichnen: doch man muss eben erkennen, das ein gewisses Ausmaß an Erweiterung der Kassenhaltung mit dem Anpassungsprozess notwendig verbunden ist. Es ist falsch, die Krise selbst als Deflationserscheinung anzusehen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der Umschlag der Konjunktur durch Einstellung der weiteren Ausgaben zusätzlicher Umlaufsmittel bewirkt wurde. Wahrscheinlich hätte der Aufschwung noch für einige Zeit verlängert werden können, wenn die Banken ihre Kreditausweitungspolitik fortgesetzt hätten. Doch endlos hätte man den Aufschwung der Konjunktur durch Festhalten an der Kreditausweitung nicht verlängern können. Früher oder später muss es zum Zusammenbruch des durch die Kreditausweitung ausgelösten Aufschwungs kommen, und der Anpassungsprozess, den man Niedergang der Konjunktur nennt, wird umso schmerzlicher sein und umso mehr Zeit beanspruchen, je länger die Kreditausweitung fortgesetzt worden war und je größer der Umfang der durch sie bewirkten Kapitalfehlleitung gewesen ist.

Man pflegt bei der Befürwortung der Redeflationspolitik folgendermaßen zu argumentieren: Hier sind Werke und Anlagen, deren Erzeugungsfähigkeit nicht oder nur zum Teil ausgenützt wird, Warenvorräte, die keine Käufer, und Arbeiter, die keine Arbeit finden können; dort wieder sind Verbraucher, die gewiss bereit wären, mehr zu verzehren. Das, woran es fehlt, sei allein der Kredit. Zusätzliche Kreditmittel würden den Unternehmern die Möglichkeit bieten, zu produzieren. Die Arbeitslosen würden Beschäftigung finden und könnten als Käufer der Produkte auftreten. Der Gedankengang ist außerordentlich bestechend, er ist aber dennoch falsch.

Wenn Waren keine Käufer und Arbeiter keine Arbeit finden, dann kann das nur einen Grund haben: die geforderten Preise und Löhne sind zu hoch. Wer seine Ware oder Arbeit verkaufen will, muss seine Ansprüche so lange ermäßigen, bis er einen Abnehmer gefunden hat. Das ist das Gesetz des Marktes; das ist das Mittel, durch das der Markt die Produktion in die Bahnen lenkt, auf denen sie den Bedürfnissen der Verbraucher am besten zu dienen vermag. Die Kapitalfehlleitung des Aufschwungs hat bewirkt, dass Anlagen errichtet wurden, deren Errichtung Vernachlässigung dringlicheren Bedarfs zur Folge hatte. Der Überinvestition in einer Anzahl von Produktionszweigen steht Unterinvestition in anderen Produktionszweigen und Betrieben gegenüber. Um diese Disproportionalität zu beheben, muss Kapital neu gebildet und den Verwendungen zugeführt werden, wo es die dringlichsten Bedürfnisse zu befriedigen vermag. Das braucht Zeit, und während dieser Zeit können die komplementären Produktionsanlagen nicht voll ausgenützt werden, auch wenn die Erwartung, dass sie später einmal wieder vollausgenützt werden, berechtigt sein mag. Man pflegt immer darauf hinzuweisen, dass es auch unausgenützte Anlagen zur Erzeugung von Produktionsmitteln geringen spezifischen Charakters gibt. Deren Nichtausnützung zeige, meint man, dass die Stagnation nicht auf Disproportionalität in der Besetzung der verschiedenen Produktionszweige zurückzuführen sei; ihre Produkte könnten doch für alle denkbaren Zwecke verwendet werden. Auch das ist falsch. Wenn die Eisenwerke, Kupferwerke, Forstbetriebe nicht voll ausgenützt werden, so heißt das: der Markt kann zu den Preisen, die zumindest noch die variablen Produktionskosten decken, nicht ihre ganze Erzeugung aufnehmen; da die variablen Produktionskosten immer nur Löhne und Produktpreise sein können, von den Preisen dieser Produkte aber wieder das gleiche gilt, bedeutet das in letzter Linie doch wieder nur, dass die Löhne zu hoch sind, um allen Arbeitern Beschäftigung zu geben und alle Werke so weit auszunützen, als es die Notwendigkeit, die Arbeiter nicht dringenderer Verwendung zu entziehen, zulässt.

Aus dem Zusammenbruch des Konjunkturaufstiegs führt nur ein Weg zurück in die Wirtschaft, die durch fortschreitende Kapitalbildung steigende Wohlfahrt schafft: man muss durch Einsatz neu zu bildenden Kapitals das Verhältnis in der Kapitalausstattung der einzelnen Produktionszweige herstellen, das der auf dem Markte aufscheinenden Nachfrage der Verbraucher entspricht. Man muss durch Sparen die Mittel beschaffen, um die Lücken in der Kapitalausstattung der im Aufstieg vernachlässigten Produktionszweige auszufüllen. Die Löhne müssen sinken, die Massen müssen ihren Verbrauch einschränken, bis das durch Fehlleitung verschwendete Kapital wieder ersetzt wurde.

Wenn man in den Anpassungsprozess durch neue Kreditausweitung eingreift, verzögert man ihn, wenn man nicht gar einen neuen Aufschwung mit allen seinen unausbleiblichen Folgen auslöst.

Der Anpassungsprozess wird durch die seelischen Wirkungen der schweren Enttäuschung, die die Wirte erfahren haben, wesentlich verzögert. Auf der einen Seite will man die Illusionen, denen man sich im Aufstieg der Konjunktur hingegeben hat, nicht ganz aufgeben. Die Unternehmer versuchen Geschäfte fortzusetzen, die sich als unrentabel erweisen und daher fortlaufend Verluste bringen; sie verschließen sich einer Erkenntnis, die ihnen zu schmerzlich ist. Die Arbeiter wollen ihre Lohnforderungen nicht so weit herabsetzen, als es die Lage des Marktes verlangt; sie suchen der Notwendigkeit, ihre Lebenshaltung herabzusetzen und Berufs- und Ortswechsel vorzunehmen, so lange auszuweichen, als es nur irgendwie geht. Auch dort, wo die Obrigkeit nicht durch Eingriffe den Anpassungsprozess aufzuhalten trachtet, wird er durch institutionelle Faktoren vielfach gehemmt. Die Panik, die die Krise einzuleiten pflegt, bringt eine seelische Erschütterung, deren Folgen nur durch Zeitablauf überwunden werden können. Die Entmutigung ist umso allgemeiner und stärker, je größer die Zuversicht gewesen ist, die der Aufschwung ausgelöst hatte. Sie ist unter Umständen in der ersten auf den Umschwung folgenden Zeit so schwer, dass selbst eine neue Kreditausweitung sie nicht beheben könnte; die Unternehmer und Kapitalisten haben so sehr Vertrauen und Selbstvertrauen eingebüsst, dass sie nichts Neues zu unternehmen wagen, selbst wenn die Marktlage, dank neuer Bereitschaft der Banken, den Kredit auszuweiten, günstige Aussichten bietet. Doch wenn die Unternehmer von den angebotenen Krediterleichterungen Gebrauch machen, dann kann es wieder zu nichts anderem kommen als zu einem Konjunkturanstieg, der unabwendbar wieder in den Abstieg münden muss.

Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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